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Ausgabe 02 | 2023: Armut? Abschaffen!
Schwerpunkt
Mohammed kritisiert das deutsche Schulsystem, in Syrien seien die Lehrer nicht gleichzeitig jene, die auch die Leistung beurteilten.

Ein Babo für jeden

Die Kinder und Jugendarmut in Deutschland ist hoch (21,3, bzw. 25,8 Prozent) und wer aus armen Familien kommt, hat schlechtere Startbedingungen bei Bildung, Ausbildung und Studium. Das „Feststellungs-, Trainings- und Erprobungscenter (FTEC)“ der Bielefelder Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung (GAB) soll dem entgegenwirken und jungen Erwachsenen helfen, nicht aufzugeben.

Jobcoach Wolfgang Kühme steht vor einem Flipchart – als Überschrift steht dort: „Auf in den Beruf und in die Arbeit.“ In dem großen Raum sitzen verteilt fünf junge Menschen an Computern und hören dem Sozialarbeiter zu. „Lebensplanung“, sagt er, darum drehe sich alles. Darum steht das Wort auch in der Mitte des Flipcharts, dick eingekreist.

Der Sozialarbeiter macht das jetzt seit elf Jahren in zwölf Durchgängen. FTEC ist ein Angebot für arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit bedrohte junge Menschen unter 25 Jahren, die eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle suchen. Bei der GAB berät und coacht er die jungen Erwachsenen. Das Ziel: Integration in den Arbeitsmarkt. 

Der Jobcoachzeigt erneut auf das Wort „Lebensplanung“, wie wir überhaupt wüssten, was wir wollten? „Das sind diese blauen Stunden, wovon man träumt, aber kurz vorm Einschlafen. Wenn man darüber nachdenkt, was man wirklich machen will“, so Kühme. Und wenn man eben wisse, was man im Leben will, müsse man schauen, wie man da hinkommt, mit einem Plan. „Wenn ich weiß, dass ich so und so viel zum Leben brauche, dann muss ich überlegen, was ich dafür verdienen muss“, fährt Kühme fort. Wie viel Platz aber bleibt zum Träumen, wenn Probleme den ganzen Raum einnehmen?

Mohammad will Geld nachhause schicken

Mohammad hört dem Jobcoach aufmerksam zu – mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt. 2016, nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, ist er nach Deutschland gekommen. Der Syrer hat das Rechenbeispiel gemacht, hat Interesse daran, Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung oder KFZ-Mechatroniker zu werden und weiß, er braucht 18 Euro die Stunde. So viel benötigt Mohammad für sich und seine Familie in Syrien. Es gibt Bedenken: „Ich kann es nicht durchstehen, wenn ich die Familie sehe, die Geld braucht.“ Mohammad meint die Familie in Syrien, denen er jetzt sogar seine Klamotten geschickt hat, nachdem sie alles im Erdbeben verloren haben. 

Kühmes „Jugendliche“ kommen oftmals schon aus prekären Verhältnissen, sonst wären sie vielleicht nicht hier: Kinder Geflüchteter oder aus dem Sozialleistungsbezug. Auch an diesem Tag sitzen drei Kinder aus geflüchteten Familien sowie zwei aus solchen, die Bürgergeld beziehen bei ihm. Tatsächlich sind Menschen mit „niedrigem Bildungsabschluss (32,7 Prozent) stärker von Armut betroffen“, wie es im Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands heißt*. Genauso wie Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,9 Prozent) oder mit Migrationshintergrund (28,6 Prozent).

Hinzu kommt: Kinder und junge Erwachsene aus armutsgefährdeten Familien stecken in der Armutsspirale. Ihr Schulstart verläuft seltener regelhaft, sie wiederholen häufiger eine Klasse, sie werden bei gleichen Leistungen schlechter benotet und erhalten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium, finden schwerer einen Weg in das Ausbildungssystem* und brechen jene schneller ab, heißt es in einer Veröffentlichung zu Kinder- und Jugendarmut der Bertelsmann-Stiftung*.

Wolfgang Kühme selbst hat zunächst eine Ausbildung gemacht, bevor er wusste, was er eigentlich wirklich im Leben wollte, danach studierte er.

Überzeugungsarbeit gehört dazu

Fehlende Strukturen, zu wenig Ruhe zu Hause, weil sich die jungen Menschen die Zimmer mit den kleinen Geschwistern teilen müssen, Fehlstunden aus verschiedensten Gründen, fehlende Konfliktbewältigung bei der Arbeit – all das kann laut Kühme Abbruch bedeuten. Und dann landeten die jungen Menschen wieder in alten Handlungsmustern, die es zu durchbrechen gilt.

Hier fängt für den Sozialarbeiter die Überzeugungsarbeit an: „18 bis 22 Euro kann keiner von euch ohne Ausbildung erreichen“, erklärt er Mohammad. „Mit einer Ausbildung kriegt man Lebensplanung ertragreich hin, Ausbildung bekämpft Armut“, davon ist er überzeugt.  

Jetzt malt der Sozialarbeiter kleine Rechtecke neben dem Wort Lebensplanung, das sind die Steine, die ihnen in den Weg gelegt werden. „Damit müsst ihr rechnen.“ Und von diesen Steinen können die jungen Menschen viel erzählen: Mohammad berichtet von seinen Diskriminierungserfahrungen, eigentlich wollte er die Schule beenden, in Syrien hatte er sehr gute Noten. In Deutschland landete auf einer katholischen Schule und fühlte sich diskriminiert. „Sieh mich an, ich bin dunkel und deswegen habe ich weniger Chancen“, davon ist er überzeugt. Reshin, die 24-jährige Frau in der hintersten Ecke, springt ihm bei: „Ich habe in der Schule so viel getan und gelernt und war immer da“, eine andere, eine Deutsche, habe hingegen immer gefehlt und dennoch bessere Noten bekommen. „Das ist eben so, kann man nicht ändern“, sagt sie.

Von der Theorie und der Praxis

Theoretisch, meint Kühme, stünden jedem jeder Bildungsweg offen. Aber praktisch können sich die Schulen im zweiten Bildungsweg die Schüler aussuchen sowie die Ausbildungsstätte den Auszubildenen. Seine Jugendlichen kämen an die Reihe, wenn die anderen den Job doch abgesagt haben. Theoretisch gibt es auch für die jungen Menschen in Ausbildung und Studium finanzielle Unterstützung wie Beihilfe und Bafög oder Wohngeld. In der Praxis stellt sich laut Kühme die Frage, ob das bei den Berechtigten bekannt oder ausreichend ist und ob sie die Prozesse durchstehen, auch bei sowas hilft Kühme den jungen Menschen.

Zurück zum Flipchart: Unter dem Wort „Lebensplanung“ laufen gemalte Pfeile zu den sogenannten Alternativen. Dort steht „Bürgergeld, erben, rauben, betteln. „Ist das für euch eine Alternative?“, setzt der Bielefelder mit der Überzeugungsarbeit fort. Alton sagt im Scherz: „Ich kann doch von Ihnen erben“ und lacht. „Ich hätte schon viele Kinder, wenn ich alle adoptiert hätte, die das hier aus Scherz gesagt haben.“ Kühme führt die Scheinalternativen fort: „Reich heiraten, kann das jemand?“ Reshin meldet sich – der Sozialarbeiter kontert: „Aber nur einen alten Mann.“ Reshin zuckt daraufhin mit den Schultern. „Manchmal“, so scherzt Kühme, „würde ich am liebsten den richtigen Weg in die Köpfe hämmern.“ Engagement ist eben oftmals auch nah an Frustration gekoppelt.

Reshin möchte gerne im Einzelhandel arbeiten.

Die, die es wollen, die kommen auch später zu ihm

Die Arbeit des Sozialarbeiters ist formal beendet, wenn ein junger Mensch in Ausbildung ist, aber: „Ich sage jedem, er soll sich danach melden, wenn was ist“. So sitzen dann einige junge Menschen im Computerraum, die eigentlich schon das Programm abgeschlossen haben, aber eben noch Ratschlag brauchen. „Die brauchen einen Kümmerer“, sagt er. Jemand, den sie ansprechen können, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. „Einen Babo eben, ein Babo für jeden.“ 

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