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Ausgabe 02 | 2023: Armut? Abschaffen!
Schwerpunkt

Vernetzen gegen und helfen bei Altersarmut

Im deutschlandweiten Vergleich steht die nördlichste Landeshauptstadt noch ganz gut da, was die finanzielle Situation älterer Menschen betrifft. Die Altersarmutsquote liegt in Kiel aktuell bei 7,4 Prozent. Das ist deutlich geringer als der Bundesdurchschnitt. Im Bundesgebiet gilt fast jeder fünfte ältere Mensch als arm. Jenseits der Statistik bedeutet es aber trotzdem, dass tausende älterer Menschen in Kiel arm sind. Wir haben drei Frauen besucht, die für ältere Arme in Kiel da sind.

Für Gesa Rogowski haben abstrakte Zahlen kaum praktische Bedeutung. „Die Aufgabe der Stiftung ist es, den Einzelnen zu sehen und Gutes zu tun. Es ist schlimm genug, dass wir über Altersarmut sprechen müssen“, sagt sie. Frau Rogowski ist Koordinatorin der Howe-Fiedler-Stiftung. Von ihrem Büro aus, in einer Seitenstraße mitten in der Kieler Innenstadt, wenige hundert Meter von der Kieler Förde entfernt, verhilft sie ärmeren Senior*innen zu einem würdigeren und lebenswerten Leben.

Schaut man oberflächlich auf die Homepage der 2012 als gemeinnützig anerkannten Karl-Heinz-Howe-Simon-Fiedler-Stiftung, wie sie vollständig ausgeschrieben heißt, kommt man auf den Gedanken, dass es sich um eine Art Senior*innen-Freizeiteinrichtung handelt, die mit einem Angebot aus Sport, Spiel und Ausflügen bei älteren Leuten für gute Stimmung sorgt. Dass hier ganz speziell ältere ärmere Menschen angesprochen werden sollen, wird erst auf den zweiten Blick klar. Frau Rogowski beschreibt die Aufgabe der Stiftung dabei so: „Mittels Zuwendungen Kieler Senior*innen etwas mehr Lebensqualität verschaffen.“

Das Angebot der Stiftung ist breit gefächert. Grob aufteilen kann man dies in direkte finanzielle Hilfen einerseits und Freizeitangebote andererseits. Denn so banal es manchmal ist: Gegen Armut hilft Geld, gerade in Zeiten steigender Lebensmittelpreise. „Aktuell sind Einkaufsgutscheine sehr gefragt“, berichtet Gesa Rogowski. Auch Anfragen zur Finanzierung des 9-Euro-Tickets gab es im vergangenen Sommer viele. „Wir haben es mit Menschen zu tun, die am Existenzminimum leben. Sie überlegen jeden Tag, ob sie sich ein Brötchen oder doch einen Kaffee kaufen können“, beschreibt Frau Rogowski die Klient*innen, die zu ihnen kommen oder zu denen sie gehen.

Geschenke machen

Es gibt noch mehr Angebote, wie Tanja Bollmann ausführt. Sie arbeitet im Projekt „Kieler Senioren-Lotse“ und besucht seit 2017 Kieler Senior*innen daheim. Frau Bollmann beschreibt sich als Sprachrohr zwischen Stiftung und Senior*innen. Vor Ort sehe sie dann direkt, wo es hakt. Ist der Kühlschrank kaputt oder die Matratze nach Jahrzehnten durchgelegen, gibt es auch einmalige Sachzuwendungen über das Projekt: „Die Handwerker kommen“, Zuzahlungen für Zahnersatz, Sehhilfen und neue Rollatoren können übernommen werden. „Damit haben wir die Möglichkeit, Geschenke zu machen“, meint Tanja Bollmann. So kommt die Stiftung häufig erstmalig mit den Bedürftigen in Kontakt. Doch es sind nicht nur kaputte Gegenstände, bei denen geholfen werden muss. Wenn das geliebte Haustier eine Operation braucht, kommen schnell 300 bis 400 Euro zusammen. Auch hier kann die Stiftung helfen. Das ist dann schon Krisenintervention, meint Frau Rogowski.

Tanja Bollmann (links) und Gesa Rogowski (rechts)

Etwas weiter südlich in Kiel trifft sich in den Räumlichkeiten des Arbeiter-Samariter Bundes in Kiel, das Netzwerk Armut und Krise am späten Donnerstagnachmittag. Auf dem Tisch stehen Süßigkeiten, eine Katze tigert durch den Raum. An dem langen Tisch befinden sich etwa 20 Personen, alle aus allen möglichen Bereichen der Sozialen Arbeit, die sich alle mit Armutsbekämpfung beschäftigen. Zwei Frauen vom Jobcenter Kiel referieren an diesem Tag zur Umsetzung des Bürgergeldes und des neuen Wohngeldes. Sie geben Hinweise, wie die Betroffenen das Geld, das ihnen zusteht, auch wirklich bekommen können.  Treffen wie diese finden mehrfach im Monat statt, auch mal mit Armutserfahrungen. Diese seien besonders wichtig, erklärt Organisatorin Ann-Kathrin Kelle: „Was ich immer wieder toll finde, ist zu sehen, wie die Leute sich füreinander einsetzen. Das miteinander Reden ist positiv.“

Ann-Kathrin Kelle arbeitet beim Verein Groschendreher e.V. Wie der Name vermuten lässt, kümmert der Verein sich um diejenigen, die mit ihrem Geld gut haushalten müssen. Ihre Abschlussarbeit schrieb Frau Kelle über das Thema Armut. Seitdem hat es sie nicht mehr losgelassen, erzählt sie. Kelle jobbte selbst schon für wenig Geld in der Pflege, “kennt also auch die andere Seite. Seit 2020 ist sie bei den Groschendrehern, deren Schwerpunkt auf Vernetzung vom älteren Menschen mit Armutserfahrungen und denen, die diesen Personen helfen wollen, liegt. „Wir setzen uns dafür ein, dass die Perspektive der Altersarmut mehr eingenommen werden kann. Wir schauen auf die Folgen von Altersarmut und versuchen diese mehr öffentlich zu machen“, beschreibt sie ihre Tätigkeit. Über Armut selbst sei alles gesagt. Die theoretischen, empirischen und praktischen Abhandlungen, sowie Lösungsansätze füllen Bibliotheken. Nur passiert kaum etwas, beklagt sie. Deswegen lässt Groschendreher Betroffene direkt zu Wort kommen, etwa mit einem eigenen Podcast. 

Gegen die Stigmatisierung

„Den Podcast nutzen wir, um unsere Haltung wiederzugeben“, erklärt Frau Kelle. So oft es möglich ist, versuchen sie, dort Betroffene von Altersarmut zu Wort kommen zu lassen: „Dabei geht es nicht so um die Tiefe, sondern wir wollen Themen anzustoßen. Vielleicht ein bisschen Anteasern.“ Eine besondere Herzensangelegenheit ist Ann-Kathrin Kelle dabei, Stigmatisierungen ärmerer Menschen zu bekämpfen, denn das mediale Bild, das von Armut vermittelt wird, ärgert sie. Man müsse nur den Fernseher anmachen. Arme Menschen sind dort oft schwächlich, antriebsarm und vor allem selbst schuld.

Ann-Kathrin Kelle

Armut sei aber oft die Folge der Lebensbiografie, weiß Ann-Kathrin Kelle. Das beobachtet man auch bei der Howe-Fiedler-Stiftung. „Singularisierung und Feminisierung“ seien treibende Faktoren, zunehmend kommen auch Migrantinnen zu ihnen. Übersetzt heißt das, dass älteren Single-Frauen mit und ohne Migrationshintergrund besonders häufig die Armut droht. Dabei haben viele ihr ganzes Leben lang gearbeitet, aber oft nicht sozialversicherungspflichtig. Wenn zwischenzeitlich eine Scheidung erfolgt ist oder der Ehemann gestorben ist, wird die Rente schnell sehr klein. Fehlende Bildung komme auch häufig hinzu. Gerade die heute alten Frauen kommen aus einer Generation, wo man der Meinung war, dass die Frau nichts zu lernen brauche, da sie im Haushalt und bei den Kindern bestens (und unbezahlt) aufgehoben sei. Das wird dann heute ein Problem, so Frau Rogowski: „Wir haben es mit Leuten zu tun, die nicht wissen, wie man an Informationen herankommt oder sich zutiefst schämen.“

Das Ganze hat auch mit Würde zu tun. Friseurbesuche sind für Grundsicherungsbezieher*innen unbezahlbar. „In den Hausbesuchen höre ich oft: Ich mag gar nicht mehr rausgehen, weil ich auf dem Kopf aussehe wie Kraut und Rüben“, erzählt Frau Bollmann. Aber wer nicht mehr rausgeht, vereinsamt oft schleichend. Frau Rogowski ergänzt: „Die Menschen können sich keine Fußpflege oder keinen Friseurbesuch leisten. Das bedeutet in unseren Gefilden Armut.“ Sie verstehe einfach nicht, warum derartige Leistungen nicht im Regelsatz enthalten seien.

Die Armut macht etwas mit den Menschen. Man beobachte eine Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten, depressiven langandauernden Krisen und zusätzlichen physischen Folgeerkrankungen. „Die Leute können es langsam aber sicher nicht mehr ertragen, wie sie leben. Sie fühlen sich nicht gut damit und haben einen hohen Stresslevel“, meint Gesa Rogowski. “Viele ernähren sich schlecht, bewegen sich sehr wenig und sitzen häufig den ganzen Tag auf der Couch.“ Während der Coronazeit und den starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens sei das mehr geworden. Hilfe suchen sich die wenigsten, beobachtet Frau Rogowski: „Die Menschen sind ängstlich, zweifelnd und sehr einsam.“ Die Älteren haben gelernt, alleine mit Lebenskrisen umzugehen nach dem Motto: „Das geht niemanden etwas an.“

Auch Ausflüge werden finanziert

Dies ist die große zweite Säule der Howe-Fiedler-Stiftung: Die Freizeitgestaltung. Etwa mit dem Projekt KulturistenHoch2. Hier gehen Schüler*innen mit Senior*innen als Tandem gemeinsam in Kulturveranstaltungen. Auch Kurzreisen, Wandertrips, Besuche auf Kirchentagen werden finanziert, „wenn es denn kein Flug nach Tahiti ist“, ergänzt Gesa Rogowski scherzhaft. „Aber wo es guttut und es sich in einem gewissen Rahmen bewegt, unterstützen wir.“

Ein Flyer des Projektes KulturistenHoch2

Auch Frau Kelle unternimmt etwas mit den Senior*innen, hat aber einen anderen Ansatz: „Wir sind partizipativ. Ich war gerade mit einer Seniorin an einer Berufsschule und habe mit den Schüler*innen über Altersarmut gesprochen.“

Was sie in der Arbeit mit den Senior*innen bekommen, fehlt jedoch häufig seitens der Politik. Warum ist das so, obwohl es so viele Betroffene gibt? „Altersarmut ist wohl nicht sexy genug“, vermutet Gesa Rogowski. „Wir haben in Kiel nicht die Anerkennung, die wir uns wünschen. Von der Politik wird Altersarmut eher verdrängt.“ Mit manchen Ämtern könne man hervorragend zusammenarbeiten. „Aber dann gibt es auch dieses nicht-sehen-wollen von Altersarmut.“ Eine mögliche Erklärung dafür hat Ann-Kathrin Kelle: „Arbeit ist das höchste Gut in unserer Gesellschaft und wer da rausfällt, ist zunächst einmal ein Stück weit abgehängt. Dann wird unterstellt, dass man in seinem Leben einfach nicht genug getan hat.“

Davon lässt sich aber niemand entmutigen, denn es gibt auch reihenweise Erfolgserlebnisse. Als ich Frau Bollmann nach einer besonders schönen Geschichte frage, überlegt sie lang, weil es so viele davon gäbe. Schließlich erzählt sie mir zwei. Eine von einer Dame, die schon weit über 90 war, vereinsamt und jeden Lebensmut verloren hat. Dann kam sie zur Howe-Fiedler-Stiftung, lernte andere Menschen kennen, wurde wieder aktiv und fasste wieder neuen Lebensmut. „Heute, mit 97 Jahren fährt sie selbstständig in die Stadt, trinkt Kaffee und kennt Gott und die Welt“, erzählt Frau Bollmann.

Dann gibt es da noch eine Klientin, die stark depressiv und antriebslos war und den Tag fast nur verschlafen hat. Tanja Bollmann besuchte sie regelmäßig. Sie kam auch zu den Nachmittagsveranstaltungen und lernte andere Senior*innen kennen. Dabei blühte sie auf und organisierte selbst Ausflüge, sogar bis nach Hamburg, und beteiligte sich an Frühstücksaktionen für Schulkinder. Nun ist sie völlig selbstständig. „Jetzt ist sie so gut vernetzt, dass sie uns nicht mehr benötigt.“ Frau Bollmann hat sich und ihre Arbeit im besten Sinne überflüssig gemacht.

Philipp Meinert

Hinweis

Ann-Kathrin Kelle hält am Donnerstag, den 4. Mai um 16.20 einen Praxisimpuls in der Veranstaltung "Welchen Einfluss haben Pandemie und Inflation auf soziale Arbeit, gesellschaftliche Solidarität und Selbstorganisation?" beim Aktionskongress 2023.

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