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Ausgabe 02 | 2023: Armut? Abschaffen!
Schwerpunkt

Ziel: eine Arbeit, die zum Leben reicht

Keine Kinderbetreuung, kein Job, Geldsorgen. In Lübeck-Moisling geraten viele Frauen in diese oder ähnliche Teufelskreise. Das Frauennetzwerk zur Arbeitssituation e.V. hilft ihnen Schritt für Schritt eine berufliche Perspektive zu entwickeln.

Sarah Teut hat eine Vision: Ein gutes (Arbeits-)Leben für alle. Frauen, so träumt sie, arbeiten gleich viel wie Männer und beide teilen sich Kinder und Haushalt. Firmen bieten Teilzeitjobs an, stellen gerne Frauen mit Kindern ein und zahlen Frauen und Männern gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Kinder sind gut betreut, Familien kommen finanziell gut klar und Frauen haben eine Chance, sich zu entwickeln und sich vor Altersarmut zu schützen. Und nicht zuletzt: Die Arbeitswelt hätte mehr Fachkräfte.

Diese Vision begleitet die Beraterinnen vom Frauennetzwerk zur Arbeitssituation.

Ihre Realität sieht anders aus. Zu Sarah Teut, der Lübecker Regionalleiterin des Frauennetzwerkes, und ihren vier Kolleginnen kommen Frauen, die allein keinen Weg aus der (Armuts)falle finden. Frauen, wie die studierte Soziologin, die keinen Job findet und stattdessen Taxi fährt. Sie verdient zu viel, um Unterstützung zu bekommen, und zu wenig, um zu leben und die Miete zu bezahlen. Die Schulden häufen sich. Vor lauter Sorgen kann sie kaum noch handeln.

Keine Seltenheit, sagt Sarah Teut. Junge Absolventinnen ohne Berufserfahrung haben es trotz Fachkräftemangels schwer, einen Job zu finden. Sie könnten schwanger werden. Leben sie bis zum Ende des Studiums in einem Studierendenwohnheim, dann droht die Wohnungslosigkeit. Ohne Job, kein Geld, ohne Geld, keine Wohnung. Wieder so eine Falle. Haben sie schon während des Studiums ein Kind bekommen, konkurrieren sie um die raren Teilzeitstellen. Lässt ihr Name auf einen Migrationshintergrund schließen, verringern sich ihre Chancen abermals. Die klassische Diskriminierungsfalle.

Der rettende Anker ist die Beratungsstelle. In Lübeck-Moisling hat das Frauennetzwerk vor drei Jahren einen zweiten Standort eröffnet, mittendrin im Quartier am südöstlichen Stadtrand von Lübeck. Typisch für Moisling sind Hochhäuser, in deren Wohnungen Familien oft beengt leben, die Altstadt liegt eine halbe Stunde Busfahrt entfernt, rund 20 Prozent der 10 000 Einwohner haben einen Migrationshintergrund, die Arbeitslosigkeit ist höher als in anderen Stadtteilen.

Gerade hier hat sich das Frauennetzwerk drei Jahre lang gründlicher mit der Vision vom guten (Arbeits-)Leben beschäftigt. So lange lief das Projekt „STABS – Stadtteilberatung Die Salzspeicher“. Es ging nicht nur darum, Frauen möglichst schnell in Arbeit zu bringen, sondern darum, ihre Lebenssituation zu verbessern und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Die drängendsten Probleme zuerst

Es sind meistens finanzielle Probleme, die den Frauen die Luft abschnüren. „Oft stecken die Frauen in einer Notsituation und versuchen alles mit viel Energie - bis ihr Atem immer kürzer wird“, sagt Sarah Teut. Dann gilt es: Ruhe schaffen, die Probleme sortieren und beim Drängendsten anfangen. Die Notlösung für die junge Soziologin ist, zunächst das Taxiunternehmen zu wechseln, einen höheren Stundenlohn zu erzielen und etwas mehr zu arbeiten. Damit ist der finanzielle Druck genommen und sie kann mit Hilfe der Beratungsstelle ihre Bewerbungsunterlagen überarbeiten und ausloten, wie sie sich beruflich aufstellen kann.

In Lübeck-Moisling hat das STABS-Projekt unter denkbar schlechten Bedingungen gestartet: am ersten Tag des Lockdowns. Glück im Unglück ist der Standort direkt im Ärztezentrum, das alle in Moisling kennen. So hat sich das Projekt trotz Corona-Beschränkungen herumgesprochen und immer mehr Frauen mit Migrationshintergrund kamen.

Dirk Silz
Sarah Teut leitet ein Seminar zur beruflichen Zukunft.

Wie die junge Frau aus Vorderasien, die in ihrer Heimat studiert und gearbeitet hat. Ihr Mann hat in Deutschland eine Ausbildung gemacht und arbeitet in einem Handwerksbetrieb. Sie hat Kinder bekommen, das Jüngste ist zu Beratungsbeginn ein Jahr alt. Der Mann verdient, doch das Geld reicht hinten und vorne nicht. Ihr fehlt die Kinderbetreuung, aber sie hat ein Ziel: Sie will medizinische Fachangestellte werden.

Für diese junge Frau war das STABS-Projekt ein Segen. Normalerweise begleitet die Beratungsstelle Frauen etwa ein halbes Jahr lang, anfangs wöchentlich, und guckt dann, ob sie allein weiterkommen. Die junge Frau ist nun schon zwei Jahre im Projekt. Als erstes haben die Beraterinnen ihre Unterlagen prüfen lassen und es geschafft, dass ihr ein mittlerer Schulabschluss anerkannt wurde. Im Sprachcafé des Projektes hat sie mehr Deutsch gesprochen, in weiteren Sprachangeboten für Mütter hat sie so lange geackert, bis sie mutig genug war, sich zur Sprachprüfung anzumelden. Ergebnis: C1, eine Sprachstufe, die für Studien verlangt wird.

Der nächste dicke Brocken war der Behördenwust, wie Sarah Teut ihn nennt. In vielen Beratungsprozessen loten die Beraterinnen mögliche Unterstützungen aus – sei es Kinderzuschlag, Wohngeld, Pflegegeld, ALG I, Bürgergeld, Bildungs- und Teilhabepaket, BAföG. Auch in diesem Fall konnten sie finanzielle Entlastung schaffen.

Frauen nehmen ihr Leben in die Hand

Empowerment ist ein Grundsatz, der die Beratungsstelle leitet. Den Schritt zur Beratungsstelle haben die Frauen geschafft, nun sollen sie weiterhin aktiv werden. „Wir können sie immer mal an die Hand nehmen, aber wir können sie nicht auf den Arm nehmen und den Weg laufen“, sagt Sarah Teut. Vielmehr geht es ihr darum, die Fähigkeiten, Stärken und auch die Leistungen jeder einzelnen Frau wahrzunehmen und anzuerkennen.

Was ihnen fehlt, um ihren eigenen Weg zu gehen, lernen die Frauen auch in den Gruppen, die das Beratungszentrum anbietet: Im Sprachcafé verbessern sie ihr Deutsch, während die Kinder betreut sind, im EDV-Kurs lernen sie nicht nur Textverarbeitung am Computer - manche richten sich zum ersten Mal in ihrem Leben eine eigene E-Mail-Adresse ein. Oder sie lernen, wie sie Online auf ein Konto zugreifen und wie sie ihre Daten schützen können.

Andere Kurse widmen sich eher der Gesundheit, der Selbstfürsorge und dem Austausch unter Frauen. Immer geht es darum, dass die Frauen handlungsfähiger werden, Bewerbungen und Briefe selbst schreiben, Formulare selbst ausfüllen und wenigstens in groben Zügen die Behördenpost verstehen können.

Care-Arbeit macht Frauen arm  

Das größte Hindernis für Frauen ist nach wie vor, dass sich Familie und Beruf oder Familie und Ausbildung schlecht miteinander vereinbaren lassen. Es fehlt an Kitaplätzen für Kinder unter drei Jahren, es fehlt an Teilzeitstellen, es fehlt an Ausbildungen, die in Teilzeit möglich sind. Die aber brauchen die Frauen, denn nach wie vor sind sie es, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Das Frauenbüro Lübeck hat das im Armuts- und Sozialbericht 2021 der Stadt in Zahlen ausgedrückt: 80 Prozent der Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt – wegen der Care-Arbeit. Die Teilzeitquote der Frauen liegt in Lübeck bei rund 50 Prozent, der Männern nur bei 16 %., die Corona-Krise hat den Anteil der arbeitslosen Frauen in Lübeck von 41,8 auf 49,7 Prozent steigen lassen.

Je später Frauen eine sozialversicherungspflichtige Arbeit finden, desto weniger Rentenpunkte sammeln sie, desto größer ist die Gefahr, dass sie im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind. Wieder eine Armutsfalle.

Dennoch: Den erstbesten Job zu nehmen, davon rät die Frauenberatungsstelle ab. Gerade, wenn Frauen meinen, „dass so gar nichts in der Hand haben“, gucken die Beraterinnen: Wofür schlägt ihr Herz? Denn gerade der erste berufliche Schritt soll ihre Klientinnen zufriedener machen und sie bestärken. „Wir gehen lieber einen Schritt langsamer und fokussieren uns auf die Verankerung einer guten Erfahrung“, sagt Sarah Teut. Das kann ein gutes Arbeitsumfeld sein, in dem sie Familie und Kinder gut vereinbaren können oder die Erfahrung, dass sie sprachlich mehr können als sie glauben. Das kann auch heißen, dass eine Frau zunächst an Gruppen teilnimmt und sich niedrigschwellig qualifiziert, bis sie für ihr Kind eine gute Betreuung gefunden ist. So gestärkt wagt es manche Frau, eine Zukunft zu planen, sich zu qualifizieren, vielleicht eine Ausbildung zu machen, die dann in einen sozialversicherungspflichte Anstellung führt.

So wie die Mutter, die den Deutschkurs mit C1 abgeschlossen hat. Sie musste eine Schleife nehmen, bis sie für ihr Kind eine Betreuung gefunden hatte. Nun kann sie zwischen zwei Ausbildungsangeboten wählen.

Gerlinde Geffers

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