Wenn das Kind nicht in den Verein kann
Frau Pieroth, Sie sind Mitarbeiterin im Familienzentrum Au in Pforzheim. Wie erleben Sie dort die Armut der Familien?
Das Familienzentrum Au liegt wie der Name schon sagt im Stadtteil Au. In diesem Stadtteil haben wir relativ viele arme Familien. Der Prozentsatz der unter 15-jähringen im Leistungsbezug lag 2021 bei 36%, also jedes 3. Kind. Das merken wir zum Beispiel täglich in unserer Arbeit mit den Kindern, die zu uns in die Hausaufgabenbetreuung kommen. Wir bieten im Familienzentrum Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung für Grundschulkinder an, gefolgt von einem offenen Freizeitprogramm.
Die meisten Familien finanzieren die Leistungen über das Paket „Bildung und Teilhabe“, kurz BuT. In unsere Beratung kommen viele Familien, die beim Ausfüllen der Anträge Unterstützung möchten. Wir merken, dass mit den BuT-Anträgen nicht nur die Eltern von Kindern kommen, die in unsere Einrichtung gehen. Sie beantragen Wohngeld, Kinderzuschlag, und verschiedene BuT- Leistungen. Insgesamt ist es sehr viel Papierkram für die Eltern. Es wird geschätzt, dass nur etwa 30 Prozent der Familien, denen Kinderzuschlag zusteht, diesen überhaupt beantragen. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Für den Kinderzuschlag müssen die Familien Wohngeldbezug nachweisen, aber die Bearbeitung dieser Anträge dauert zur Zeit bis zu sechs Monate. Und so lange wird der Kinderzuschlag nicht bewilligt, da dieser Nachweis fehlt. Das ist in letzter Zeit deutlich mehr geworden. Ich mache die Stadtteilberatung seit 2017, am Anfang hatten wir mittwochs immer mal 20 Minuten, um über die einzelnen Fälle zu sprechen. Es kamen durchschnittlich sechs Fälle in zwei Stunden. Seit 2022 ist es so, dass es Schlag auf Schlag geht und wir um 12 Uhr Menschen bitten müssen, nächste Woche wieder zu kommen. Für dieses Jahr sind wir bei durchschnittlich 19 Fällen pro Termin.
Letzten Mittwoch war hier eine Familie, die ihre Wohnung verloren hat. Sie haben vor sechs Monaten einen Wohngeldantrag gestellt, aber es fehlen immer noch Nachweise, da sie die postalischen Nachfragen nicht verstanden haben. Der Antrag wurde deshalb bis heute nicht bewilligt. Sie können seit vier Monaten die Miete nicht mehr voll zahlen und mussten ausziehen. Jetzt leben die Eltern mit ihren vier Kindern in einer Obdachlosenunterkunft. Das ist ein absoluter Einzelfall, aber das, was wir im Beratungsteam verhindern möchten.
Das klingt jetzt nach sehr viel Bürokratie. Würde es helfen, Vorgänge zu vereinfachen um die Leistungen in Anspruch zu nehmen. Oder gibt es da andere Gründe?
Ich denke tatsächlich, dass es die Bürokratie ist. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass da viel Scham ist, zustehende Leistungen zu beantragen. Wahrscheinlich auch deshalb nicht, da es hier im Stadtteil etwa die Hälfte der Familien betrifft. Man ist hier kein Außenseiter, wenn man Leistungen nach SGBII, Wohngeld oder Kinderzuschlag bezieht. Aber durch den bürokratischen Aufwand und die langen Bearbeitungszeiten ist ein gewisser Pessimismus und eine gewisse Schicksalsergebenheit da. So nach dem Motto: Das lohnt sich gar nicht, da kommt ja ohnehin nichts und wenn, dauert es sehr lange. Nach der Antragstellung kommen die Eltern alle zwei bis drei Monate und fragen: Kann man was machen? Der Wohngeldbescheid ist noch nicht da. Und wir müssen sagen: Nein, da kann man nichts machen. Und dann gehen sie wieder. Und das ist sehr schlecht, das Geld steht den Familien ja zu. Wenn das Gehalt nicht reicht, um die Familie zu ernähren, dann muss der Sozialstaat einspringen, und eigentlich zeitnah.
Wir haben viel über die Eltern gesprochen. Aber wie wirkt die Armut sich auf die Kinder aus?
Den Kindern in der Hausaufgabenbetreuung und beim Mittagessen merkt man es erst einmal so nicht an. Aber sie sind durchgängig Montag bis Donnerstag bei uns. Sie sind nicht an einem Tag beim Fußballtraining oder beim Ballett. Ihre Freizeitangebote während der Schulzeit sind auf unser Angebot beschränkt, da es umsonst ist. Ich hatte neulich eine Mutter in der Beratung, die ganz überrascht war, dass das BuT ja auch für einen Fußballverein bezahlen würde. Ihr Sohn will schon so lange in eine Fußballmannschaft. Aber dann ist ihr eingefallen, dass sie auch ein Trikot kaufen muss und alle paar Monate neue Fußballschuhe. Die finanziellen Probleme haben sofort die Freude über die Finanzierung des Vereinsbeitrages überlagert.
In den Ferien merken wir es, dass die Kinder außer drei Wochen Ferienprogramm bei uns wenig anderes machen. Sie berichten auch nicht von Ausflügen am Wochenende. Man kann in Pforzheim auch sehr viel umsonst machen, um Beispiel den Wildpark besuchen. Den kennen fast alle Kinder bei uns sehr gut. Abe den großen Zoo in Karlsruhe kennen die Kinder nicht, nur wenn wir das in den Sommerferien anbieten. Der Ausflug kostet nicht viel Geld, aber er ist eine zusätzliche Ausgabe. Die Eltern schließen das oft von vornherein aus und denken gar nicht darüber nach, was sie noch tun könnten. Sie wurden so oft schon gestoppt, weil das Geld dafür nicht reicht. Das ist die Schicksalsergebenheit, von der ich schon sprach, und die sich auf die Kinder überträgt. Die Welt ist für arme Kinder wirklich klein.
Das kann sich auch negativ auf ihren Wortschatz, ihre Fantasie und ihr Weltwissen auswirken. Je weniger neue Erfahrungen die Kinder machen können, da die finanziellen Mittel der Familie nicht ausreichen, desto größer sind die Auswirkungen dieser fehlenden Teilhabe auf ihre Gegenwart und Zukunft.
Man sagt ja auch, dass Armut sich vererbt. Erleben Sie das konkret, dass die Kinder das Schicksal ihrer Eltern „erben“?
Wir haben einen sehr hohen Anteil von Kindern aus Migrantenfamilien, die vor Krieg geflohen sind, zum Beispiel viele jesidische Irakerinnen und Iraker im Stadtteil. Bei Eltern, die nicht im deutschen Bildungssystem aufgewachsen sind, merkt man schnell, wenn die Mütter aus ländlichen Gebieten kommen und als Kinder von formaler Bildung ausgeschlossen wurden. Wir haben viele Analphabetinnen in unseren Deutschkursen, also Frauen, die nie in der Schule waren. Das vererbt sich indirekt an die Kinder. Das fängt schon bei ganz kleinen Kindern an, bevor sie überhaupt in die Schule kommen. Wenn das Kind keinen Kindergartenplatz bekommt, was hier in Pforzheim nicht unwahrscheinlich ist, weiß es nicht, wie man einen Stift hält oder mit der Schere schneidet. Aber diese Kompetenzen werden schon früh in der Grundschule erwartet und müssen aufgeholt werden. Die Eltern vermitteln den Kindern zuhause alles, was sie selbst in ihrer Kindheit gelernt haben, zum Beispiel soziale Kompetenzen und ihre Muttersprache. In KiTa, Schule und im Kontakt zu Kindern außerhalb der eigenen Familie sollten die Kinder alle anderen Kompetenzen erwerben, die sie für einen erfolgreichen Bildungsweg in Deutschland brauchen. Das gelingt aber oft nur, wenn sie dort genug Zeit verbringen und ausreichend gefördert werden.
Während der Schulzeit können armutsgefährdete Familien die dringend notwendige Nachhilfe nicht direkt selbst bezahlen. Im Rahmen des BuT ist es sehr aufwändig, Nachhilfe für ein Schulkind finanziert zu bekommen, dafür muss das Kind versetzungsgefährdet sein. Ich habe als Kind Nachhilfe bekommen, um in Mathe von einer Vier auf eine Drei zu kommen, das haben meine Eltern bezahlt. Aber so lange das Kind in der Schule nicht nachweisbar versetzungsgefährdet ist, gibt es im BuT keine finanziellen Mittel für Nachhilfe. Und unsere Hausaufgabenbetreuung ist keine Nachhilfe, mit unserer finanziellen und personellen Ausstattung können wir nur bei den Hausaufgaben unterstützen.
Dadurch vererbt sich die finanzielle Armut, da viele armutsgefährdete Kinder mehr Bildungshemmnisse haben und dadurch geringere Aufstiegschancen haben. Ich denke, dass sich hier durch Geld für zusätzliche Bildungsangebote viel ausgleichen ließe. Die Unterstützung des Staates durch das BuT greift da meiner Meinung nach nicht früh genug.
Nun gibt es ja verschiedene Bestrebungen der Bundesregierung, zum Beispiel mit Einmalzahlungen oder auch durch das reformierte Wohngeld direkt steigende Kosten und Energiepreise abzufedern? Kommt das an? Reicht das aus?
Um ehrlich zu sein kann ich noch nicht sagen, ob es ausreicht. Bei so vielen Eltern liegen die Wohngeldanträge noch irgendwo in irgendeinem Papierstapel. Zu mir kam aber noch niemand und hat gesagt, dass sein Wohngeldbescheid zu gering sei. Die finanziellen Mittel, die bewilligt werden, scheinen ausreichend zu sein. Aber die Wartezeit belastet die Eltern einmal psychisch und natürlich auch finanziell. Sie machen vielleicht auch Schulden, zum Beispiel beim Vermieter, oder sie verlieren im schlimmsten Fall die Wohnung. Als die Strompreise so stark gestiegen sind, haben auch Behörden vereinzelt auch einfach die Stromrechnung übernommen oder eine Ratenzahlung ausgemacht. Aber die Wartezeit und die Bürokratie belasten viele Familien in unserer Beratung stark. Vieles ist so gestückelt, es gibt ein Formular für Nachhilfe, eines für den Schulausflug und ein drittes für das Mittagessen in der KiTa. Und wenn die Eltern nicht die notwendigen schriftlichen Deutschkenntnisse haben, fällt ihnen schon ein Formular schwer.
Das Interview führte Philipp Meinert
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Homepage des Familienzentrums Au