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Ausgabe 02 | 2023: Armut? Abschaffen!
Schwerpunkt
Sarah Giovannozzi
Interview

Vom Kinderdorf zum Studieren nach Amerika

Mit 11 Jahren reichte es Jeremias. Er zog freiwillig in ein SOS Kinderdorf. Er zog weg von den Problemen in seiner Familie und der dortigen Armut. Inzwischen ist er 22, hat bereits ein Buch geschrieben und studiert jetzt in den USA. Sein Aufwachsen in Armut hat ihn zu einem Lobbyisten gegen Kinderarmut werden lassen, der immer wieder seine Stimme erhebt.

Sie sind derzeit zum Studium in den USA. Verfolgen Sie die deutsche Politik denn auch von dort aus?

Tatsächlich sehr akribisch. Gerade was sich im Hinblick der Kindergrundsicherung so tut, da bin ich auf einem ziemlich guten Stand. Ich war in Berlin auf einer Fachveranstaltung vom SOS-Kinderdorf als Redner und bin da sehr im Thema drin. Leider sehen wir ja, dass es einzelne Koalitionspartner gibt, die gerade ein bisschen blockieren.

Herr Lindner sagt ja, dass für Kinder und Familien eigentlich finanziell schon sehr viel passiert sei und daher die Kindergrundsicherung nicht nötig sei. Würden Sie ihm da zustimmen?

Ich würde Herrn Lindner da natürlich nicht zustimmen. Es gibt ja verschiedene Berechnungsweisen der Kindergrundsicherung. Die diskutierten 250 Euro decken noch nicht mal die reine Inflationssteigerung ab – ganz unabhängig davon, welche anderen Transferleistungen noch nötig sind, damit Kinder und Jugendliche teilhaben können. Es müssen auf jeden Fall höhere Transferleistungen her. Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband gibt es ja eine gute Berechnung, die aufzeigt, dass 250 Euro nicht armutsreduzierend sind. Da müssten mindestens noch 100 bis 130 Euro drauf. Dann hätte der Kinderfreibetrag eine effektive Wirkung. Christian Lindner redet nicht so viel über den Kinderfreibetrag. Der Kinderfreibetrag ist an das Existenzminimum gebunden, aber der vor allem Besserverdienenden zu Gute kommt und weniger den Schlechtverdienenden. Eben weil man ja den Kinderfreibetrag über Einkommenssteuer absetzen kann, wenn ich richtig informiert bin. Ein Spitzenverdiener bekommt für sein Kind 354 Euro in Form von Steuernachlass während alle andere Kindergeld bekommen.

Hätte das Ihnen und Ihrer Familie damals in der Situation geholfen, wenn es so eine Kindergrundsicherung gegeben hätte?

Absolut! In jedem Fall hätte das geholfen. Ein Problem, das ich häufiger mal sehe ist, dass die meisten Menschen, die über Kinderarmutsprävention reden, mehr Sozialpädagog*innen und mehr Betreuer*innen fordern. Aber die allerwenigsten Menschen trauen sich, über eine höhere Leistungssumme zu reden. Und in jedem Fall kommt es ja bei den Menschen, die wenig Geld habenan. Am Ende zählt in jeder Familie das, was auf dem Konto ist. Jeder Euro mehr, der auf dem Konto ist, tut natürlich auch einer Familie, die prekär lebt oder leben muss aufgrund von mangelnden Leistungen, schlichtweg gut.

Sie kommen ja, wie es manchmal so medial verkürzt wird, aus einer „Hartz IV-Familie.“ Wie beurteilen Sie denn das neue Bürgergeld aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus?

Das ist sicherlich ein erster guter Schritt in die richtige Richtung gewesen. Wir haben uns von Hartz IV verabschiedet und es quasi ersetzt durch das Bürgergeld, was de facto etwa 53 Euro mehr im Geldbeutel von Empfänger*innen bedeutet. Ob das die große, leittragende Sozialreform ist, mag ich zu bezweifeln. Sicher aber ist es eine Nomenklatur, in der man einfach durch ein neues Wort ein altes Konzept ersetzt, das ein bisschen schöner klingt und – schwuppsdiwupps –  kann man Hartz IV aus den Köpfen verschwinden lassen, was natürlich auch ein politisches Interesse von Grünen und SPD war. Allerdings gehört zur Armutsprävention mehr dazu. Es gehört dazu, dass wir urbane Plätze sozial integrativer gestalten, in frühkindliche Bildung viel stärker investieren, ein Kindergrundeinkommen implementieren und den Milliardenrückstau im Bildungssytem angehen und innerstädtische, kostenlose Mobilität für Menschen aus einkommensschwachen Hintergründen, niedrigschwellig anbieten. Wir wissen, dass innerstädtische Mobilität z.B. einer der wichtigsten Faktoren ist, um aus Armut herauszukommen. Wahre armutspräventive Sozialpolitik geht weiter als 53 Euro mehr pro Monat im Geldbeutel, wenngleich die Erhöhung durch das Bürgergeld ein sicherlich guter Anfang war. Man muss mehr Reformen anstreben als bisher und auch da Steigerungen in den nächsten Jahren vorstellen. Das wäre mal ein Ziel.

Sie sind ja auch SPD-Mitglied. Wie wird das so innerhalb Ihrer Partei diskutiert?

So wie ich das mitbekomme, gibt es da schon noch Kontroversen. Also nicht jeder sieht das Bürgergeld als das anvisierte Ziel sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik, doch rechne ich meiner Partei sehr wohl an, die damalig gemachten Fehler durch neue, mutigere und zukunftsorientierte Reformen anzugehen, die in den letzten 16 Jahren CDU-geführter Regierung de facto vergessen wurden. Doch glaube ich auch, dass viele Genossinnen und Genossen sich mehr gewünscht hätten und vorstellen können. Und ich denke auch, dass es immer noch Teil des Diskurses in der SPD ist. Ich lebe ja schon seit vielen Jahren in den USA, aber trotz alledem sehe ich, dass es ein hochrelevantes Thema ist, insbesondere in meiner Stadt Kaiserslautern. Dort ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor sehr hoch. Viele Städte, die auch von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, durchgehen einen starken Wandel, verzeichnen mehr Obdachlosigkeit, mehr Menschen gehen zur Tafel. Kurzum bin ich besorgt, dass Politik den normativen Rahmen vergisst, die sich oft nicht besser als Perspektivlosigkeit und Resignation zusammenfassen lässt. Deshalb meine ich, sollte man auf jeden Fall auch in Urbanität auch einfach sehr intensiv investieren, Sozialausgaben von finanzschwachen und sozialausgabenstarken Kommunen besser kompensieren. Des Weiteren ist der Kampf gegen Rechtsideologie genau da beginnend, wo wir die Lebensrealitäten der Menschen verstehen, und wir miteinander solidarisieren.

Wie würden Sie jemandem Kinderarmut in Deutschland beschreiben, der oder die sie nicht selbst erlebt hat?

Am besten erkläre ich es so: wenn man in Armut als Kind in Deutschland groß wird, dann fängt man einfach fünf Schritte hinter den Kindern an, die von zu Hause die Unterstützung bekommen. Bei denen vielleicht mal ein Urlaub drin ist, oder der Vereinsbesuch. Man erlebt weniger Teilhabe an Kultur, weniger Teilhabe an der Gesellschaft, die einfach essenziell in der Entwicklung von einem Jugendlichen oder einem Kind ist. Ich hatte damals als Jugendlicher und als Kind das Gefühl, dass ich viel mehr unter Rechtfertigungsdruck stehe. Man rechtfertigt sich für vieles, bedankt sich für alles, und ist im Begriff, schon früh die Sichtweisen Dritter zu durchleuchten, die Urteilsmacht über einen haben, etwa Lehrerinnen und Lehrer. Ich glaube, man kann sich das auch weniger einstehen, weil man immer in dieser Bittstellung ist. Man ist immer in der „debt creditor relationship“, wie Nietzsche es so schön behauptet hat. Man fühlt sich immer im Schuldnerverhältnis zu den Leuten, die geben. Und man muss sich dafür auch immer noch in irgendeiner Art und Weise rechtfertigen. In der Schule war das damals bei mir extrem. Klar. Wer hätte gedacht, dass ich mal das Abitur mache? Dazu gehört viel Eigenleistung, viel Eigenwille, viel Resilienz, und immer ein Stück Glück, auf die richtigen Menschen und Mentoren zu treffen. Da sollte doch kein Jugendlicher alleine durchgehen müssen. Man weiß ja, dass auch die Analyse der Leistung gerade von Lehrer*innen auch immer vom Hintergrund abhängig ist. Selbst im Jugendamt war nicht vorgesehen, dass ich einmal Abitur mache. Es hieß immer: „Mach doch die Ausbildung, Jeremias. Das wäre doch der bessere Schritt“. Das bestimmt einfach den Lebensweg von jungen Menschen und ich glaube, dass vergessen ganz viele Entscheidungsträger*innen.

Sie haben ja einen sehr ungewöhnlichen Schritt getätigt, mit 11 Jahren freiwillig in ein SOS-Kinderdorf zu gehen. Können Sie die Motivation dazu beschreiben, warum man das mit 11 Jahren macht?

Es war so, dass meine Eltern mental sehr stark erkrankt sind und dass sie auch wenig in der Gesellschaft gebunden waren und weniger auch in der Lage waren, sich um die Kinder zu kümmern. Das ist natürlich nicht in jeder Familie so, in denen Menschen arm sind. Es gibt ganz viele Menschen, bei denen das Interesse der Eltern an den Kindern an erster Stelle steht. Das war in meiner Familie nicht der Fall beziehungsweise es konnte nicht der Fall sein, weil meine Eltern sehr stark mit sich selbst beschäftigt waren. Am Ende war es so, dass ich schon mit 11 Jahren gemerkt habe, dass ich ein anderes Leben führen will als meine Eltern. Dazu musste ich aus dieser Familie raus. Das wurde mir sehr früh schon sehr klar. Das beste Wort, was ich dafür nutzen kann, ist „Enttäuschung“. Klar war es auch eine enttäuschende Erfahrung, die Eltern zu verlassen, aber es ist ein Produkt von der „Enttäuschung“ im wahrsten Sinne des Wortes. Dass ich einfach verstanden habe, woher ich komme. Ich habe auch verstanden, dass Krankheit meiner Eltern unsere Situation schon früh bedingt hat. Aufgrund dieser „Enttäuschung“ habe ich einen Verlust der Kindheit erlebt. Dann war eben der Weg ganz klar. Ich bin zum Jugendamt gegangen und dann hat das eine eben zum nächsten geführt. Dazu muss ich aber auch noch einmal sagen: Ich hatte auch selbst im Jugendhilfesystem extrem viel Glück. Es gibt ganz viele Einrichtungen, da ist die Fluktuation, also die Rate an Betreuer*innen, die gehen und wieder reinkommen extrem hoch, weil das keine wirklich gut finanzierten Jugendhilfeeinrichtungen sind. Aber ich hatte auch echt viel Glück mit der Einrichtung, in die ich gekommen bin. Es gibt selbst Disparitäten im Jugendhilfesystem, was jungen Menschen zugutekommt. Und da hatte ich einfach die richtigen Betreuer*innen in einer sehr gut spendenfinanzierten Einrichtung. Die noch mal ganz andere Mittel hatten als die Einrichtung, in der mein Bruder war.

Wie sah denn der Alltag im SOS-Kinderdorf für Sie aus?

Wir hatten im Jugendhaus ein Phasensystem. Das hat ein bisschen unsere Freiheit und auch unsere Rechte bestimmt. Also man hat in Phase 4 angefangen, wenn man da angekommen ist. Man hatte persönliche Ziele und wenn man nach ein paar Wochen 80 Prozent der Ziele erreicht hat, konnte man aufsteigen. Ich weiß noch, eines der persönlichen Ziele von mir war, nicht neugierig sein in persönlichen Belangen. Ich habe immer sehr viel gelauscht.

Es gab auch Tagespunkte für gutes Kochen, sauber zum Frühstück zu erscheinen oder ein aufgeräumtes Zimmer zu haben. So wurde halt auch Regelmäßigkeit und Struktur erlernt, aber das war halt immer abhängig von Leistung, wenn das Sinn macht. Also man wurde immer bewertet. Für alles gab es Punkte und daraus ist dann eben diese Prozentzahl entstanden, die wiederum dazu führt, dass man in Phase 5 oder 6 kam. In der Phase war die Ausgangszeit höher, dann durfte man länger am Handy bleiben bzw. musste sein Handy gar nicht mehr abgeben. Solche Sachen halt. Mit 15, 16 kam man in die sog. Selbstständigkeitsphase. D.h. man musste nicht mehr nachweisen, wofür man sein Geld ausgibt und solche Sachen. Und so haben wir Selbstständigkeit erlernt. Aber man muss auch dazu sagen, dass ich im Jugendhaus gemerkt habe, dass ich weniger Probleme mit dem System hatte. Ich habe Jugendliche kennengelernt, die haben schon mit 12, 13 Alkohol getrunken, die extrem traumatisiert von Zuhause kommen, die schon früh angefangen haben zu kiffen. Wir hatten Geflüchtete da. Ich erinnere mich an Kais. Der war 12 oder 13 und kam aus Afghanistan. Er hatte Geschwister zu Hause und war natürlich auch extrem traumatisiert. Ich kann mich an Ali erinnern, der zeitgleich aus Afghanistan gekommen ist. Ich habe ganz viele Jugendliche kennengelernt und auch ganz viele traumatisierte Jugendliche kennengelernt, die auch von dem System chronisch vernachlässigt wurden.

Was würde der heutige Jeremias dem 10-jährigen Jeremias sagen, wenn er könnte?

Das allerwichtigste im Leben ist, in Bewegung zu bleiben. Ich glaube, dass man jede Form von Abwertung für sich abstrahieren muss und daraus quasi auf so eine Metaebene kommen und verstehen muss, woher kommt dieser Mangel an Wissen, womit man sich ja als Jugendlicher und Erwachsener - bestimmt auch in eurer Arbeit - immer wieder konfrontiert sieht. Warum verstehen die Menschen nicht, was wir sagen? Warum verstehen die Menschen den Inhalt von etwas nicht, was eigentlich so logisch ist? Ich meine das, was der Paritätische Wohlfahrtverband fordert und andere soziale Verbände, ist eigentlich komplett logisch. Es ist in sich schlüssig und man merkt trotzdem, dass politische Ideologie häufig das Problem ist. Das würde ich, glaube ich, meinem 10-jährigen Ich sagen, dass ich mich viel mit Ideologie konfrontiert sehe und Ideologie verstehen muss, um ein Leben zu führen, was nicht komplett deprimierend ist und in dem man nicht immer den kompletten Ekel bekommt, vor Menschen, die in Ideologie versickern, aber nicht unbedingt in einem universalen Wert. Das zweite ist, dass meines Erachtens Philosophie die Antwort auf ein gutes Leben ist. Das es wichtig ist z.B. Hegel zu lesen, Nietzsche zu lesen, Marx zu lesen, Derrida ganz viel. Es hat mich auch sehr stark verändert, auch mein Wesensbild und ich glaube, dass hätte ich meinem 10-jährigen Ich gesagt.

Das Interview führte Philipp Meinert

Weitere Informationen

Homepage des SOS Kinderdorf

Das SOS Kinderdorf auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube

Autorenseite von Jeremias Thiel beim PIPER Verlag

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