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Ausgabe 03 | 2023: Sucht & Drogen
Schwerpunkt
Konsumräume und Substitutionstherapie

"Ein Druckraum ist auch immer ein Schutzraum"

Die Zahl der Drogentoten in Deutschland ist im vergangenen Jahr um neun Prozent gestiegen: Fast 2000 Menschen sind infolge des Konsums illegaler Substanzen gestorben. Eine alarmierende Entwicklung, der durch niederschwellige Suchthilfe entgegengewirkt werden kann. Wie bereits in den Jahren zuvor, sind die meisten Opfer in Nordrhein-Westfalen ums Leben gekommen. Katharina Schütten von der aidshilfe dortmund e.v. und Thoralf Wedig von der Substitutionsambulanz Köln-Mülheim haben uns von ihrer Arbeit mit Suchterkrankten erzählt und uns spannende Einblicke in ihren Alltag gewährt.

Auf den ersten Blick erinnert der Druckraum in der Dortmunder Innenstadt an eins dieser schmucklosen Internet-Cafés aus den Nullerjahren: Ein Tresen am Eingang, grauer Boden, weiße Wände – und insgesamt acht zur Wand gerichtete Plätze, die dank eines seitlichen Sichtschutzes nicht einsehbar sind. Doch anstatt einer gemischten Tüte mit Schlümpfen und Cola-Krachern erhalten die Besucher*innen beim Reinkommen ein steriles Spritzbesteck. Und die vermeintlichen Computerbildschirme an den nummerierten Plätzen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als festmontierte Spiegel, die es den Opiatabhängigen erleichtern sollen, ihre Venen am Hals oder in der Achsel zu treffen. Der beschriebene Konsumraum ist Teil der Drogenhilfeeinrichtung kick!, die unter der Trägerschaft der aidshilfe dortmund e. v., niederschwellige Basishilfen für Suchterkrankte anbietet. Neben der Möglichkeit zum geschützten Konsum illegaler Drogen beinhaltet das Angebot auch Beratungsgespräche, medizinische Behandlungen und ein Kontaktcafé, das für viele Betroffene einen sicheren Ort des Austauschs darstellt.

Katharina Schütten

An ihren ersten Arbeitstag vor zehn Jahren kann sich Katharina Schütten, stellvertretende Geschäftsführung der aidshilfe dortmund e. v., noch gut erinnern: „Damals sah ich zum ersten Mal, wie jemand Heroin aufkochte, die Spritze aufzog und sich die braune Flüssigkeit in eine entzündete Vene injizierte. Den Moment werde ich wohl nie vergessen.“ Inzwischen gehört dieser Anblick im Alltag der 38-Jährigen dazu. Doch auch in Druckräumen können Komplikationen auftreten: Allein im vergangenen Jahr hat es in der Einrichtung 16 Notfälle gegeben, darunter sieben schwere Atemstillstände, sieben Atemdepressionen, eine Kreislaufstörung und einen Krampfanfall. „Und genau deshalb sind Konsumräume so wichtig“, sagt Katharina Schütten. „Denn auf der Straße wären diese 16 Notfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich ausgegangen.“ Mehr als 200 Konsumvorgänge überwacht das medizinische Personal dort jeden Tag. Die Türen stehen allen volljährigen Menschen offen, die ihre Identität nachweisen können und nicht zum ersten Mal harte Drogen konsumieren wollen. „Die meisten kommen drei- bis viermal pro Tag, um ihren mitgebrachten Stoff in einer selbstbestimmten Dosis zu konsumieren“, erklärt die stellvertretende Geschäftsführerin. „Der Mischkonsum hat über die Jahre deutlich zugenommen. Neben Heroin und Kokain wird in unserem Inhalationsraum auch viel Crack geraucht, andere bringen Pillen und Amphetamine mit.“  Ein sogenanntes „Drug-Checking“, bei dem Drogen – wie seit Kurzem in Berlin möglich – kostenlos auf ihre Reinheit getestet werden, kann die Drogenhilfeeinrichtung in Dortmund nicht leisten. Dennoch bietet der überwachte Konsum viele Vorteile: Zum einen sinkt die Gefahr einer tödlichen Überdosis, zum anderen leistet das Fachpersonal wichtige Infektionsprophylaxe und sensibilisiert die Besucher*innen für einen risikoarmen Konsum. „Ein Druckraum ist auch immer ein Schutzraum“, betont Katharina Schütten. „Leider ist die Situation vor Ort für viele Anwohner*innen nur schwer auszuhalten. Sie fragen immer wieder, warum unsere Einrichtung so zentral gelegen sein muss, weil sie auf der Straße nicht ständig mit Drogenabhängigen konfrontiert werden möchten.“

 

Eine Frage, die der Sozialpädagoge und Suchttherapeut Thoralf Wedig zu beantworten weiß. Als Leiter des ehemaligen Konsumraums der Drogenhilfe Köln-Mülheim hat er mit seinem Team knapp drei Jahre lang versucht, ein solches Angebot außerhalb der Innenstadt zu etablieren. Doch der Druckraum wurde von den Konsumierenden nur schleppend angenommen. „Die Einrichtung war schlichtweg zu weit von den typischen Szeneplätzen entfernt“, erklärt der 57-Jährige rückblickend. „Ist doch klar, wenn du abhängig bist und dir neuen Stoff besorgt hast, willst du ihn auch direkt konsumieren – und nicht erst auf die andere Rheinseite fahren.“ Seine Erfahrung zeigt, dass Konsumräume zentral gelegen sein müssen, um etwas bewirken zu können. Inzwischen leitet Thoralf Wedig die Substitutionsambulanz in Köln-Mülheim, wo Suchterkrankte rezeptpflichtige Ersatzdrogen wie Methadon, Polamidon oder Buprenorphin erhalten. Die Versorgung mit diesen synthetisch hergestellten Opioiden fällt auch in den Bereich der sogenannten „Harm Reduction“, die Maßnahmen und Praktiken umfasst, die darauf abzielen, die negativen Folgen des Gebrauchs von legalen und illegalen Drogen zu reduzieren. Eine Risikominderung, die Betroffene bei der Rückkehr in ein geregeltes Leben unterstützen kann – sofern sie bereit dafür sind. „Das Substitutionsprogramm eignet sich besonders für langjährige Suchterkrankte, die raus aus der Illegalität und zurück in ein konsumfreies Leben wollen“, erklärt der Suchttherapeut. „Viele Opiatabhängige betrachten die Behandlung mit rezeptpflichtigen Ersatzdrogen als Zwischenstation. Sie hoffen, so Abstand zur Drogenszene und Beschaffungskriminalität zu gewinnen. Bei einigen geht der Plan auf, andere verharren bereits seit über 20 Jahren in dieser Zwischenstation.“ Wird die Applikationsform eingehalten und das Substitutionsmittel oral bzw. sublingual eingenommen, lassen nicht nur Entzugserscheinungen auf sich warten, sondern auch die Ekstase. „Von einem Rausch können wir dabei nicht sprechen, bei Methadon und Polamidon wohl aber von einer Dämpfung“, weiß der Leiter des Suchthilfezentrums. Wahrscheinlich ist der ausbleibende Rausch einer der Hauptgründe dafür, dass sich die Drogenabhängigen aktiv für das Substitutionsprogramm entscheiden müssen. Denn während Nutzer*innen von Konsumräumen genau das tun wollen, nämlich unter sauberen Bedingungen konsumieren, wollen die meisten Substitutionspatient*innen ihre Abhängigkeit hinter sich lassen.

Im Druckraum

„Ob eine drogenabhängige Person es schafft, ihre Sucht zu überwinden, hängt von zahlreichen Faktoren ab“, erklärt Thoralf Wedig. „Jemand ohne Schulabschluss, lupenreine Polizeiakte und familiäre Unterstützung hat es deutlich schwerer als eine Person, bei der all das gegeben ist. Und trotzdem gibt es keine Garantie. Bis heute will mir der Fall einer jungen Frau nicht aus dem Kopf gehen, die tief in der Opiatabhängigkeit steckte – obwohl sie aus gutem Hause in exklusiver Wohnlage kam, ein sehr gutes Abschlusszeugnis hatte und Medizin studieren wollte. Sie ist an einer Überdosis gestorben.“ Katharina Schütten erinnert sich an einen ähnlich hoffnungslosen Fall, jedoch mit Happy End: „Die Klientin blickte auf zahlreiche Traumata zurück und war bereits seit frühester Jugend stark drogenabhängig. Ich begleitete sie über fünf Jahre und aufgrund ihres risikoreichen Konsums glaubten wir alle, dass sie den Kampf gegen die Drogen verlieren würde. Doch dann fasste sie eines Tages den Entschluss, eine Therapie auf einem Bauernhof zu machen. Zwei Jahre später kam sie uns besuchen und war tatsächlich clean.“ Fälle wie dieser geben Hoffnung, doch der Alltag in Drogenhilfeeinrichtungen sieht weniger romantisch aus. Hausregeln wie Deal- und Waffenverbote kommen schließlich nicht von ungefähr. „Die Drogenszene kann sehr gewalttätig und aggressiv sein“, bestätigt Katharina Schütten. „Daher ist es wichtig, die soziale Arbeit und die des Sicherheitsdienstes voneinander zu trennen, um nicht jedes Mal wieder bei Null anfangen zu müssen, wenn man mit einer drogenabhängigen Person aneinandergeraten ist.“

Und das ist nicht der einzige Drahtseilakt, den das Fachpersonal meistern muss: Laut Betäubungsmittelgesetz stellen der Kauf und Besitz von Drogen in Deutschland eine Straftat dar – der Konsum hingegen nicht. „Jede Person, die hier hereinspaziert, hat illegale Drogen in der Tasche“, gibt die Sozialarbeiterin zu bedenken. „Würde die Polizei vor unserem Tor patrouillieren, gäbe es eine Menge Festnahmen und schon bald käme niemand mehr zum sicheren Konsumieren her.“ Ohne Kooperationen mit der Polizei und dem Ordnungsamt wäre das Konzept der Schutzräume daher zum Scheitern verurteilt. „Man darf jedoch nicht vergessen, dass sowohl die Städte als auch die Solidargemeinschaft von Konsumräumen profitieren“, hält Thoralf Wedig fest. „Dank dieser Einrichtungen reduziert sich die Zahl von Drogenabhängigen mit aktueller Konsumabsicht im öffentlichen Raum, zudem sinken die Kosten für Krankenhausaufenthalte und andere medizinische Behandlungen, die infolge des Drogenkonsums in ungeschützter Umgebung und unter unhygienischen Bedingungen entstehen.“ Dass es inzwischen auch immer mehr private Anlaufstellen für Drogenprobleme gibt, betrachtet der Suchttherapeut mit gemischten Gefühlen: „Grundsätzlich ist natürlich jede Hilfe auf dem Gebiet begrüßenswert und es gibt durchaus Privatanbieter, die einen guten Job machen. Doch der finanzielle Druck kann auch zum Problem werden – sowohl für das Personal als auch für die Suchtkranken.“ Katharina Schütten sieht das ähnlich: „Der soziale Aspekt sollte in der Drogenhilfe immer Priorität haben, da Wirtschaftlichkeit nicht über die Versorgung der Konsumierenden entscheiden darf. Außerdem genießen wir im Wohlfahrtsbereich einen entscheidenden Vorteil: Wir sind super vernetzt! Wenn ich mal nicht weiterweiß, ruf ich einfach beim Paritätischen Gesamtverband an, wo man mich direkt an jemandem mit der passenden Expertise weitervermittelt – die Kolleg*innen aus der Privatwirtschaft sind hingegen auf sich allein gestellt.“

Diana Ringelsiep

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