Sichererer feiern gehen
Man kann Berlin vieles vorwerfen. Dreck, marode Verwaltungen und gelegentliche Probleme dabei, Wahlen durchzuführen, stehen ganz oben auf der Liste der üblichen Assoziationen. Den Vorwurf, dass in Berlin nicht jede*r leben könne, wie er, sie oder they möchte, würde jedoch niemand ernsthaft erheben. Denn in Berlin kann man auch donnerstagabends mitten in Kreuzberg im berühmt-berüchtigten KitKat-Club eine Fetisch-Party besuchen. Nackt oder leicht bekleidet kann dort zu elektronischer Musik ausgiebig getanzt werden. Dass dabei auch verschiedenste Drogen konsumiert werden, ist in der Stadt und darüber hinaus ein offenes Geheimnis.
Unter anderem wegen der Drogen ist auch Basti heute Abend im KitKat-Club. Aber nicht als Konsument. Basti ist Mitarbeiter des Projektes sidekicks.berlin (vormals man*check) von der Berliner Schwulenberatung. Zu seinem Job, den der 34-jährige seit Mai diesen Jahres ausführt, gehört die Aufklärung sowohl zu HIV und sexuell übertragbaren Infektionen als auch zu Drogen direkt dort, wo Sex und Drogenkonsum stattfindet: in Clubs, Bars oder auch öffentlichen Parks.
Aber warum sind Drogen für Partys so wichtig? Basti überlegt und antwortet: „Drogen sorgen für eine gewisse Enthemmung. Gerade auf Sexpositive- und Queer-Partys wird viel konsumiert.“ Zwingend notwendig seien natürlich Drogen nicht, aber sie sind präsent. „Sonst wären wir mit unserem Safer Use-Material nicht hier.“ Wichtig für seine Arbeit ist auch, dass er den Drogenkonsum nicht verurteilt oder verteufelt. Das wird Basti im Laufe des Abends noch mehrfach betonen.
Safer Use-Material, das sind Utensilien wie saubere Spritzen, Einmalröhrchen zum Schnupfen von Kokain oder Speed, Dosierhilfen oder kleine Plastikkärtchen, um Drogen zu zerteilen. EC-Karten, die oft dafür verwendet werden, seien oft voll mit Keimen. „Wir bieten Materialien an, um sichererer zu konsumieren. Also nicht sicher. Das gibt es nicht“, erklärt Basti.
Etwas andere Arbeitszeiten hat Lars Behrends. Der Sozialpädagoge arbeitet seit 17 Jahren in der Drogenberatung beim Träger Vista. Seit einem Jahr leitet er dort den Fachbereich für niedrigschwellige und gesundheitsorientierte Hilfen. Partydrogen wie MDMA, Ecstasy oder Ketamin treten in den letzten Jahren in seiner praktischen Arbeit immer häufiger auf. Diese werden häufig von „Freizeitkonsumierenden“ genommen. Hedonist*innen aus der gesellschaftlichen Mitte, die ausschließlich am Wochenende konsumieren und ansonsten gesellschaftlich gut integriert sind.
Lars Behrends hat viel zu tun in diesen Tagen. Zum Zeitpunkt des Interviews läuft das Projekt „Drug Checking“ in Berlin an. Die Beratungsstelle Misfit, die zu Vista gehört, ist neben Fixpunkt und der Schwulenberatung eine Anlaufstelle, wenn man Drogen auf ihre Wirkung und Gefährlichkeit vor dem Konsum testen lassen möchte. „Das Interesse der Medien als auch der Konsumierenden ist riesengroß“, stellt Behrends fest. 50 Anfragen seien bereits täglich reingekommen, was für das Projekt, als auch für die potentiellen Konsument*innen spräche: „Die Bedarfe, mehr Aufschluss darüber zu erhalten, was in den Substanzen ist, ist enorm.“
Wer das Bedürfnis hat, kann nun immer dienstags in eine Sprechstunde gehen, dort eine Probe seiner erworbenen chemischen Drogen abgeben – Marihuana, biologische Stoffe wie Cannabis oder Pilze werden dort nicht getestet – und ein anonymisiertes Beratungsgespräch mit ein paar Nachfragen zu Konsum und Erwerb des abgegebenen Materials durchführen. Die chemische Analyse findet im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin in Moabit statt. Ergebnisse werden den Beratungsstellen und den Abgebenden nach circa drei Tagen wieder mitgeteilt. Was diese letztendlich mit der Information machen, obliegt ihnen selbst, so Lars Behrends: „Die Konsumentscheidung liegt immer bei den Klient*innen, aber durch unsere Hinweise haben wir einen Einfluss darauf, dass die Konsumentscheidung vernünftiger getroffen wird. Und dann kann es sein, dass wir die Rückmeldung geben, erst einmal mit einer viertel Pille anzufangen, wenn diese sehr hoch dosiert ist.“ Und tatsächlich hätten Klient*innen vom Konsum einer Substanz bereits Abstand genommen, in der nicht das drin war, als was sie erworben wurde, weiß Lars Behrends zu berichten.
Wer im KitKat-Club an diesem Donnerstagabend babylonische Zustände erhofft oder befürchtet, wird zunächst enttäuscht oder erleichtert sein. Aber 22 Uhr ist für Berliner Partyverhältnisse fast noch Nachmittag und noch ist es leer. Als das sidekicks.berlin-Team den Ort des Geschehens betritt, unterscheidet sich die sexpositive Party zunächst kaum von anderen Partys – abgesehen vielleicht vom Outfit der ersten Besucher*innen und des Teams. „Sex-Positive Partys“, also Partys, bei denen Menschen auch ganz offen Sex haben können, sind seit einigen Jahren nichts mehr für eine kleine abgeschottete Community. Längst berichten große Medien mal mehr, mal weniger sensationsheischend über einschlägige Partys mit Namen wie GEGEN oder Pornceptual in Berlin.
Hier in den Gewölben des weitläufigen Clubs dominiert knappe Kleidung aus Latex oder Leder, fast immer in schwarz. „Hello, we are from sidekicks.berlin“ begrüßt Basti die Frau an der Kasse. Die Amtssprache ist Englisch, die Begrüßung herzlich. Der Veranstalter umarmt Basti, vergibt Coupons für Gratisgetränke und führt sie zu einem bereits aufgebauten Tisch, auf dem sidekicks.berlin sein Material präsentieren darf.
Inzwischen dazu gekommen ist auch Markus. Der 31-Jährige arbeitet seit einigen Monaten als Freiwilliger bei sidekicks.berlin. „Ich habe einen Vollzeitjob und möchte gern noch etwas der Gesellschaft zurückgeben“, erklärt er auf die Nachfrage, warum er sich unentgeltlich die Nacht um die Ohren schlägt, um Sniffröllchen oder Kondome auszugeben. Markus arbeite viel am PC und möchte gern weg vom Bildschirm. Hier finde er einen sinnvollen Ausgleich. „Es soll etwas sein, mit dem ich die queere Community unterstützen kann“, erklärt er seine Motivation.
Schnell ist der Stand umringt von Besucher*innen jeglichen Alters und Geschlechts. Auf der einen Hälfte liegen Materialien für sicheren Sex, auf der anderen eben welche zum sicheren Drogengebrauch. Eine Schale mit Süßigkeiten ist ebenso zu finden wie ein leuchtendes Schild mit den Lettern „For Free.“
Die Beratung am Stand erfolgt nur nach spezifischen Fragen, betont Basti. „Wer nach Kondomen fragt, bekommt von uns kein Safer Use-Pack angedreht.“ Maximal mit Nachfragen würde das Gespräch geleitet, etwa wenn das Gefühl besteht, dass die Person gerade ein Problem mit ihrem Drogenkonsum hat. Markus ergänzt: „Manchmal wollen die Leute auch nur erzählen, was sie gerade bewegt.“ Das passiert auch an diesem Abend. Ein Amerikaner um die 30, hauptsächlich mit Fellen bekleidet, erzählt von seinem derzeitigen Besuch in Europa und wie sehr ihm Berlin gefällt. Drogen oder Sex kommen nur ganz am Rande im Gespräch vor. Der junge Mann ist einfach mitteilungsbedürftig. Manche nehmen sich auch ohne Gespräch ein Kondom, andere stellen Nachfragen nach neuen Drogen und deren Gefahren. Im Schnitt, so schätzt Basti, tätigen sie auf einer Party zwischen 45 und 60 Beratungen, was aber nur eine grobe Schätzung sei.
Seit das Drug Checking-Programm läuft, werden sie auch immer wieder nach Schnelltests vor Ort gefragt, die bereits in anderen Ländern, dort wo Drogen konsumiert würden, üblich sind. Diese müssen sie enttäuschen: „Wir müssen die Leute tatsächlich vertrösten, die Hoffnung haben, dass wir hier am Stand was checken würden“, sagt Markus.
Mobiles Drug Checking würde Lars Behrends auch befürworten: „Perspektivisch wäre es auch sinnvoll, wenn auf Festivals und auf Partys getestet werden könnte, um niedrigschwellig die Zielgruppe zu erreichen.“ Nicht alle können oder möchten drei Tage warten, bis sie das Ergebnis bekommen. Basti ist hingegen skeptischer: Schnelltests seien nicht so sicher wie Labortests. Die Klient*innen könnten in trügerischer Sicherheit gewogen werden.
Die Idee des Drug Checkings ist nicht neu. Bereits in den Neunziger Jahren gab es erste Anläufe durch den Verein Eve & Rave, die jedoch noch juristisch gestoppt wurden. Suchtberatungen plädieren schon lange für die Testmöglichkeiten. Dass die damalige Rot-Grün-Rote Berliner Landesregierung 2016 das Thema in den Koalitionsvertrag schrieb, zeigt auch eine Verschiebung in der Wahrnehmung und im Umgang mit Drogen in Politik und Gesellschaft. Lars Behrends: „Galt früher das Abstinenzdogma des Drogenverzichts, geht es jetzt darum, den Leuten ausdifferenzierte Hilfen anzubieten, die gute Chancen auf Wirksamkeit haben.“ Weitere Projekte gäbe es in Thüringen und Hessen bereits und einen Tag nach unserem Interview sprach sich Gesundheitsminister Lauterbach für ein bundesweites Drug Checking aus.
Doch an einigem hakt es auch noch. Ausgerechnet in Drogenkonsumräumen dürfen Drogen nicht getestet werden. Lars Behrends hofft hier auf Nachbesserungen. Einigen Gegenwind aus der Politik gab es auch. „Hier wird der Missbrauch illegaler und sehr gefährlicher Substanzen normalisiert“, hieß es 2019 aus der Berliner Opposition. Die Stadt drohe zum Mekka der Dealer und Junkies zu werden, eine konsequente Anti-Drogen-Politik statt der Kapitulation der Verhältnisse sei notwendig. Zitatgeber ist ein gewisser Kai Wegner, seit einigen Monaten regierender Bürgermeister von Berlin, unter dessen neuer Regierung das Drug Checking nun begann. Was bedeutet es für das Projekt, wenn es von einer Regierungspartei umgesetzt werden müsse, die dieses zuvor noch vehement ablehnte? Lars Behrends sieht es pragmatisch: „Das heißt, dass Menschen lernfähig sind und sich von der Faktenlage überzeugen lassen können, dass es ein gutes Projekt ist“. Die praktischen Erfahrungen sprächen dafür.
Wie aktuell das Thema ist, wurde unmittelbar vor Redaktionsschluss zu diesem Artikel noch einmal deutlich: Eine 13-jährige aus Altentreptow in Meckenburg-Vorpommern bezahlte den Konsum der Ecstasy-Pille "Blue Punisher" mit ihrem Leben. Eine Aufnahme dieser hochdosierten Pille fanden sich umgehend auf Homepage von Drug Checking Berlin. In Berichten über den tragischen Todesfall wurde auf die Möglichkeit des Drogentests immer wieder verwiesen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es so ein Programm bisher nicht. Der Tod in Altentreptow lies sich nicht verhindern. Aber wahrscheinlich viele weitere in Zukunft.
Philipp Meinert