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Ausgabe 04 | 2022: Wohlfahrt Kreativ

Kunst verlängert das Leben – aber bitte für alle

Kultur Mittendrin – Ein Projekt schafft kulturelle Teilhabe in Wiesbaden

Im Jahr 2019 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO eine groß angelegte Metastudie, aus der eindeutig hervorgeht, dass jegliche Beschäftigung mit Kunst und Kultur, sei es aktiv oder passiv, die Lebenserwartung von Menschen erhöhen kann. Der Studie zufolge senkt regelmäßiger Kunstgenuss die Sterblichkeit bei älteren Menschen um bis zu 31 Prozent. Erklärbar ist dieser Effekt, wie die Forscher*innen im „British Medical Journal[1]“ beschreiben, mit Bewegung, geistiger Anregung und sozialen Kontakten, die mit solchen Aktivitäten verbunden sind.

Doch häufig ist der Besuch von kulturellen Veranstaltungen auch teuer und mit sozialen Unsicherheiten in ungewohnter Umgebung verbunden. Für Menschen, die von Armut betroffen sind, sind Theaterbesuche Luxus und Konzerte mit großen Stars ein weit entfernter Traum.

Als Heike Lange, Regionalgeschäftsführerin des Paritätischen Hessen in Wiesbaden, und Vertreter*innen der Mitgliedsorganisationen das Projekt Kultur Mittendrin 2011 konzipierten und ins Leben riefen, war die Studie zu den gesundheitlichen Vorteilen kultureller Teilhabe zwar noch nicht bekannt, aber die große Armut in Wiesbaden längst erschreckend präsent. „Jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht und lebt in prekären Verhältnissen“, beschreibt Lange die Verhältnisse in der hessischen Landeshauptstadt.

Wiesbaden ist eine geteilte Stadt. Wie in kaum einer anderen deutschen Metropole prallen hier Armut und Reichtum sichtbar aufeinander, oft nur durch eine einzige Straße getrennt. Man ist hier sehr stolz auf seine Maifestspiele, das Landesmuseum und die lebendige freie Kunstszene. Das Publikum, dass die Zuschauerräume zuverlässig füllt, rekrutiert sich meist aus den wohlhabenden und kulturinteressierten Bürgern, denen ein Besuch bei einer Gala auch mal 200 Euro und mehr wert ist.

In den ersten Jahren des Projektes ging es deshalb vor allem darum, Menschen mit geringem Einkommen zwei Monate lang Einblicke in die reiche Kultur der Stadt zu gewähren. Die Veranstalter stellten Karten zur Verfügung und das Projekt Kultur Mittendrin vermittelte. Über die Jahre stieg die Nachfrage und der Bedarf wurde unübersehbar. Grund genug also, das Projekt zu verstetigen und das ganze Jahr über Angebote zu machen. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Kulturszene, der Landeshauptstadt und Geschäftsführer*innen der Mitgliedsorganisationen des Paritätischen hat Kultur Mittendrin einen Workshop zur kulturellen Teilhabe durchgeführt, der über die Grenzen Wiesbadens hinaus Beachtung gefunden hat und Grundlage für ein breites Netzwerk ist. Mit Unterstützung des Kulturamtes Wiesbaden gelang es 2020 endgültig, ganzjährig an dem Projekt zu arbeiten. Kultur Mittendrin bietet seither Freikarten für Kulturveranstaltungen aller Art in der Landeshauptstadt an. Trotz der unvermeidlichen Ausbremsung durch die Pandemie hat Kultur Mittendrin schon einige hundert Freikarten vermittelt. Hinter jeder dieser Karte steckt eine persönliche Geschichte und häufig auch eine große Dankbarkeit für die Chance, wieder einmal teilhaben zu können an Konzerten, Theateraufführungen oder Kinofilmen.

„Danke, ich hatte einen Abend voller Freude.“, „Meine Tochter möchte nur noch ins Theater!“ und „Vielen Dank. Das könnte ich jeden Abend machen.“ Das sind nur einige wenige Rückmeldung, von Menschen, die häufig seit Jahren in keinem Zuschauerraum mehr saßen.

Kulturelle Teilhabe bedeutet aber nicht nur Kulturbesuche zu ermögliche, viel mehr soll jeder dieser Besuche auch Verbindungen knüpfen, Kommunikation ermöglichen und Begegnungen schaffen. Deshalb bietet Kultur Mittendrin auch einen Begleitservice an. Kulturpat*innen begleiten ältere und behinderte Menschen zu Veranstaltungen und reflektieren und diskutieren gemeinsam das Gesehene. Wenn es die finanziellen Mittel erlauben, wird das Projekt in Zukunft auch gemeinsam mit Wiesbadener Künstlern eigene Veranstaltungen durchführen. Hier soll der partizipative Gedanke im Vordergrund stehen. Denn nicht nur das Zuschauen ist wichtig und unter Umständen sogar lebensverlängernd, sondern es ist vor allem auch das Entdecken des eigenen kreativen Potentials und die pure künstlerische Aktivität, die sinnstiftend auf Menschen wirkt.

Die Beteiligung aller Menschen an Kultur, sei es als Zuschauer oder als Akteur, fördert die allgemeine gesellschaftliche Teilhabe, das demokratische Grundverständnis und ist ein starkes Zeichen gegen Armut und Ausgrenzung.

Stefan Schletter ist Theaterregisseur und Kulturmanager. Gemeinsam mit der Regionalgeschäftsführerin, Heike Lange, koordiniert er seit 2019 das Projekt KULTUR MITTENDRIN in Wiesbaden.

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