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Ausgabe 05 | 2022: Selbsthilfe
Schwerpunkt
Aus dem Hörsaal

Selbsthilfe aus wissenschaftlicher Sicht

Selbstverständlich beschäftigt sich auch die Wissenschaft mit der Selbsthilfe. Dr. Christopher Kofahl vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gibt uns einen Überblick über den Stand der Forschung.

Die gemeinschaftliche Selbsthilfe, insbesondere die gesundheitsbezogene, kann aus heutiger Sicht als etabliert und als feste Größe im Gesundheitssystem bewertet werden. Dies war nicht immer so. Klammert man einmal das seit über hundert Jahren bestehende fürsorgliche Engagement von ehrenamtlichen gesundheitsbezogenen Vereinigungen wie beispielsweise dem Heufieberbund (heute: Deutscher Allergie- und Asthmabund) oder den Abstinenzvereinen wie Guttempler, Blaukreuz und Kreuzbund aus, traten die schon in der Nachkriegszeit existierenden Selbsthilfegruppen erst ab Ende der 1970er Jahre aus ihrem Nischen- und Schattendasein heraus. Die Zahl der Selbsthilfegruppen und der in der Selbsthilfe aktiven Menschen stieg dann bis in die 1990er Jahre rasant an und steht nun seit über 20 Jahren auf relativ gleichbleibendem Niveau von ca. 100.000 Gruppen und 3 bis 3,5 Millionen Selbsthilfeaktiven.

Selbsthilfe und Selbsthilfeforschung

Ein wesentliches Motiv vieler damaliger Gruppengründungen war die Unzufriedenheit mit der medizinischen Versorgung und insbesondere mit den Einstellungen und dem Verhalten der Ärzteschaft. Gleichzeitig waren es aber auch sozialmedizinisch orientierte Ärztinnen und Ärzte sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich dem Themenfeld der Selbsthilfe annahmen und das Phänomen „Selbsthilfe“ wissenschaftlich beleuchteten. Gemeinsam mit Selbsthilfeaktiven trieben sie die gemeinschaftliche Selbsthilfe im Rahmen partizipativer Forschung (bzw. Aktionsforschung) voran. Wesentlichen Anteil auf wissenschaftlicher Seite hatten hier der Arzt, Psychoanalytiker und Gießener Professor für Psychohygiene Michael Lukas Moeller sowie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – u. a. Bernhard Badura, Christian von Ferber und Alf Trojan – des Forschungsverbundes „Laienpotenzial, Patientenaktivierung und gesundheitsbezogene Selbsthilfe“ (1979-1983, gefördert durch das damalige BMFT). Hier wurde das erste Mal die Bedeutung der in dem Verbundnamen genannten Themen und Konzepte in größerem Umfang sichtbar gemacht. Ein für die Selbsthilfebewegung wesentliches Ergebnis aus diesen Aktivitäten war die Entwicklung und Gründung der Selbsthilfekontaktstellen, der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. sowie der NAKOS, welche wiederum ebenfalls die Gründung von Selbsthilfegruppen beflügelten.

Selbsthilfeforschung hat demnach – wenn diese Schlussfolgerung erlaubt ist – einen erheblichen Anteil an der (Weiter-)Entwicklung der Selbsthilfe. Obgleich die (wenigen) Selbsthilfeforschenden gute und langwährende Beziehungen mit den Institutionen der Selbsthilfe und der Selbsthilfeunterstützung pflegen, ist das Verhältnis nicht immer ganz spannungsfrei. Ein Konfliktpunkt betrifft die Frage, ob sich Selbsthilfe überhaupt „wissenschaftlich beweisen“ und legitimieren muss. In der Logik der ehrenamtlichen Selbsthilfe gibt es hierzu im Grunde keinen Anlass, da die hier Aktiven frei und demokratisch selbst bestimmen, wie sie sich organisieren und welche Themen sie für sich aufgreifen. In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, welche Themen, Inhalte, Indikatoren oder gar Wirkungen bzw. „Outcomes“ mit welchem Zweck untersucht werden sollen. Und letztlich ist die Frage, wer dies definiert und festlegt, auch eine Frage der Definitionshoheit.

Die gesundheitsbezogene Selbsthilfe erhält Zuwendungen aus verschiedenen Quellen, von denen die gesetzliche Krankenversicherung die größte ist. Da hier per Gesetz (SGB V § 20h) Versichertenbeiträge in Höhe von derzeit ca. 85 Millionen Euro zum Einsatz kommen, ist die Frage, ob diese Mittel zweckgerichtet und begründet sind, nicht ganz unberechtigt. Die vom Bundesministerium für Gesundheit von November 2012 bis Juni 2018 geförderte SHILD-Studie hatte in der Tat auch das Ziel, die Wirkungen der Selbsthilfe zu untersuchen. SHILD war mit einer Beteiligung von über 5.000 Personen zu verschiedenen Fragestellungen in verschiedenen Teilprojekten die sicherlich größte Selbsthilfestudie seit den 1980er Jahren. Die Teilnehmenden stammten aus allen Bereichen und Ebenen der Selbsthilfe und der Selbsthilfeunterstützung sowie selbsthilfenaher Institutionen. Im Ergebnis können die im Folgenden dargestellten positiven Wirkungen der Selbsthilfe als erwiesen gelten.

Dr. Christopher Kofahl

Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Selbsthilfeforschung

In den Anfängen der Selbsthilfeforschung richtete sich das Interesse noch auf das Phänomen der Selbsthilfegruppen und der aktiven Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen überhaupt. Was sind die Motive? Wer geht in Selbsthilfegruppen, wer nicht? Wie organisiert sich die Selbsthilfe? Wie funktioniert die Selbsthilfe? Welche Unterstützung und gesellschaftliche Einbettung benötigt sie? Diese Fragen sind gut untersucht und beantwortet. Unter dem Strich lässt sich als ein zentrales Ergebnis festhalten, dass die selbsthilfeaktiven Patientinnen und Patienten das Thema „Patientenorientierung“ in der gesundheitlichen Versorgung erheblich nach vorne gebracht und die Versorgungseinrichtungen für die Patientenperspektive sensibilisiert haben. Natürlich besteht auch weiterhin Verbesserungsbedarf, insbesondere in der Verankerung der dafür notwendigen systematischen Kooperation zwischen Selbsthilfe und Versorgung, z. B. durch die Etablierung des Konzepts der Selbsthilfefreundlichkeit. Zumindest in den onkologischen Behandlungszentren sind die Selbsthilfefreundlichkeitskriterien laut einer jüngsten Befragung von 266 Leiterinnen und Leitern von Krebs-Selbsthilfegruppen bereits in einem relativ hohen Maß umgesetzt.

Mit der allmählichen Etablierung und Anerkennung der Selbsthilfe ab Mitte der 1990er/Anfang der 2000er Jahre – man denke nur an die vielen Gesetzesänderungen zur Förderung der Selbsthilfe und zur Patientenbeteiligung – entstanden neue Themen und Fragestellungen. So lässt sich zum einen feststellen, dass sich die organisierte Selbsthilfe erheblich professionalisiert hat. Viele Selbsthilfeorganisationen haben Organisationsentwicklungsprozesse durchlaufen, ihre Öffentlichkeitsarbeit modernisiert, sich erfolgreich den Herausforderungen der Digitalisierung angenommen, Schulungs- und Trainingskonzepte für Selbsthilfegruppen entwickelt, sich zunehmend mehr als Patientinnen- und Patientenvertretung in gesundheitspolitischen Gremien engagiert und sich an Forschung nicht nur beteiligt, sondern in vielen Fällen sogar selbst initiiert.

Gesundheitspolitik und Gesundheitsforschung ohne Einbindung der Betroffenen – das geht heute nicht mehr. Das bedeutet aber auch, dass die Erwartungen und Anforderungen an die Selbsthilfe erheblich gestiegen sind. Somit ist Patientenbeteiligung zurzeit ein großes Thema in der Selbsthilfe. Es wirft die Frage nach deren Ermöglichung und ihren Rahmenbedingungen auf, denn diejenigen, die sich ihr ehrenamtliches Engagement in der Selbsthilfe leisten können, kommen nicht selten an ihre Grenzen und benötigen selbst Unterstützung, ggf. auch eine wirtschaftliche Kompensation. Auch dies sind belastbare Ergebnisse der Selbsthilfeforschung.

Die wissenschaftliche Evidenz zeigt positive Wirkungen der Selbsthilfe in der Gesundheitskompetenz, insbesondere im krankheitsbezogenen Wissen, und im Selbstmanagement. Die „Effekte“ sind im Vergleich mit Betroffenen ohne Selbsthilfeaktivität nicht riesig, aber messbar vorhanden. Damals wie heute stehen die soziale Teilhabe und die gegenseitige Entlastung im Vordergrund und werden studienübergreifend als größter Benefit erlebt. Auch die Peer-Beratung, die zahlreiche Selbsthilfegruppen anbieten, erfährt hohe Akzeptanz und steigert das Empowerment der Betroffenen. Eine aktuelle Studie mit Eltern pflegebedürftiger Kinder zeigt, dass diese die (ehrenamtliche!) Peer-Beratung hilfreicher empfinden als alle anderen (professionellen!) Beratungsangebote.

Es ließen sich weitere Beispiele zur individuellen bis gesellschaftlichen Bedeutung der Selbsthilfe nennen, doch zusammenfassend lässt sich sagen: Die Entwicklungen und Wirkungen der Selbsthilfe sind in ihrer Summe vielfältig, heterogen und in vielen Fällen sehr individuell.

Christopher Kofahl ist promovierter Psychologe und stellvertretender Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

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