Selbsthilfe im Paritätischen: Eine Zeitreise
Bereits in den 1960er Jahren beginnt im Paritätischen eine innerverbandliche Diskussion, die sich um die neu entstehenden Gruppen, wie zum Beispiel die Elterninitiativen von behinderten Kindern, dreht. Auch weil es in den “Grundsätzen über die Mitgliedschaft” des Paritätischen von 1957 ausdrücklich heißt, dass “[...] keine Selbsthilfe-Organisationen und Interessenverbände Aufnahme finden” können. Der spätere Hauptgeschäftsführer Klaus Dörrie verweist deshalb 1964 auf die Notwendigkeit, Begrifflichkeiten wie “Selbsthilfeorganisation”, “Interessenverband” und “Wohlfahrtsorganisation” nicht nur neu voneinander abzugrenzen, sondern auch zeitgemäß zu definieren und zu interpretieren. Erst dieser Diskussions- und Entwicklungsprozess innerhalb des Verbands ermöglicht die Aufnahme vieler Selbsthilfeinitiativen und Organisationen.
In den 1970er und 1980er Jahren entstehen zahlreiche Selbsthilfegruppen, für deren Beteiligte neben Solidarität und gegenseitiger Unterstützung auch gesellschaftspolitische Anliegen, darunter eine Reform des Gesundheitssystems, eine bedeutende Rolle spielen.
Diese bereits seit Ende der 1960er Jahre aufkommenden kritischen-emanzipatorischen Anliegen und die von vielen Patient*innen wahrgenommene “Arroganz und Ignoranz der Ärzteschaft” führen bei einigen Ärzt*innen zu einer grundlegend ablehnenden Haltung gegenüber der neuen Selbsthilfebewegung und ihren Anliegen. Gleichzeitig sind einzelne Ärzt*innen auch Unterstützer*innen und befürworten die Forderungen der Selbsthilfegruppen und Organisationen als reformorientierte Gegenpole zum professionellen Versorgungs- bzw. Gesundheitssystem.
Aus der Selbstorganisation von Betroffenen im Gesundheitsbereich entstehen in den 1970er Jahren viele Selbsthilfegruppen und Initiativen. 1972 wird beispielsweise die “Deutsche ILCO e.V.” gegründet, nur fünf Jahre später ist der Verein Mitglied im Paritätischen. Zu den zentralen Persönlichkeiten der ILCO zählt zu dieser Zeit der spätere stellvertretende Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands Gerhard Englert.
Die Selbsthilfebewegung entwickelt sich im folgenden Jahrzehnt dynamisch und umfasst. 1985 in der Bundesrepublik bereits 25.000 Gruppen mit rund einer Million Mitglieder.
Bereits Ende der 1970er Jahre werden erste Forschungsprojekte im Kontext der Selbsthilfe ins Leben gerufen. Im Zusammenhang mit der “Aktionsforschung” der 1980er Jahre, entstehen die ersten Selbsthilfekontaktstellen. Mitte des Jahrzehnts beginnt die Bundespolitik, sich aktiv mit der Selbsthilfebewegung auseinanderzusetzen. Das Bundesministerium für Gesundheit schreibt einen Modellversuch aus, in dem das Konzept der Kontaktstellen genauer erforscht werden soll. 1983 eröffnet schließlich die erste Berliner Selbsthilfe-Kontakt- und Informationsstelle (sekis) unter Trägerschaft des Paritätischen Gesamtverbands, 1984 wird die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) als bundesweite Aufklärungs-, Service- und Netzwerkeinrichtung mit Sitz in Berlin gegründet.
Bedeutend für die weitere Verankerung der (gesundheitsbezogenen) Selbsthilfe im Paritätischen ist die Gründung des “FORUMS chronisch kranker und behinderter Menschen im Paritätischen” im Jahr 1986 mit zunächst 38 Selbsthilfeorganisationen, dessen Entstehung u.a. auf das Wirken von Gerhard Englert zurückgeht. Als übergreifender organisatorischer Zusammenschluss von Mitgliedsverbänden des Paritätischen Gesamtverbands bündelt das FORUM bis heute die Interessen der Mitglieder und vertritt die Position der von chronischen Erkrankungen und Behinderung betroffenen Menschen gegenüber Politik, öffentlicher Verwaltung und den gesetzlichen Krankenkassen.
Der Paritätische versteht sich nun als “Verband von Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen” und kommuniziert dies auch als Teil der Verbandsidentität selbstbewusst nach außen.
Die Wirksamkeit der Selbsthilfe und die wachsende Zahl an, in der Regel ehrenamtlich tätigen, Selbsthilfeaktiven führt in den 1990ern zu politischen Debatten, in denen eine verlässliche öffentliche Förderung der Selbsthilfe diskutiert und eingefordert wird. Bei der Etablierung einer institutionellen Patient*innenbeteiligung in den 2000er Jahren hat das “FORUM chronisch kranker und behinderter Menschen im Paritätischen” eine wichtige Funktion, gerade in Bezug auf den Austausch mit den Krankenkassen und bei der Etablierung von Organisationen der institutionellen Vertretung. Eine bedeutende Wegmarke ist in diesem Zusammenhang, dass die finanzielle Förderung der gesundheitlichen Selbsthilfe, einst nur Kann- beziehungsweise Soll-Leistung der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Verbände, zur Pflicht wird. Seit dem Jahr 2000 ist sie rechtlich im Sozialgesetzbuch V verankert. Auch die Patient*innenrechte werden 2013 mit dem Patientenrechtegesetz gesetzlich gestärkt.
Der Paritätische Gesamtverband ist heute einer der vier anerkannten Dachorganisationen der Selbsthilfe auf Bundesebene. Die 15 Paritätischen Landesverbände und ihre Mitgliedsorganisationen sind zudem Träger von 130 der 300 Selbsthilfe- und Unterstützungsstellen in Deutschland, die Beratung und Unterstützung für Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen anbieten.
Stefanie Köhler