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Ausgabe 01 | 2022: GemEinsamkeit
Schwerpunkt
Silbernetz/Schärf

Einfach mal wieder telefonieren

Jeder fünfte ältere Mensch in Deutschland fühlt sich einsam. Angesichts des hohen Anteils Älterer in unserer Gesellschaft kann man von einem Massenphänomen sprechen. Und wer einmal einsam ist, findet auch schwer wieder heraus. Zum Glück gibt es niedrigschwellige telefonische Angebote wie das Silbernetz und das Geschichtentelefon.

Wer in der Hauptstadt wohnt, weiß, dass es mindestens zwei Berlins gibt: Das vermeintlich hippe, lebendige und überfüllte innerhalb des S-Bahn-Rings und das gesetzte, bürgerliche und etwas abgehängte auf der anderen Seite der Schienen. Mag das auch eine grobe Vereinfachung aus den Reiseführern sein, ist es dennoch passend, dass der Verein Silbernetz etwas „außerhalb“ residiert. Denn Silbernetz bietet telefonische Hilfe für diejenigen, die nicht im Zentrum stehen und deshalb oft von Einsamkeit betroffen sind: Ältere Menschen.

Hier in der Wollankstraße in Berlin-Gesundbrunnen empfängt mich Elke Schilling, die “an allem Schuld” sei, wie sie lächelnd sagt. Die energische Dame mit den kurzen grauen Haaren gründete das Silbernetz 2014, weil sie unzufrieden mit den Hilfsangeboten für ältere, einsame Menschen war.

Der Anlass der Gründung von Silbernetz war ein trauriger, von dem sie berichtet. Im Frühjahr 2013 bemerkte sie, dass der Flyer einer Pizzeria wochenlang an der Tür ihres Nachbarn hing. Der ältere Herr lehnte zuvor gemachte Hilfsangebote durch Frau Schilling ab. Die Polizei teilte ihr lediglich mit, dass sie die Kosten tragen müsste, wenn die Wohnung aufgebrochen werde und der Nachbar vielleicht nur länger verreist sei. Doch Frau Schillings Vermutung sollte sich bewahrheiten: “Dann kamen die Fliegen und die Speckkäfer in meine Wohnung. Und dann wurde er dort in einem sehr unschönen Zustand gefunden.” Elke Schillings Nachbar ist einer von den durchschnittlich 300 vergessenen Toten, die es jährlich in jeder deutschen Großstadt gibt.

Wolfgang Schmidt
Elke Schilling

Die ehemalige Staatssekretärin für Frauenpolitik des Landes Sachsen-Anhalt suchte daraufhin nach Angeboten für vereinsamte, ältere Menschen. Fündig wurde sie in Deutschland kaum, jedoch in Großbritannien stieß Schilling auf die Silverline, einen Telefondienst, bei dem alte Leute einfach anrufen können, wenn sie einsam sind. Dieser ist eine Erfolgsgeschichte: Schon nach einem Jahr hatte das Angebot 300.000 Anrufe auf der Insel. Nach einem Besuch bei den englischen Initiator*innen übernahm sie mit acht Verbündeten das Konzept für Deutschland.

Silbernetz funktioniert seit 2018 dreigleisig: Es gibt ein Callcenter, besetzt unter anderem mit schwerbehinderten Menschen, ehemaligen Langzeitsarbeitslosen und Ehrenamtlichen, bei dem die älteren Menschen einfach anrufen können. Dann gibt es Freiwillige, die “Silbernetzfreund*innen”, die einmal in der Woche bei “ihrem” älteren Menschen anrufen. “Für manche sind wir Familie. Wir sind die Einzigen, die ihnen zuhören. Die rufen uns als allererstes Morgens an und erzählen von ihrem Frühstück und wollen drei nette Worte, um in den Tag zu kommen.” Thematisch sei alles dabei, denn immerhin seien alte Leute genauso vielfältig wie andere Menschen.

Ein paar 100 Kilometer westlich liegt Hamm: Die Stadt am Rande des Ruhrgebiets ist keine Metropole wie Berlin, aber auch alles andere als klein. Und hier gibt es nicht nur den größten Glaselefanten der Welt, sondern auch einsame ältere Menschen. Aber auch für die gibt es in Hamm ein Angebot: Das Geschichtentelefon. Hier kann man anrufen und sich Geschichten anhören.

Christiane Mitlewski hatte gemeinsam mit ihren Kolleginnen in der altengerechten Quartiersentwicklung dazu die Idee. Im Auftrag der Stadt Hamm setzen sie das Handlungskonzept "Älterwerden in Hamm. Lebenswert. Selbstbestimmt. Mittendrin." um. Ziel ist es, älter werdenden Menschen ein möglichst langes Leben im gewohnten Umfeld zu ermöglichen und dabei Vereinsamung zu vermeiden. Während sie die Betreuung für ältere Menschen, wie die Hilfe zum Einkauf, organisierte, fand sie heraus, wie viele ihrer Klient*innen sehr einsam sind. Die Corona-Situation verschlimmerte die Lage dramatisch. Nun musste daher ein Angebot geschaffen werden: “Da haben meine Kollegin und ich überlegt, was man anbieten könnte, was keinen direkten Kontakt erfordert aber auch jederzeit zugänglich ist, auch wenn man keinen Computer hat. Da fiel schnell der Gedanke auf das Telefon. Das hat ja jeder zuhause.”, so Frau Mitlewski über die Anfänge.

Christiane Mitlewski

Von vornherein war klar: “Wir müssen etwas anbieten, was gute Laune und Freude macht, auch mal rührt, aber was prinzipiell gut tut.” Daraus entstand die Idee, ein Telefon anzubieten, wo man sich Beiträge von Bürger*innen aus Hamm anhören kann. Neben Geschichten finden sich Gedichte und Lieder auf dem Band, ein Herr sammelte sogar alte Polizeigeschichten aus Hamm und sprach sie für das Geschichtentelefon auf.

Im Prinzip ist auf dem Band fast alles willkommen, was gute Laune macht. Aufpassen müssen die Initiator*innen nur, dass keine Urheberrechte verletzt werden. Selbst das kann aber zu schönen Erlebnissen führen. Als jemand eine Geschichte des TV-Arztes Eckhard von Hirschhausen aufsprach, fragte man vorsichtshalber beim Management nach. Es gab Entwarnung: “Herr von Hirschhausen hat es sogar ausdrücklich begrüßt und sich gefreut”, freut sich Frau Mitlewski.

App-Info

Vernetzung für Senior*innen

Als Senior*in per App Gleichaltrige treffen und in den Austausch treten? Bisher hat sich kein eigener Online-Dienst im größeren Maßstab etabliert. Allerdings gibt es eine Reihe von lokalen Angeboten sowie einige StartUp-Unternehmen, die diese Lücke ausfüllen möchten. Hervorgehoben sei hier die App „Oll Inklusiv“, ein Forum rund um positives Altern. Geschaffen und gepflegt wird sie von einer gemeinnützigen Hamburger Initiative. Dementsprechend finden sich in dem Forum besonders viele Angebote aus Hamburg, offen ist der Dienst aber für alle, die sich angesprochen fühlen: https://www.oll-inklusiv.de/die-oll-inklusiv-app.

Das zögerliche Wachstum solcher Angebote könnte auch an den Zugangshürden liegen, die gerade älteren Menschen das neugierige Ausprobieren der neuen Technologien erschwert. Hier setzen Angebote wie https://www.digital-kompass.de/, https://www.silver-tipps.de oder https://www.wegeausdereinsamkeit.de/ an und vermitteln zielgruppengerechtes IT-Wissen. Die App „Starthilfe – digital dabei“ hilft Älteren, ihr Smartphone besser kennenzulernen: https://www.bf-medienbildung.de/starthilfe-app/.

Kay Schulze ist Referent beim Paritätischen Projekt #GleichImNetz. Das Projekt will unsere Mitglieder stark im Netz machen, unter anderem mit dem Webzeugkoffer.

Angebote wie Silbernetz und das Geschichtentelefon füllen eine Lücke: Es gibt in großen Städten – derzeitige Probleme wie Corona mal ausgeblendet – viele Angebote für Senior*innen. Doch gerade für viele Alleinstehende ist es eine Überwindung, allein zum nachmittäglichen Kaffeeklatsch im Begegnungszentrum zu gehen. Wer nicht selbst aktiv wird oder werden kann und weder Freunde noch Verwandte hat, die einem den nötigen Anstoß geben, ist schnell raus. Und manche fühlen sich gar nicht so wohl unter ausschließlich Alten, weiß Frau Schilling vom Silbernetz: “Eine 90-jährige Dame meinte zu mir, sie gehe nicht ins Seniorenzentrum. Da seien doch nur alte Leute, die über Krankheiten reden.”

Im Berliner Büro hat es geklingelt. Vereinsmitglied Eveline Harder kommt herein. Sie ist aktive Silbernetzfreundin und mit ihren 80 Jahren sehr aktiv. Doch inzwischen spürte die 2003 verrentete Direktionsassistentin einer großen Bank das Alleinsein immer mehr. Seit 2015 sei sie zunehmend einsamer geworden: “Um mich herum stirbt alles weg.” Sie sei in den letzten drei Jahren auf 16 Beerdigungen gewesen. Zuletzt verstarb ihr Bruder an Corona.

Auch sie kennt Einsamkeit. Einen Schlüsselmoment hätte sie Heiligabend 2016 gehabt, als sie zu einem Weihnachtskinoprogramm in Friedrichshain gegangen wäre: “Ich kam dort an und merkte, dass alle in Gruppen dort waren. Alle überreichten sich Geschenke und ich fühlte mich plötzlich ganz einsam in der Menge. Das war furchtbar und nach dem zweiten Film bin ich heulend gegangen.” Im Jahr darauf lud sie eine Freundin zum Essen ein, die kurzfristig absagte. Frau Harder wurde daraufhin selbst aktiv und wendete sich Anfang 2018 an Frau Schilling, die gerade das Silbernetz aufbaute. So wurde Frau Harder Freiwillige der ersten Stunde.

Anna Moll
Eveline Harder

Wie alle Freiwilligen musste sie eine Schulung durchlaufen: “Da saß ich hier vor zwei Bildschirmen und dachte mir: Ich alte Kuh fange jetzt gleich mit zwei Bildschirmen an” erklärt sie und lacht. Freiwillig hat sie direkt Nachtschichten geschoben, auch weil es gar nicht schlimm sei: “Ich saß ja hier nicht alleine. Ich hab mich mit einer anderen Mitarbeiterin ganz wunderbar verstanden. Ich hab mich so wohl gefühlt. An den Feiertagen werde ich auch wieder bei der Nachtschicht dabei sein.” Frau Harder ist damit beides: Betroffen von Einsamkeit, aber auch Helferin gegen Einsamkeit.

Lohn für die Freiwilligen sind die schönen Geschichten, die sie am Telefon hört: “Ostern rief mich eine Frau an und hat mir den Osterspaziergang aus Goethes Faust vorlesen”, erklärt die Rentnerin mit dem bildungsbürgerlichen Hintergrund. Manchmal wird es traurig-schön: Ein älterer Herr mit italienischen Wurzeln hatte einen Streit mit seiner Tochter und spielte Frau Harder ein Lied auf der Gitarre vor, dass er für seine Tochter geschrieben hat. Andere wollte das Glaubensbekenntnis sprechen und Frau Harder recherchierte noch zum Thema Religion.

Der Erfolg gibt beiden Projekten, so unterschiedlich sie auch sind, recht. Derzeit sind bei Silbernetz circa 170 Freunde mit wöchentlichen persönlichen Gesprächen und 40 Ehrenamtliche und 19 Hauptamtliche, die 160-200 Gespräche pro Tag führen. “Und seit dem ersten Lockdown deutschlandweit”, ergänzt Frau Schilling stolz. Ein Hamburger Programmiererteam half ihnen, die technischen Möglichkeiten zu schaffen, um deutschlandweit zu agieren. Viel PR in eigener Sache und Erfahrung auf dem politischen Parkett durch Frau Schilling trugen sicherlich auch zum Erfolg bei. Lediglich in den ostdeutschen Bundesländern wünsche man sich noch mehr Resonanz, arbeite aber daran. Und in Hagen werden die inzwischen um die 100 Geschichten regelmäßig von 200 Telefonnummern angerufen und abgehört. Die Beiträge gehen in erster per Voicemail ein, wer nicht digital ist, konnte auch auf einen Anrufbeantworter sprechen. Derzeit an die 100 Geschichten gibt es seit Sommer 2020. Die Werbung läuft auch klassisch über Flyer und Mundpropaganda.

Mit dieser Postkarte wirbt das Geschichtentelefon in Hamm um Anrufer*innen.

Und auch wenn die Rückmeldungen beim Geschichtentelefon nicht so unmittelbar wie bei Silbernetz kommen, bekommt Frau Mitlewski einiges mit: “Und uns haben viele Senioren berichtet, dass ihnen das gut tat. Immer wenn sie sich ein bisschen einsam fühlten, riefen sie an.” Auch Angehörige wissen nur Positives zu berichten: “Eine Frau berichtete mir, dass ihre demenzkranke Schwiegermutter immer das Telefon hört, während die Tochter das Essen vorbereitet und dort eine alte Bekannte wiedererkannt hat, die eine Geschichte aufgesprochen hat. Sie berichtete daraufhin, dass ihre Bekannte sie gerade angerufen habe und sehr interessante Sachen zu erzählen hätte.”

Wie man Einsamkeit darüber hinaus bekämpfen kann, dazu haben Frau Schilling und Frau Mitlewski unterschiedliche, aber ergänzende Erklärungen. Die studierte Statistikerin Schilling meint: “In Deutschland brauchen wir eine richtige Grundlagenforschung. Der Alterssurvey hört bei 85 auf und wir haben die 105-Jährigen am Telefon.” Anders als in Großbritannien sei das Thema hier zu wenig erforscht und rücke erst langsam in das Bild der Öffentlichkeit. Sie wünscht sich vor allem eine belastbare Datenbasis, um angemessen vorgehen zu können. Frau Mitlewski hat einen alltagsorientierten Ansatz: “Einsamkeit kann man nur bekämpfen, wenn jeder einen Blick für seine Umgebung entwickelt und vielleicht mehr auf seinen Nachbarn zwei Häuser weiter achtet, der ohne jegliche Anbindung lebt.

Philipp Meinert

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