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Ausgabe 01 | 2022: GemEinsamkeit
Schwerpunkt
Lübeck ist ein idyllisches Örtchen - aber auch hier gibt es Einsamkeit.

Gemeinsam gehen – aus der Einsamkeit

Menschen wieder mit dem Leben verbinden – das hat sich das Projekt „Gemeinsam gehen“ in Lübeck zum Ziel gesetzt. Die Koordinatorin Alexandra Pohl bildet seit Jahren Menschen für die ehrenamtliche Sterbebegleitung aus – damit Menschen nicht einsam sterben. Bis ihr klar wurde, dass sie Menschen viel früher erreichen möchte. Denn sie sollten auch nicht einsam leben.

Es ist leicht, Menschen ein Lächeln zu entlocken, sagt Alexandra Pohl. Sie erzählt von einem missmutig wirkenden alten Mann, dem sie regelmäßig auf der Straße begegnet ist. Erst hat sie ihn angelächelt, dann hat sie ihn gegrüßt und irgendwann hat sie ihn angesprochen. Jetzt wechseln sie immer ein paar Worte, wenn sie sich begegnen. Und er lächelt. So einfach ist das, sagt sie. Ihre braunen Augen blitzen dabei und ihr Gesicht leuchtet. Es ist ihr Lebenselixier.

Schon als Schulpraktikantin hat Alexandra Pohl im Pflegeheim gearbeitet und gemerkt, wie wenig reichen kann, um einem Menschen glückliche Momente zu schenken. Auch im Studium mit Schwerpunkt Medizinische Soziologie haben sie die Themen Lebensqualität und Geborgenheit nie losgelassen. 2009 zog sie nach Lübeck, fand eine Stelle bei Sprungtuch e.V., einem Träger, der hauptsächlich ambulante Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Familienhilfe sowie Kitas anbietet. Gleichzeitig qualifizierte sie sich zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin und baute in der Trägerschaft von Sprungtuch einen ambulanten und kultursensiblen Hospizdienst auf.

Spaziergänge – ein beliebtes Angebot für einsame Menschen

Als der zweite Lockdown die Menschen erneut in die Einsamkeit zwang, bekam Alexandra Pohl einen Anruf von der Lübecker Freiwilligenagentur ePunkt: „Alex, weißt du jemanden…“ Es ging um einen Besuchsdienst im Pflegeheim. Es ging nicht um Sterbebegleitung, sondern um einen Menschen, der einsam war. Alex wusste jemanden und begann mit einigen Ehrenamtlichen zu überlegen, wie sie einsame Menschen erreichen können, lange bevor ihr Leben zu Ende geht. In einer Zeit, in der sich ältere Menschen kaum noch zum Bäcker trauten, fielen alle Präsenzangebote aus. Hausbesuche schienen angesichts Corona auch keine gute Idee. So begann sie, Spaziergänge, Telefonpatenschaften und Alltagsbegleitung anzubieten für Menschen, die sich einsam fühlen. Über das lokale Anzeigenblatt, ein Online-Portal und die Lübecker Nachrichten machte sie das Angebot bekannt. Die Spaziergänge wurden der Renner.

Bärbel Stapelfeldt ist es nicht leichtgefallen, um Hilfe zu bitten. Immer wieder hatte sie in ihrer Whatsapp-Gruppe den Ruf nach Hilfe formuliert, wieder gelöscht und nach Monaten dann doch abgeschickt. Ein Kollege gab ihr die Telefonnummer von Alexandra Pohl. Die wusste wieder jemanden: Melitta Sternberg-Reinecker. Auch sie ist eine Frau, die es mag, wenn sie jemanden zur Seite stehen kann. „Das bin ich“, sagt sie, die halbtags als Nachtschwester in einer Mutter-Kind-Klinik arbeitet. „Das ist meine Bestimmung“. Als die beiden erzählen, wie alles begonnen hat, wirken sie wie alte Freundinnen. Sie sitzen im Café an der Untertrave vor einem Stück Lübecker Marzipan-Torte und erinnern sich.

Alexandra Pohl, Gründerin von GEMEINSAM GEHEN

Anfangs rief Melitta Sternberg-Reinecker an und hörte zu. In zwei, drei ausgiebigen Telefonaten merkten beide, dass sie „eine Wellenlänge haben“. Sie trafen sich zum ersten Mal und von da an jeden Donnerstag, oft und gerne zum Strandspaziergang. „Sie hat mir aus dem Sumpf herausgeholfen“, sagt Stapelfeldt. Der Sumpf, das war ein bodenloses Gefühl von Einsamkeit, ein Gefühl, nicht mehr mit anderen verbunden zu sein, das längst in eine Depression umgeschlagen war. Sie hatte zu nichts mehr Lust. Keine Lust aufzustehen, keine Lust zu kochen, keine Lust zum sonst so geliebten Stricken, nicht einmal ihre Enkelkinder konnten ihr Freude ins Leben bringen. Sie hatte Schmerzen, nahm jede Menge Medikamente, erlebte mehrere akute Einweisungen ins Krankenhaus. Kein Befund.

Aktiv zuhören – das ist entscheidend

“Gemeinsam gehen” - so hat Alexandra Pohl den Hospizdienst genannt. Vor zwei Jahren hat sie ein Ladenlokal in Lübecks Altstadt gefunden, in das alle hereinspazieren dürfen, die Kontakt suchen. Vor dem Laden liegen Prospekte, seit einiger Zeit auch die Karte „GEMEINSAM GEHEN– aus der Einsamkeit“. Im Laden schult sie in einem 100-stündigen Kurs Menschen, die sterbende Menschen und ihre Zugehörigen begleiten möchten, und vermittelt sie. Mit 40 Ehrenamtlichen arbeitet Alexandra Pohl inzwischen zusammen – alle gut ausgebildet, alle mit erweitertem Führungszeugnis, alle versichert. „Wir üben immer wieder aktiv zuzuhören, ohne dabei Ratschläge zu erteilen“, sagt Alexandra Pohl. Nach dem Kurs wissen alle, wie sie auf Menschen zugehen, wie sie sich auf andere einlassen können und gleichzeitig gut für sich sorgen. Zusätzlich hilft eine Supervision, Belastendes zu verarbeiten.

Bärbel Stapelfeldt staunt heute noch, dass Melitta ein Mensch ist, der immer positiv ist. Sie hat die Verbindung zum Leben wieder geknüpft, indem sie zugehört hat. „Ich gebe einem anderen Menschen das Gefühl, ich bin bei Dir und ich interessiere mich für dich“, sagt Melitta Sternberg-Redecker. Das habe sie gelernt. „Du hast so eine unheimlich sanfte Art“, spiegelt ihr Bärbel Stapelfeld. Anfangs habe sie eine Menge Müll mit sich herumgetragen. Den loszuwerden, habe ihr Melitta geholfen. „Sie ist jemand, der mir in ein, zwei Stunden, wenn wir gequatscht haben, soweit geholfen hat, dass ich die ganze Woche überbrücken konnte.“

Sie sind Freundinnen geworden: Bärbel Stapelfeldt (links) und Melitta Sterberg-Reinecker (rechts)

Dass sich zwei Menschen auf einer Wellenlänge begegnen, hängt mit Alexandra Pohls Fingerspitzengefühl zusammen. Sie spürt, ob ein Mensch eher eine zurückhaltende Begleitung benötigt oder eine temperamentvolle, eine intellektuelle oder eine unternehmungslustige. Und sie hört hin, wenn die Ehrenamtlichen selbst Ideen entwickeln. Je bunter das Team, desto vielfältiger die Ideen, sagt sie: „Ich zünde die Flamme, den Rest kann ich abgeben“. So bietet eine Frau, die als Lübecker Stadtführerin arbeitet, jetzt GEH-Spräche an für alle, die Lübeck neu entdecken möchten und dabei reden und schweigen. Einmal im Monat öffnet ein Schreib- und Erzählcafé für alle, die sich Schmerz und Sehnsucht von der Seele schreiben wollen. Im Familienzentrum im Stadtteil Buntekuh bietet ein Ehrenamtlicher gemeinsames Kochen für Witwen und Witwer an.

Bärbel Stapelfeldt ist ins Leben zurückgekehrt. Die Spaziergänge, die Gespräche, auch die Arztbesuche, gaben ihr den Mut, ihre gesundheitlichen Probleme anzugehen. Sie ging in eine Schmerzklinik und kam ermutigt und gestärkt zurück. Heute arbeitet sie drei Tage vormittags, verbringt einen Omatag mit ihrem Enkelkind und reserviert den Rest der Zeit für Bekannte, Hobbys und Erledigungen. Sie hat gelernt, sich die Woche einzuteilen. Sonntags ist Ausschlafen und Nichtstun angesagt. „Darauf freue ich mich“. Melitta freut sich mit ihr: „Dass Du keine Angst mehr hast, dass niemand für dich da ist, sondern den Sonntag alleine genießen kannst, das hört sich sehr, sehr schön an.“ Die Besuche haben ihre Dringlichkeit verloren. Geblieben ist eine Freundschaft.

Gerlinde Geffers

Kontakt

GEMEINSAM GEHEN
c/o Sprungtuch e.V.
Glockengießer Str. 15
23551 Lübeck

Tel: 0451 20271259

E-Mail: info(at)gemeinsam-gehen-luebeck.de

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