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Ausgabe 01 | 2025: Weiblichkeit*en
Schwerpunkt

Einfach nur noch raus

Täglich sind Frauen in Deutschland vom Femizid bedroht. Ihnen helfen Bildung, Aufklärung, Fluchtplätze und eine verlässliche Finanzierung. Mit dem neuen Gewalthilfegesetz hoffen die Helfer auf mehr Unterstützung, doch der Blick in die Zukunft bleibt besorgt.

„Nur raus“, das war der Gedanke von Alina Kestiman*, als sie um 23 Uhr ihre Kinder, noch im Schlafanzug, aus dem Bett riss und flüchtete. Nur das Nötigste konnte sie mitnehmen – sie selbst trug nur das, was sie am Leib hatte. Ihre Eltern versuchten, sie festzuhalten. „Lasst mich hier raus!“, schrie sie ihnen entgegen. Zu gefährlich, zu riskant, zu viel Gewalt. Ihr Ex hatte immer wieder gezeigt, dass er „keine Gnade“ kannte, impulsiv zuschlug und nicht aufhörte, selbst wenn sie schon am Boden lag. Vor allem im letzten Jahr wurde die Gewalt immer häufiger.

„Der Moment des Verlassens ist der gefährlichste“, sagt Alexandra Fausten, Co-Geschäftsführerin des Vereins Frauen-Helfen-Frauen, der ein Frauenhaus im Rhein-Sieg-Kreis betreibt. Laut dem Bundeslagebild „Geschlechtsspezifische Gewalt“ des Bundeskriminalamts starben 2023 allein 360 Frauen durch Femizid, Tötungsversuche gab es fast dreimal so viele (938). Die Zahlen steigen seit Jahren. Die Sozialpädagogin sitzt in einem Gemeinschaftsraum des Frauenhauses, während Alina Kestiman* ihr gegenübersitzt. Heute hat die 22-Jährige sich von ihren Freundinnen verabschiedet, nachdem sie nach fast einem Jahr endlich eine eigene Wohnung beziehen wird – ihre erste.

Annabell Fugmann
Alina Kestiman* hat viel Gewalt erleben müssen und kann nun auf eine sorgenfreiere Zukunft blicken.

Alina Kestiman* wird ruhig, wenn sie von ihrer Geschichte erzählt. Ihr Rücken wird steif, ihre Gesichtszüge härter. Fünf Jahre war sie mit ihrem Ex zusammen, und nach zwei Jahren begann die Gewalt – körperlich und psychisch. „Ich habe ihm geglaubt, als er sagte, ich würde alles falsch machen, nicht gut aussehen“, erzählt Alina. Ihr Ex nahm Drogen, konnte nicht schlafen und lief nachts auf und ab – besorgniserregende Nächte für die junge Mutter. In den letzten drei Jahren wurde sie verprügelt, eingesperrt, kontrolliert und beraubt – er verbot ihr sogar, ein Handy zu besitzen. Eine Polizistin fragte sie einmal nach einem Vorfall auf der Straße, warum sie nicht ging. „Ich hatte Angst“, sagt Alina heute, „Angst um mein Leben.“ Die Worte „Ich werde dich abknallen“ hatte er bereits gesagt.

Am Tag ihrer Flucht kam Alina zuerst bei einer Freundin unter. Sie hatte schon einmal nach „Frauenhaus“ gegoogelt und einen Flyer von den Polizisten erhalten. Sie rief an und bekam einen Platz im Rhein-Sieg-Kreis, fast eine Stunde entfernt von ihrem Zuhause. 2023 fanden nur 36 % der Frauen einen Platz im Frauenhaus in der Nähe ihres Wohnorts. Laut der bundesweiten Frauenstatistik des Vereins Frauenhauskoordinierung (FHK) fehlen deutschlandweit 14.000 Plätze, viele Frauen müssen weit weg ziehen.

„Ich habe mich hier seit dem ersten Tag extrem gut aufgenommen gefühlt“, sagt Alina und lächelt. Sie kam ohne einen Cent und fand alles, was sie brauchte. Besonders betont sie die Freundschaften, die sie hier geschlossen hat. Die Mitarbeiterinnen des Trägervereins Frauen-Helfen-Frauen unterstützten sie bei der Beantragung des Bürgergelds, bei der Suche nach einem Betreuungsplatz für ihre Kinder. Glück im Unglück: Da Alina nur einen Hauptschulabschluss und keine Ausbildung hat, werden ihre Kosten im Frauenhaus übernommen – mehr als ein Viertel der Frauen müssen die Kosten jedoch selbst tragen. Wie soll das gehen, wenn sie ihren Arbeitsplatz wegen des Umzugs aufgeben müssen? Oft ist das ein Grund, warum viele zurückkehren.

Raum, Platz und Licht bringen Ruhe

Annabell Fugmann
Alexandra Fausten und Michiko Park sind beide Geschäftsführerinnen beim Frauen- und Kinderschutzhaus Troisdorf.

Michiko Park steht in einer leeren Wohnung des Frauenhauses und zeigt die Einrichtung: Die Räume sind lichtdurchflutet, der Boden aus hellem Holz, auch die Möbel aus Buchenholz. Unter den Betten in den zwei Zimmern können bei Bedarf kleinere Betten herausgezogen werden. „Frauen, die aus chaotischen, gewaltsamen Situationen kommen, brauchen Verlässlichkeit, Ruhe und ein sicheres Umfeld“, sagt die zweite Geschäftsführerin des Vereins. Die Wohnung ist genau darauf abgestimmt. Eine kleine Küchenzeile rundet das Wohnzimmer ab, im Badezimmer steht ein Kosmetikbeutel mit Zahnbürste und Zahnpasta – für Frauen wie Alina, die ohne alles ankommen. Das ist keine Ausnahme. Die Plätze im Frauenhaus sind immer schnell belegt. Heute soll eine neue Familie einziehen.

„Das Haus ist gut auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten“, sagt Michiko. Vor diesem Neubau war der Verein, wie viele andere Frauenhäuser, in einem alten Einfamilienhaus untergebracht, mit nur wenigen Zimmern und einer einzigen Küche. Diese Enge war oft ein weiterer Faktor für die Rückkehr von Frauen zu ihren gewalttätigen Partnern. Das neue Gebäude verfügt über Sicherheitstechnik wie ein programmierbares Schlüsselsystem und Kameras – auch draußen.

Mehr Abhängigkeit bedeutet mehr Bedarf an Hilfe

Im Frauenhaus Troisdorf gibt es zehn Wohnungen 12 Frauen und 18 Kinder, doch gerade müssen zwei von ihnen die Kosten selbst tragen. Der Verein hilft mit Spenden, aber mehr Frauen dürften es nicht werden. „Gewalt an Frauen kommt in allen sozialen Schichten vor“, sagt Michiko Park. „Hier landen vor allem Frauen, die in Abhängigkeit leben und kein gutes Unterstützungsnetzwerk haben.“ Aber warum müssen eigentlich immer die Frauen gehen?

Privat
Nua Ursprung von derr Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen betrachtet gesellschaftliche Entwicklungen mit Sorge.

Nua Ursprung, Referentin für Kommunikation bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), sieht im Berliner Polizeigesetz von 2001 einen wichtigen Meilenstein: „Es ermöglicht, dass die Gewalttäter aus der Wohnung geholt werden.“ Auch das neue Einsatzkonzept sieht vor, dass bei häuslicher Gewalt vier statt zwei Polizist*innen zum Einsatz kommen.

Die Kinder brauchen auch Hilfe

Seit mehr als 30 Jahren setzt sich der Verein BIG gegen häusliche Gewalt ein. Als Träger bündelt er alle relevanten Angebote, von Beratung über Prävention bis hin zur Begleitung von betroffenen Frauen und Kindern. „Wir haben in der Vereinsgeschichte viel dazugelernt“, sagt Nua Ursprung. „Besonders müssen auch die Kinder mitgedacht werden. Sie sind immer betroffen, selbst wenn sie nicht direkt Gewalt erleben.“ Die Auswirkungen zeigten sich in Konzentrationsproblemen und Schlafstörungen. Kinder aus gewalttätigen Haushalten landen mit viel höherer Wahrscheinlichkeit selbst in gewalttätigen Beziehungen. Söhne werden oft zu Tätern, Töchter zu Opfern.

Ein weiteres schwieriges Thema: Die Umgangsregelungen für die Väter und ihre Kinder. Es sei unzumutbar, wenn Frauen bei der Klärung der Umgangsregelung mit ihren gewalttätigen Ex-Partnern an einem Tisch sitzen müssen. In Berlin gibt es ein Modellprojekt, bei dem die Umgangsregelung bis zur Täterarbeit des Vaters pausiert wird, also bis er an sich gearbeitet hat.

Für Alina Kestiman* ist dieser Punkt geklärt: Ihr Ex-Verlobter sitzt für mehrere Jahre im Gefängnis, das Sorgerecht für ihre Kinder hat er nie bekommen. Dennoch weiß sie, dass ihr Sohn vieles von der Gewalt mitbekommen hat, auch wenn er selbst nicht geschlagen wurde. „Es ist auf jeden Fall ein Schaden entstanden“, sagt sie. Ihr Sohn ist verhaltensauffällig und sehr schreckhaft.

Nachsorge und neue Perspektiven

Ein weiterer Baustein der Arbeit von Frauen-Helfen-Frauen ist die Nachsorge. Hilfe zur Selbsthilfe wird den Frauen ein Jahr lang angeboten. Alina freut sich auf ihre Zukunft: Endlich hat sie ihre eigene Wohnung, hat einen Plan, und will sich regelmäßig mit ihren neuen Freundinnen treffen.

Doch auch die Helferinnen blicken besorgt in die Zukunft. Das Gewalthilfegesetz, das einen rechtlichen Anspruch auf einen Frauenhausplatz festschreibt, wurde zwar verabschiedet, doch es gibt auch gegensätzliche Tendenzen. „Wir sehen eine Verstärkung patriarchaler Strukturen in der Gesellschaft und Politik“, sagen sie. Die Sorge ist groß, dass kürzlich erreichte Fortschritte im Hilfenetzwerk wieder zurückgenommen werden könnten.

Annabell Fugmann

*Der Name wurde geändert, um die Protagonistin zu schützen.

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