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Ausgabe 01 | 2025: Weiblichkeit*en
Schwerpunkt

Weiblich auf der Straße

Für Frauen kann das Leben auf der Straße besonders hart. Im Tagestreff Lichtenberg können Sie Hilfe bekommen.

Estera* ist eine starke, selbstbewusste Frau. Ihr Blick, klug und wach, ist auf ihr Gegenüber gerichtet. In ihrer Stimme schwingt eine sanfte Autorität. Sie hat einen Bachelorabschluss in Heilpädagogik, ist hochintelligent – und lebt auf der Straße.

Sie lebt in einem Zelt, mitten in Berlin. Hunderte Menschen gehen täglich an ihr vorbei, auf dem Weg zur Arbeit, ins Kino oder nach Hause. Manche bleiben stehen und reden mit ihr, wenn sie eingehüllt in Pullovern und Decken den Kopf aus ihrem Zelt streckt. Das Haar ist verfilzt, das Gesicht dreckig. Aber ihre schwarzen Schnürstiefel stehen ordentlich vor dem Zelteingang. Und direkt neben dem Zelt parkt ihr Fluchtfahrzeug, ein orangefarbener Einkaufswagen, in den sie ihre sieben Sachen packen kann, wenn sie weiterziehen muss. Seit gut einem Jahr wird sie auf einem Privatgrundstück geduldet. Aber wer weiß wie lange noch.

„Ich habe schon überall gewohnt“, sagt sie mit der Gelassenheit einer Weltenbummlerin. „Aber die verjagen mich, egal wo ich bin.“

Man könnte jetzt weitergehen und über die Wohnungspolitik schimpfen. Viele tun das. In Artikeln und Debatten geht es meist um den Wohnungsmangel in Großstädten, explodierende Mietpreise und stagnierenden Bautätigkeit.

Über 531.000 wohnungslose Menschen gibt es gemäß offiziellen Angaben der Bundesregierung in Deutschland. Doch nur 47.300 werden als Obdachlose gezählt. Der Unterschied zwischen wohnungs- und obdachlos ist eine sprachliche Nuance. Manche sagen, die begriffliche Trennung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit verharmlose das Ausmaß der Not. Denn vorübergehend sind wir doch alle mal irgendwo untergeschlüpft, bei den Eltern, bei Freunden oder Bekannten. Auf der Suche nach einer eigenen, womöglich besseren Wohnung. Bei einem Jobwechsel in eine andere Stadt oder nach einer Trennung.

Doch die halbe Million Menschen aus der Wohnungslosenstatistik kommen nur zu einem Zehntel bei Angehörigen, Freunden oder Bekannten unter. Acht Zehntel sind laut Statistik in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht. Doch die sind oftmals nur als Winternotprogramm eingerichtet. Spätestens ab dem Frühjahr müssen viele wieder auf der Straße schlafen. Und das letzte statistische Zehntel ist dauerhaft obdachlos, also immer. Jeden Tag. Seit Jahren.  

So wie Estera.

Einrichtungsleiterin Jennifer Bollig hofft auf ausreichend finanzielle Mittel, um obdachlosen Frauen einen eigenen Schutzraum anbieten zu können.

Sie nimmt weder im Sommer noch im Winter Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch, noch nicht mal eine warme Mahlzeit holt sie sich irgendwo ab. Das erfährt aber nur, wer sich länger mit ihr unterhält, als die Sekunde, die es braucht eine Münze in ihre dreckige Hand zu legen. Nicht die teuren Mietwohnungen haben sie ins Elend gestürzt, erzählt sie, sondern der Papst und der Mossad. Der eine hat die Großmutter vergewaltigt, der andere die Pflegeeltern umgebracht. Die wollten sie fertig machen, weil sie schon als Kind klüger gewesen sei als alle anderen. Im weiteren Redefluss steigert sie ihren anfangs leisen Frust hin zu einem bellenden Wut-Finale. Da spricht sie vom Tag der Abrechnung und zeigt mit dem Finger aufs Gegenüber: „Du stehst auf meiner Liste.“

Herauszufinden, ob Esteras Wahnvorstellungen Ursache oder Wirkung ihrer offenbar Jahre währenden Obdachlosigkeit sind, ist selbst für professionelle Sozialarbeiter*innen kaum herauszufinden.

„Natürlich kennen wir sie“, sagt Jennifer Bollig, Einrichtungsleiterin des TagesTreff für Wohnungslose und Bedürftige am BahnhofBerlin-Lichtenberg. Und fügt seufzend an: „Aber sie kommt nicht zu uns – aus Angst vor Überwachungskameras und vergiftetem Essen. Sie trinkt nicht mal das Wasser, das wir ihr bringen.“

Offiziell machen Frauen nur rund 20 Prozent der Wohnungslosen aus. Aber da Frauen häufiger in prekären Wohnsituationen verbleiben, um Obdachlosigkeit zu vermeiden, ist die Dunkelziffer vermutlich deutlich größer. Für ein Dach überm Kopf bieten sie typisch weibliche Arbeiten aller Art an, Kochen, Putzen, Waschen, Pflege, manchmal auch sexuelle Dienstleistungen. Sie arrangieren sich, solange sie können. Grund für Wohnungslosigkeit von Frauen ist besonders oft häusliche Gewalt. Weil es an geeigneten Beratungsstellen und Schutzorten fehlt, kommen schnell Suchtprobleme dazu und immer öfter auch psychische Erkrankungen. Dazu sind Frauen auf der Straße zusätzlich Gewalt ausgesetzt.

Sozialarbeiterin Sarah Meergans sortiert Briefe für rund 150 Obdachlose, die im Tagestreff ihre Postadresse haben.

Die Summe aller Traumata macht ein Leben in einer regulären Unterkunft irgendwann unmöglich. Erst wenn sie buchstäblich auf dem Zahnfleisch gehen, sich Zahnwurzeln entzünden, sich Abzesse bilden oder eine Infektion in den Kiefer-/Halsbereich ausstrahlt, suchen die Frauen nach Hilfe.

Und hier wird der Tagestreff zur letzten rettenden Instanz. Die Einrichtung des Humanistischen Verbands Deutschlands | Landesverband Berlin-Brandenburg ist nämlich eigentlich eine medizinische Ambulanz. Hier gibt es kostenlose Zahnbehandlung oder medizinische Grundversorgung – unbürokratisch und ohne Termin. Doch bevor jemandem der Neid hochkocht: Der Sirona M1, auf dem die Patient*innen Platz nehmen dürfen, ist zwar ein Klassiker unter den Zahnarztstühlen. Aber Hersteller Siemens hat die Produktion schon 1998 aufgegeben; seit 2016 gibt es keine Ersatzteile mehr. Die muss man zu Oldtimer-Preisen auf Ebay organisieren. Im Tagestreff Lichtenberg arbeitet man hauptsächlich mit Spenden aus Arztpraxen und Apotheken.

Und auch die Personalausstattung ist eher bescheiden. Jeweils auf einer halben Stelle arbeiten hier eine Zahnärztin und ein Allgemeinmediziner, mit jeweils einer ebenfalls halbtags arbeitenden medizinischen Fachangestellten. Ohne Vertretung. Notfalls muss deswegen auch die Einrichtungsleiterin bei der OP am eitrigen Zahn mal den Absaugschlauch halten.

Dafür ist das Engagement umso größer. Dank ehrenamtlicher Unterstützung, dank Spenden und mit kurzzeitiger Projektfinanzierung ist der TagesTreff mehr als Notfall-Ambulanz, sondern auch Aufenthaltsort mit Essensausgabe, Kleiderversorgung, Waschmöglichkeiten und sozialer Beratung. Und er ist in ganz Berlin Lichtenberg die einzige Einrichtung für Obdachlose, die sieben Tage die Woche tagesüber geöffnet hat.

Egal wie groß der Schmerz, wie elend das Leben ist – Arzthelferin Angela Schütz bleibt geduldig freundlich und öffnet die Tür zur medizinischen Notbehandlung.

Rund 50 Gäste pro Essensausgabe holen sich eine warme Mahlzeit (oder über den Tag verteilt ca. 90 Gäste). Überwiegend Männer suchen und finden hier Hilfe. Etwa 150 Obdachlose haben im Tagestreff ihre Postadresse; alle Behördenpost wird hier gesammelt. Sozialarbeiter*innen helfen bei der Beantwortung oder recherchieren Kontaktstellen in Jobcentern oder Krankenkassen. Um den Überblick zu behalten und für die Statistik, bekommt jeder Gast eine „Hauskarte“, ein kleines eingeschweißtes Papierschild. Zwischen Anfang Januar und Mitte Februar wurden bereits über 400 Karten ausgegeben.

„Der Anteil der Frauen ist eher klein, vielleicht zehn Prozent“, erklärt Jennifer Bollig. „Aber er wächst, seit wir spezielle Angebote für Frauen machen.“ So gibt es Periodenartikel kostenlos aus Automaten, die im Treppenhaus, auf den Toiletten und in den Duschen bereitstehen. In der Frauenabteilung der Kleiderkammer können Frauen ungestört sogar Unterwäsche anprobieren. Auch das medizinische Angebot wird verstärkt von obdachlosen Frauen wahrgenommen.

„Viele Frauen sind durch Männer traumatisiert und bräuchten eigentlich einen Raum für sich“, weiß Jennifer Bollig. Versuchsweise wurde letztes Jahr am 8. März im Rahmen der Lichtberger Frauenwoche der Treff nur für Frauen geöffnet. „Das war toll“, schwärmt die Leiterin. „Wir haben gemeinsam Jutebeutel bemalt. Und es gab ein großes Frühstücksbuffet. Wie im Hotel!“ Ob Gäst oder Betreuerin, alle waren begeistert. „Die Frauen sprechen anders, sie bewegen sich anders. Endlich war mal Zeit auch für etwas tiefergehende Gespräche.“

Deswegen möchte Bollig gern dauerhaft den kleineren der beiden Speiseräume allein Frauen vorbehalten. Aber das ist Zukunftsmusik. Was es dafür bräuchte? Die Antwort fällt klar aus: „Geld, Geld, Geld!“

Claudia Cornelsen

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