
FLINTA-Fäuste gegen Diskriminierung
Ein Montagabend im Berliner Bergmannkiez. Zwischen Restaurants, Bio- und Feinkostläden und einer Markthalle, in der es zum Ärger der Anwohner*innen keinen Aldi mehr gibt, steht ein altes Schulgebäude. Heute wird es unter anderem von der Volkshochschule benutzt. Tritt man auf den ehemaligen Schulhof, hört man irgendwo einen Chor proben. Geht man in Richtung der Sporthalle, ertönen die dementsprechenden Geräusche: Angestrengtes Aufstöhnen und Anweisungen einer Trainerin und Schläge auf einen Boxsack sind auch vom Hof aus zu hören.
Den Kampfsport trainiert hier jedoch kein beliebiger Verein. Hier kämpfen die Boxgirls, eine Boxgruppe für FLINTA-Personen. Das Akronym steht für „Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender.“ Auch Cis-Männer, also Männer, deren soziales und biologisches Geschlecht übereinstimmt, sind in einigen Trainings willkommen. Das Angebot richtet sich nicht primär an sie.

Boxgirls kann auf eine bereits 20-jährige Geschichte zurückblicken. 2005 wurde der Verein gegründet, unter anderem von Linos Bitterling. Wir treffen uns in seiner Geschäftsstelle in der Weserstraße in Neukölln. Die Liebe zum Sport reicht weit zurück. Bereits mit sieben Jahren wollte Linos boxen, fand aber keine passenden Angebote. Erst mit 22 konnte Linos dieser Leidenschaft nachkommen, zunächst im Verein „Seitenwechsel“ und war anschließend mit einer vier anderen Personen Mitbegründer*in von Boxgirls. Nach vielen Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit wurde daraus ein Beruf: „2020 haben wir eine Förderung vom Senat bekommen und seitdem kann ich hauptamtlich arbeiten.“ Seitdem hat Boxgirls durch verschiedene Projekte viele MINTA und queere Jugendliche mit niedrigschwelligen Empowerment-Angeboten berlinweit erreicht sowie das Neuköllner Sportfest für MINTA “Girls Neukölln United” auf die Beine gestellt.
Boxen als Sport wird zunehmend gesellschaftlich akzeptiert. Am Anfang hätten einige noch Bedenken gehabt: „Ich musste bei vielen Eltern Überzeugungsarbeit leisten, dass es eben kein brutaler Sport ist und ihre Kinder nicht mit kaputten Nasen zuhause ankommen“, erinnert sich Linos. Gerade um ihre Töchter hatten viele Angst. Aber auch durch Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit sowie den vielen berlinweiten Angeboten von Boxgirls hätte sich das Bild in den letzten Jahren sehr geändert.
Mit dabei ist auch Edna Martinez. Ihr Erstkontakt zum Boxen verlief ganz anders. Über den Liebeskummer des Sohnes kam die Kolumbianerin, die seit 13 Jahren in Berlin wohnt, zum Sport. „Eigentlich fand ich Boxen immer sehr brutal. Ich konnte nicht verstehen, wieso Leute sich gegenseitig verprügeln wollen“, erklärt sie und lacht. Um ihren Sohn aber aus dem tiefen Tal der Trauer zu holen, ging sie mit ihm zum Training, änderte dort ihre Meinung grundlegend und fing auch selbst an. „Seitdem bin ich richtig ins Boxen verliebt“, so Martinez. Seit 2019 lebt sie diese Liebe bei den Boxgirls aus. Als dort eine Betreuerin für eine BIPoC-Gruppe gesucht wurde, also speziell für Schwarze, Indigene und People of Color, bewarb sie sich und wurde eingestellt. Kurz darauf ist Edna Martinez auch noch in den Vorstand von Boxgirls gekommen. „Seitdem bemühe ich mich darum, mehr Migrantinnen und Personen mit Fluchtgeschichte für unser Training zu gewinnen“, erklärt sie ihre Aufgabe.

Migrant*innen seien eine Gruppe, die ständig kämpfen müsse, so Martinez. Boxen gebe ihnen die Möglichkeit, Stärken herauszubilden und eine Community zu bilden, erklärt sie weiter. Und das möchte sie bei Boxgirls einbringen und bieten. Dafür gibt es nicht viele Orte, denn: „Leider ist es in vielen Vereinen so, dass Kampfsport von den Rechten dominiert wird.“
In Kreuzberg ist um 20.30 Uhr das Training beendet. In der Halle warten noch vier Personen, alle weiblich gelesen, um zu erzählen. Es sind drei Teilnehmer*innen und Trainerin Lisa, alle etwa in ihren 20ern. Enid boxt hier seit knapp drei Jahren. „Ich wollte schon dort boxen, wo es im weiteren Sinne Frauengruppen gibt“, erklärt sie. Jo nutzt keine Pronomen und ist seit knapp zwei Jahren dabei. Hier hat Jo neues Selbstbewusstsein gesammelt: „Durch den leistungsorientierten Schulsport habe ich sehr negative Erfahrungen gemacht. Mir wurde immer vermittelt, ich sei nicht sportlich, obwohl ich schon damals viel getanzt habe. Erst in FLINTA-Kontexten habe ich mir Sport als etwas von mir jenseits von Leistungs- und Schönheitsnormen angeeignet.“ Gerade könne Jo sich als nichtbinäre Person nicht vorstellen, in einem anderen Kampfsportverein zu boxen, denn: „Ich glaube, das wäre mir einfach zu mackerig.“ Ähnlich sieht es Enid: „Beim Kampfsport gibt es schon die muskulären Unterschiede zwischen biologischen Männern und Frauen. Wenn man ständig mit Leuten boxt, die körperlich überlegen sind, macht es nicht so viel Spaß.“

Zwischenzeitlich kam auch Oleg in Kreuzberg nach dem Training dazu. Ihre Gründe hier zu sein ähneln denen von Jo und Enid. Zuvor war Oleg bei einem Boxkurs an der Technischen Universität Berlin. „Der Kurs war zwar gemischt, aber schon sehr männerlastig und es war sehr kompetitiv.“ Hier erlebte sie das Gegenteil: „Selbst wenn man powert, macht es Spaß hier. Und wenn ich mich mal hinsetzen will, werde ich nicht gejugded.“ Auch Jo ist das wichtig: „Ich will auch mal zum Training kommen, mal nicht so fit sein und dafür keinen blöden Blick bekommen.“
Empowerment ist ebenfalls ein wichtiger Antrieb. Dass Gewalt gegen weibliche Personen zunimmt, ist keineswegs nur ein Gefühl. Straftaten gegen Frauen* nehmen laut Kriminalstatistik zu. Auch ein Grund hier zu sein für Oleg: „Ich habe inzwischen schon ein anderes Gefühl, wenn ich abends durch die Straßen gehe und ich weiß, wie ich mich verteidigen kann.“ Nicht nur sich selbst, sondern auch andere verteidigen zu können, sei ihr wichtig, ergänzt Enid: „Damit kann ich meinen Freunden auch ein Gefühl von Sicherheit geben.“
Ähnlich wie der Wunsch nach Sicherheit ist mentale Gesundheit ein Grund für viele, bei Boxgirls dabei zu sein. „Boxen ist so vielfältig und hilft in so vielen Problemlagen, wenn es einem schlecht geht oder auch präventiv wirkend“, weiß Linos. Oleg bestätigt dies in der Praxis. Seit Jahren kämpft sie mit Depressionen und hat immer das Gefühl, schwächer zu sein als andere. Das regelmäßige Training helfe: „Einmal hat die Trainerin so richtig aus mir rausgeholt. Und selbst, als ich dachte, ich könnte nicht mehr, hat sie mich zum Weitermachen motiviert. An dem Tag habe ich so extrem viel gepowert wie noch nie in meinem Leben. Ich kam raus und merkte, dass das alles aus mir rausgeholt hat.“ Getoppt wurde dies aber noch durch das anschließende, liebevolle Gespräch mit der Trainerin.

Apropos Trainerin. Bei Boxgirls können die Wege dahin sehr kurz sein. Trainerin Lisa wollte eigentlich selbst nur trainieren, aber alle Plätze waren belegt. „Und dann dachte ich mir, OK, wenn ich schon nicht selbst trainieren kann, werde ich einfach Trainerin“, erklärt sie auf Englisch. Auch ihr hilft das Boxen mental. Sie leidet unter Panik-Attacken und da helfe es, sich an einem Boxsack auszulassen. Im Übrigen trainiere sie auch eine Männergruppe bei Boxgirls.
Ob einfach als Hobby oder mit Ambitionen. Mit beidem kann man zum Training kommen. „Wir sind auch ein Verein, der ernsthaft auf Wettkämpfe trainiert. Was wir aber nicht sind: Ein Verein, bei denen FLINTA einfach an den Boxsack gestellt werden und sich dann niemand um sie kümmert“, erklärt Linos. Dies sei woanders, wo keine Sensibilität vor Geschlechterrollen im Boxring oder der Gesellschaft draußen herrscht, durchaus üblich.
Und dann gibt es immer wieder die unangenehme Frage nach dem Geld. Man spüre eine zunehmende Prekarisierung auch bei den Trainierenden und versuche, die Angebote für alle zugänglich zu machen. Viele aber könnten es sich nicht mehr leisten, so Edna. „Wer von seiner Arbeit nicht leben kann, für den ist Sport keine Priorität, sondern wird zum Luxus“, erklärt sie. Bei den Boxgirls will man die Beiträge so niedrig wie möglich halten, um den Sport allen zu ermöglichen. Linos ergänzt: „Wir wollen möglichst inklusiv zu sein. Beiträge können natürlich exklusiv wirken.“
Doch die Beiträge niedrig zu halten, wird immer schwieriger. Der Berliner Senat aus CDU und SPD spart derzeit massiv, vor allem im sozialen Bereich. Bei Boxgirls hatte dies bereits spürbare Konsequenzen. Zwei Mitarbeiter*innen mussten bereits gekündigt werden. Boxgirls beklagt wie viele andere Einrichtungen den Umgang mit Ihnen seitens der Senatsverwaltung. „Wir haben einen Anruf bekommen. Da wurde uns gesagt, wir müssten uns treffen, weil wir gekürzt werden. Das kam für uns völlig überraschend und war nicht vorhersehbar“, so Linos. Denn: Eigentlich stand Boxgirls zunächst gar nicht auf der Kürzungsliste. Derzeit wird versucht, die Kürzungen rückgängig zu machen. Linos weiter: „Wir mussten einer BIPoC-Frau und einer queeren Person kündigen. Wir versuchen bei unseren Angestellten auch immer unsere Zielgruppe abzubilden. Es ist tragisch, wenn deren gute Arbeit fehlt, aber genau so schlimm, dass damit auch Ansprechpersonen für unser Klientel wegfällt.“
Ob die Kürzungen für Boxgirls zurückgenommen werden, ist zum Redaktionsschluss nicht klar. Aber wie es auch immer mit dem Verein weitergeht: Die Erfolge der letzten 20 Jahre kann man ihnen nicht mehr nehmen. Seien es die Rolemodels, die sie FLINTA-Personen vermitteln (Jo: „Für mich war es sehr empowernd, Leute im Ring zu sehen, die meine Statur haben.“) oder das Selbstbewusstsein, dass die Trainierenden in den meisten Kampfsportvereinen nicht bekommen würden (Oleg: „Ich bin weiblich gelesen und kann trotzdem auf die Fresse geben“). Linos Bitterling fällt bei der Frage nach den Erfolgen zuerst die Geschichte von Zeina Nassar an. Nasser ist deutsche Meisterin im Boxen geworden und startete ihre Karriere bei Boxgirls. Nicht nur der sportliche Erfolg ist es, den die Trainer*in und Vorständ*in besonders stolz macht. Auch, dass Zeina die erste Boxerin ist, die als Muslima auch im Ring Kopftuch als auch lange Arm- und Beinkleidung tragen darf. Durchgesetzt hat das Boxgirls. „Wir konnten darauf hinwirken, dass die Bestimmungen zu Bekleidung im Wettkampf in Deutschland geändert werden. Und Zeina hat es dann durchgesetzt, dass es weltweit umgesetzt wird“, erklärt Linos. In Zeiten des Rechtsrucks wird es gerade solche Geschichten weiterhin brauchen.
Philipp Meinert