
Empowerment und Freundschaften in der Zoom-Kachel
An einem späten Mittwochnachmittag trifft sich der Online-Frauen*-Kreis vom Lübecker Verein Mixed Pickles auf der Videokonferenzplattform Zoom. Die Vorfreude der Teilnehmerinnen ist spürbar. Die nach und nach aufpoppenden kleinen Kacheln werden von den bereits Anwesenden erwartet und freundlich begrüßt. Wer noch nicht online ist, wird bereits ungeduldig erwartet. Kommt diese oder jene denn auch? Das ist häufigste Frage in den ersten Minuten. Nur ich falle als Teilnehmer direkt auf. Dass man Männer in der Runde habe, sei ungewöhnlich, stellt Kerstin trocken fest. Kerstin heißt in diesem Text wie alle Frauen, die nicht hauptamtlich für Mixed Pickles arbeiten, eigentlich anders. Tatsächlich sind sie zunächst nur wegen mir hier. Der Online-Frauen*-Kreis beginnt um 17 Uhr und einige der Teilnehmerinnen haben sich vorab zugeschaltet, um von einem ihrer Lieblingstermine der in der Woche zu berichten.
Was alle Frauen – abgesehen von den beiden Mitarbeiterinnen von Mixed Pickles – hier verbindet: Sie alle haben eine Lernbeeinträchtigung, oder, allgemeiner ausgedrückt, eine „Behinderung.“ Das kann Kontakte im Alltag erschweren, aber wie in diesem Fall untereinander auch zusammenschweißen. Wie viele digitale Treffpunkte entstand der Frauenkreis in der Corona-Zeit und wurde danach etabliert, berichtet Mitarbeiterin Romy Kotas. Sie und ihre Kollegin Anke Otto moderieren den Kreis, halten sich aber auch im Hintergrund. Ein hierarchisches Gefälle zwischen Mitarbeiterinnen und Teilnehmerinnen ist nicht erkennbar. Alle gestalten die Runde mit und es gibt keine starren Vorgaben. „Die Frauen entscheiden, was im Frauenkreis passiert. Anke und ich sind dabei, um Impulse zu geben, zu unterstützen oder schauen, dass jede drankommt“, so Romy Kotas. Die Themen bespreche man nach „Lust und Laune“, wie es Lena, eine andere Teilnehmerin, ergänzt: „Worauf eben jede so Lust hat. Was so wichtig ist im Alltag.“ Sorgen können hier in geschützter Runde artikuliert werden. Mona, die freundlich, aber direkt auftritt, sagt: „Mein Herz liegt auf der Zunge. Manchmal weiß ich nicht, mit wem ich sprechen kann, aber hier verstehen mich alle.“ „Wenn ich Ärger auf der Arbeit und Redebedarf habe, dann rede ich im Frauenkreis mit meinen Freundinnen darüber“, sagt Birgit. Freundschaft, das ist hier das Stichwort, denn der Online-Frauen*-Kreis ist mehr als nur eine Zoom-Gruppe. Denn sie treffen sich auch regelmäßig außerhalb des Internets, zum gemeinsamen Grillen oder Basteln.

Bei „Mixed Pickles“ denken viele zunächst an das gemischte Gemüse im Glas. Das ist auch nicht falsch, es gibt aber noch eine andere Bedeutung, erklärt Kathrin Ziese: Im Englischen bedeute Mixed Pickles umgangssprachlich auch „Wildfang.“ „Das heißt, wir sind nicht bereit uns normieren zu lassen,“ so Frau Ziese zur Wahl des Vereinsnamens weiter. Sie ist Geschäftsführerin von Mixed Pickles. Mit ihr spreche ich einige Tage bevor ich beim Online-Frauen*-Kreis zu Gast bin. Kathrin Ziese baute mit anderen Frauen den Verein als Modellprojekt Mitte der Neunziger mit auf. Die Idee, Behinderten- und Frauenarbeit zusammen zu bringen, war damals innovativ, so Frau Ziese: „In der Behindertenarbeit hatten wir den mangelnden Fokus auf das Geschlecht und in der Frauenarbeit kam Behinderung nicht vor.“ Schon während ihres Studiums arbeitete sie sowohl in einem Behindertenwohnheim als auch in einem Mädchentreff. Daraus zog Frau Zeise einen Schluss: „Ich dachte mir immer, man müsse doch diese beiden Welten zusammenbringen.“ Davor gab es den Ansatz kaum, höchstens noch in der sogenannten „Krüppelfrauenbewegung“, die sich in den Achtzigern aus der Krüppelbewegung gründete. Mixed Pickles startete mit geringen Mitteln. Gerade einmal drei halbe Stellen waren finanziert. „Sparsam ausgestattet, aber Frauen sind ja erstmal genügsam.“, lacht sie. Mittlerweile arbeiten 36 Personen beim Verein.
Der Frauenkreis ist ihnen sehr wichtig, betonen alle Teilnehmer*innen im Zoom-Call. Mona erzählt, dass sie mittwochs immer den Küchendienst ihrer WG habe. Eine Aufgabe, die ihr hörbar nicht so viel Freude bereitet. Wenn aber das Thema wieder auf das regelmäßige Online-Treffen kommt, hellt ihr Gesicht auf und sie gerät ins Schwärmen. Als sie mit ihren Ausführungen fertig ist, spricht sie direkt Birgit an: „Ich brauch dich. Magst du mal was erzählen?“ Die Angesprochene tut wie gewünscht: „Ich tanke hier viel Kraft. Hier haben sich viele gute Freundschaften entwickelt.“
Aber was unterscheidet Frauen mit Behinderung eigentlich von behinderten Männern oder Frauen ohne Behinderung? Sie seien noch häufiger von Gewalt betroffen, erklärt Kathrin Ziese im Gespräch. Und hier möchte Mixed Pickles die Frauen stärken. Daher ist der Gewaltschutz ein entscheidendes Anliegen von ihnen. Der Online-Frauen*-Kreis ist nur eins von vielen Angeboten, die Mixed Pickles bietet und die hier nur im Schnelldurchlauf angerissen werden können. Der Verein betreibt einen Mädchen*- und Frauen*-Treff für Besucherinnen bis 27 Jahre. „Da bieten wir alles an, was ein Jugendzentrum auch hat, aber speziell für Mädchen mit Behinderung“. Es gibt außerdem ein Landesnetzwerk, um Gewaltschutzkonzepte und Stellungnahmen zu erarbeiten. Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Sensibilisierung der Frauenarbeit für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Zum Alltag gehört auch die Mitarbeit in den Arbeitskreisen mit und die Unterstützung Frauen in ihrem Wohnraum beim selbstständigen Leben.
Zurück im Zoom-Call. Das Thema zum Zeitpunkt des Interviews sind die Bundestagswahlen. Auch darüber wird gesprochen. Lena hat zwar bereits per Briefwahl gewählt, aber auch eine starke Meinung: „Ich wusste nicht, wen ich wählen soll. Die machen alle Mist!“ sagt sie und lacht. Andere benötigen Unterstützung beim Wählen und berichten davon. Kathrin Ziese formuliert in unserem Gespräch konkrete Anliegen an politisch Verantwortliche. Die UN-Behindertenrechtskonvention müsse endlich umgesetzt und Inklusion ernst genommen werden. In der Konvention gäbe es übrigens auch Aussagen speziell zu Frauen mit Behinderung. Zuletzt nennt Frau Ziese, das wohl die meisten in der Wohlfahrt gerade umtreibt: „Und natürlich brauchen wir eine viel bessere Finanzierung!“
Die Themen wechseln schnell. Es gibt einiges zu besprechen. Birgit erzählt, dass einige im Frauenkreis das gemeinsame Hobby Handpuppen verbindet. Das ist für Mona das Stichwort: „Ich habe auch eine Handpuppe. Die heißt Lilly.“ Und schon winkt Lilly aus Monas Kachel freundlich den anderen Teilnehmer*innen entgegen, die zurückwinken. „Sie hilft mir, wenn ich mal nicht so gut drauf bin.“ Und wenn die Puppe mal nicht Hilfe genug ist, gibt es die Freundinnen im Online-Frauen*-Kreis.
Philipp Meinert