
Jungen*arbeit - Wie jetzt?
In unserer Gesellschaft, in der traditionelle Rollenbilder vermehrt wieder aufleben, stehen Jungen vor besonderen Herausforderungen. Überholte Männlichkeitsvorstellungen können ihre Entwicklung stark einschränken. Der Wandel hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit wird oft als Verlust von "traditioneller Männlichkeit" wahrgenommen. Doch dieser Wandel bietet auch neue Chancen zur Selbstentfaltung. Jungen können lernen, dass Stärke nicht nur körperlich, sondern auch emotional sein kann. Verletzlichkeit, Fürsorge und Empathie sind wertvolle Eigenschaften. Der vermeintliche Verlust von "traditioneller Männlichkeit" kann somit auch als Befreiung von überholten Rollenbildern wahrgenommen werden.
Hier setzt die geschlechterreflektierte Jungenarbeit an. Sie setzt sich mit den Bedürfnissen und Lebenswelten von Jungen auseinander. Jungen sind unterschiedlich und ihre Lebenswelten sind vielfältig. Sie haben verschiedene Interessen, Stärken und Schwächen. Deshalb braucht es unterschiedliche Angebote, um sie zu unterstützen. Die Jungenarbeit nimmt diese Vielfalt ernst. Sie bietet Jungen einen „Raum“, in dem sie sich ausprobieren und ihre eigene Identität entwickeln können. Es geht darum, ihnen Mut zu machen, ihre Gefühle zu zeigen und ihre Stärken zu entdecken.
Männliche Jugendliche sind häufig von körperlicher und psychischer Gewalt betroffen, sowohl im öffentlichen Raum als auch im sozialen Umfeld. Laut Kriminalstatistik sind sie überproportional oft Opfer und auch Täter von Gewaltverbrechen, was präventive Maßnahmen und stärkere Unterstützungssysteme erfordert. Als aktuelles Beispiel kann hier „Social Media“ genannt werden. Social Media Plattformen haben einen hohen Stellenwert für die Identitätsbildung von jungen Menschen. Doch was passiert, wenn Jungen dort ständig mit unreflektierten Männlichkeitsbildern konfrontiert werden? Die Jungenarbeit kann hier eine entscheidende Rolle spielen, indem sie Jungen hilft, sich kritisch mit diesen Bildern auseinanderzusetzen und ihre eigene Identität davon unabhängig zu entwickeln. In Online-Spielen sind Jungen oft alleine und schutzlos ausgeliefert. Mobbing und Ausgrenzung sind dort weit verbreitet. Hier benötigen sie Unterstützung. Es ist wichtig, das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen und Räume für offene Gespräche zu schaffen, damit die Betroffenen ihre Erfahrungen verarbeiten können. Denn „Opfer-sein“ und „Junge-sein“ ist heute immer noch ein Widerspruch.

Jungen und männliche Jugendliche sollten die Möglichkeit haben, ihre fürsorgliche Seite zu erleben und zu entwickeln. Indem sie Verantwortung übernehmen, lernen sie, was es bedeutet, für sich und andere zu sorgen. Das Ergebnis ist eine fürsorgliche Männlichkeit, die nicht nur ihnen selbst, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommt. Projekte aus der Jungenarbeit können hier wertvolle Impulse geben und neue Wege aufzeigen. Es ist wichtig, männlichen Jugendlichen zu helfen, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und sich aktiv für Geschlechter- und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Wenn sie in diesen Prozess einbezogen werden, lernen sie, sich für die Rechte aller Geschlechter einzusetzen, was das Gemeinschaftsgefühl stärkt und das Verständnis für Diversität fördert.
Jungen von heute sind die Männer von morgen. Unsere Gesellschaft profitiert davon, wenn sie in einer Welt aufwachsen, in der Vielfalt und Gemeinschaft zählen. Jungenarbeit kann auf individueller Ebene wirken, sollte aber auch strukturelle Veränderungen im Blick haben. Dies ist heutzutage umso wichtiger denn je. Um Gleichberechtigung für alle Geschlechter zu erreichen, sollte geschlechterreflektierte Pädagogik fest in der Bildungsarbeit verankert werden.
Marc Melcher ist Diplom-Pädagoge und arbeitet beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband in Frankfurt am Main