
Schutz- und Gerechtigkeitslücken, die es zu schließen gilt
Was erwarten wir in punkto Geschlechtergerechtigkeit von der nächsten Bundesregierung? Nun, das Verb „erwarten“ verbindet bekanntlich zwei Dimensionen: das pessimistische Befürchten und das optimistische Erhoffen. Was die nächste Regierung wirklich liefern wird, liegt im Bereich der Vermutungen. Einerseits scheiterte soeben die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Bundestag, was eher Anlass für Befürchtungen gibt. Andererseits verständigten sich die demokratischen Parteien gemeinsam im Bundestag auf das Gewalthilfegesetz, was sehr ermutigend ist. Doch wenden wir uns den Fakten zu, anstatt uns im Bereich der Spekulationen zu verheddern. Und Fakt ist, in punkto Geschlechtergerechtigkeit gibt es noch viel zu tun. Schließlich gibt es viele Gerechtigkeitslücken und Schutzlücken, die es zu schließen gilt. Im Folgenden sind einige aufgeführt, die unseren gemeinsamen Einsatz erfordern – auch gegenüber der kommenden Bundesregierung:
1. Schutz vor häuslicher Gewalt
Es gibt Zahlen, hinter denen verbergen sich so schreckliche Schicksale, dass wir uns nicht daran gewöhnen können, auch wenn wir sie schon oft gehört haben, viel zu oft. Wie den Umstand, dass etwa jede vierte Frau mindestens einmal im Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner erlebt hat. 247 Mädchen bzw. Frauen starben im Jahr 2023 in Folge häuslicher Gewalt. Diese Zahlen rufen danach, zu handeln und die Schutzlücken zu schließen. Doch immer noch müssen wichtige Schutzräume wie Frauenhäuser von Gewalt betroffene Menschen abweisen, weil sie nicht ausreichend Plätze haben und nicht ausreichend finanziert werden. Das nun beschlossene Gewalthilfegesetz, das in Folge von beharrlicher und intensiver sozialer Lobbyarbeit gegenüber den Abgeordneten im Bundestag vor der Neuwahl beschlossen wurde, stellt einen echten Fortschritt dar. Es muss nun entsprechend in der Praxis auch zum Tragen kommen. So gilt es beispielsweise aufzupassen, dass die Länder nicht in Reaktion auf die zusätzlichen Bundesmittel die Landesmittel für Gewalthilfe einsparen. Diese Gelder werden für den Ausbau von Hilfen für Gewaltbetroffene benötigt.
Die Unterstützung von Präventionsarbeit, Beratung und (Frauen-)Schutzhäusern gehört zu den Aufgaben, denen sich der Paritätische – als größter Anbieter in diesem Bereich – mit Herzblut verschrieben hat. Auf eins muss sich insofern jede Regierung einstellen: Wir werden nicht locker lassen bei unserem Einsatz für eine ausreichende verlässliche Finanzierung von Beratungsstellen, von Orten der Präventionsarbeit und von Frauenhäusern.

2. Aufklärung über die Gefahr der Argumentationsfigur Bindungsintoleranz
Frauen, die von häuslicher Gewalt bedroht sind, erleiden bereits unvorstellbar Grausames. Doch damit nicht genug. Frauenfeindliche Netzwerke verbreiten seit Jahren gezielt eine juristische Argumentationsfigur, die das Leiden dieser Frauen vertieft und sie gleich durch die nächste Hölle jagt. Die Rede ist vom Vorwurf der Bindungsintoleranz. Hinter diesem sperrigen Wort versteckt sich folgender Argumentationsgang: Es wird unterstellt, dass bei einem Sorgerechtsstreit ein Elternteil versucht, die Bindung des Kindes zum anderen Elternteil zu verhindern. Auffällig ist dabei, dass bei der Verbreitung dieser Argumentationsfigur schnell mal Frauen, die häusliche Gewalt bzw. Missbrauch erlebten und dies thematisieren, unter Generalverdacht gestellt werden. Wenn Familiengerichte oder Gutachter oder Jugendämter dem Entfremdungs-Vorwurf folgen, wird womöglich den Müttern, die Gewalt erlitten, das Sorgerecht aberkannt und ihr Umgangsrecht nur sehr eingeschränkt (womöglich nur wenige Stunden unter Aufsicht) gewährt. Teilweise kam es in dem Zusammenhang schon zu staatlich angeordneten, rabiat durchgesetzten Inobhutnahmen, bei denen das Kind von der Polizei aus dem Haushalt der Mutter herausgeholt und zum Vater gebracht wurde. Inzwischen gibt es erste Berichte, wonach in einigen Gegenden Frauen, die sich vom gewaltsamen Vater ihrer Kinder trennen wollen, nahegelegt wird, die Gewalt nicht zu thematisieren. Sonst könne ihnen unterstellt werden, sie wollten das Kind vom Vater entfremden.
Und leider häufen sich die Indizien, dass frauenfeindliche Netzwerke gezielt diese Argumentationsfigur bei Familiengerichten, Jugendämtern und Gutachtern verbreiten. Dabei arbeiten sie darauf hin, dass von häuslicher Gewalt betroffene Frauen unter dem Generalverdacht der Bindungsintoleranz stehen. Gelegentlich wird von diesen frauenfeindlichen Netzwerken in dem Kontext auch von Entfremdungs-Annahme oder PAS-Annahme (Parental Alienations-Syndrom) gesprochen. Verschiedene Forschungsergebnisse belegen die Unwissenschaftlichkeit dieses Konstrukts und das Bundesverfassungsgericht hat sich im Jahr 2023 eindeutig gegen die PAS-Annahme ausgesprochen: „Soweit ersichtlich besteht nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils“ (BVerfG, Entscheidung vom 17.11.2023).
Wir meinen: Kein Mensch, der von häuslicher oder partnerschaftlicher Gewalt bedroht oder betroffen war, sollte Angst haben müssen, diese Gewalt in Sorgerechtsauseinandersetzungen zu thematisieren. Insofern ist hier Aufklärung gefragt. Dafür regen wir an, dass das Justizministerium eine Expertise zu Netzwerken, die diese Argumentationsfigur in frauenfeindlicher Absicht verbreiten, erstellt.
Häusliche Gewalt und die Frage nach Sorge- und Umgangsrecht sind häufig nicht zu trennen und müssen qualifiziert in den Entscheidungen von Jugendämtern und Gerichten mitgedacht werden. Entsprechende gesetzliche Regelungen müssen angepasst werden: Da, wo häusliche Gewalt in getrennten Beziehungen und im Streit um Sorge- und Umgangsrecht eine Rolle spielt, muss im Sinne des Kindeswohl das Sorgerecht und der Umgang geregelt werden. Kindeswohl sollte immer vorgehen bzw. darf das Sorgerecht nicht den Gewaltschutz aushebeln. Und dabei ist zu berücksichtigen, dass wer häusliche Gewalt ausübt, immer auch das Kindeswohl gefährdet.
3. Die Einkommenslücke schließen
Nach wie vor klafft eine Einkommenslücke zwischen den durchschnittlichen Einkommen von Männern einerseits und Frauen andererseits. So beträgt der unbereinigte Gender-Pay-Gap aktuell 16 Prozent. Niedrige Erwerbseinkommen bei Frauen führen zu niedrigeren Renten. Der Gender-Pension-Gap beträgt aktuell 27,1 Prozent, wenn man die Hinterbliebenenrenten mit einberechnet. Ganz zu schweigen davon, dass Alleinerziehende, die immer noch zum Großteil weiblich sind, ein deutlich höheres Armutsrisiko haben. Die Ursachen dafür haben nichts, aber auch gar nichts mit einer geringeren Leistung zu tun. Eine der Ursachen liegt vielmehr darin begründet, dass man von weiblich gelesenen Menschen immer noch eher Bescheidenheit erwartet und sie auch dementsprechend in Gehaltsverhandlungen behandelt werden. Eine weitere Ursache besteht darin, dass in der Gesellschaft Mädchen eher auf Arbeiten mit Menschen orientiert werden, z.B. auf Soziale Arbeit oder Pflege. Diese Arbeiten sind anspruchsvoll und für unsere Gesellschaft unverzichtbar, sie werden aber in der Regel schlechter entlohnt als Geschäfte mit Geld oder Waren.
Ein Instrument von vielen, um die Einkommenslücke zu verkleinern, besteht darin, Arbeit mit Menschen besser zu entlohnen und das beginnt auch damit, gemeinnützige Arbeit verlässlicher und auskömmlich zu finanzieren.

4. Vier-in-einem-Perspektive statt Gender Care Gap: für eine gerechte Aufteilung der Tätigkeiten
Letztlich basiert die Gerechtigkeitslücke bei Einkommen und Renten auf einer ungerechten Verteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern. Der Gender Care Gap aus der Zeitverwendungserhebung versucht diese ungleiche Verteilung abzubilden. Er beträgt 44,3 Prozent und er besagt konkret: Frauen verwenden täglich durchschnittlich 79 Minuten mehr für unbezahlte Sorgearbeit als Männer.
Im Klartext: Frauen übernehmen überdurchschnittlich unterbezahlte oder unbezahlte Sorgearbeit, z.B. die Pflege von Angehörigen oder die Kinderbetreuung. Infolgedessen bleibt weniger Zeit für gutbezahlte, einflussreiche Jobs.
Diese ungleiche Verteilung ist für alle Seiten mit Nachteilen verbunden. Denjenigen in männlich gelesenen Funktionen werden dadurch Zeit und Teilhabe an der wunderbaren, Liebe stiftenden Familienarbeit vorenthalten. Denjenigen in klassischen weiblichen Erwerbsbiographien werden Einfluss und höhere Einkommen vorenthalten. Die Feministin Frigga Haug bietet dazu ein alternatives Leitbild an. Ihre Vier-in-Einem-Perspektive spricht sich dafür aus, dass im Leben von Männern und Frauen und allen, die nicht in die Zwei-Geschlechter-Ordnung passen (wollen), gleichermaßen Zeit sein sollte für die vier gleichberechtigten Tätigkeitsfelder: erstens Erwerbsarbeit, zweitens Familien- und Sorgearbeit, drittens demokratische Teilhabe und politische Einmischung und viertens Arbeit an der eigenen Weiterentwicklung bzw. Beschäftigung mit Kunst und Kultur oder Weiterbildung.
Diese Gerechtigkeitslücke bei der Verteilung der Tätigkeiten zu schließen, ist anspruchsvoll. Gute Kitas mit einem ausreichenden Betreuungsschlüssel, Schulen, in denen Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende ausreichend Zeit und Raum haben, auf die besonderen Bedarfe der Kinder einzugehen und auszugleichen sowie gute Pflegeeinrichtungen, finanziert durch eine Pflegevollversicherung sind wichtige Mittel, um diejenigen zu entlasten, die sich vorrangig um die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen in den Familien kümmern. Eine andere Arbeitskultur, die in allen Bereichen Raum für Familie und Leben lässt, gehört ebenfalls unverzichtbar dazu.
5. Stärkung sexueller und reproduktiver Freiheit
Beim Thema sexuelle und reproduktive Rechte steht die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oben auf der Agenda. Dazu gehört die Abschaffung des § 218 StGB, die überfällig ist, sowie bessere gesundheitliche Versorgungsangebote für Frauen, die ungewollt schwanger wurden. Leider scheiterte im Februar 2025 ein entsprechender fraktionsübergreifender Antrag von SPD, Grünen und LINKEN-Abgeordneten an der geschlossenen Blockade der CDU- und der FDP-Fraktion. Hier ist also noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.
Aufklärung ist ein wichtiger Grundbaustein für den selbstbestimmten Umgang mit sexuellen und reproduktiven Rechten. Insofern sind sexualpädagogische Angebote auszubauen und nicht zurückzufahren. Dies gilt umso mehr, da rechte, erzkonservative sowie evangelikale Kräfte auf ein Roll-Back in angeblich „weibliche“ und „männliche“ Rollen hinarbeiten.
Freiheitsrechte gehören auch materiell unterfüttert, damit sie für alle gelten und nicht am Geldbeutel scheitern. Deshalb engagiert sich der Paritätische weiterhin für die Kostenfreiheit von Verhütungsmitteln für junge Menschen und Menschen im Transferleistungsbezug bundesweit und einheitlich über die Krankenkassen.
Schutz- und Gerechtigkeitslücken in Zahlen
- 16 Prozent: Gender Pay Gap (unbereinigter durchschnittlicher Lohnunterschied)
- 44,3 Prozent: Gender Care Gap
- 79 Minuten verwenden Frauen täglich durchschnittlich mehr für unbezahlte Sorgearbeit als Männer.
- 27,1 Prozent: Gender Pension Gap (Unterschied der Rentenhöhe unter Einbeziehung der Hinterbliebenenrente)
- 247 Frauen starben im Jahr 2023 in Folge häuslicher Gewalt.
- Jede 4. Frau erlebt mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner.