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Ausgabe 02 | 2022: Vorfahrt für Gemeinnützigkeit
Schwerpunkt
DJH/Gohlke

„Houston, wir haben ein Problem“

Jugendherbergen als Booster für die Wirkungskraft von Jugendarbeit - warum sie gerade jetzt dringend Starthilfe brauchen. Aus dem DJH-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e. V. berichten Miriam Gedrose, Kommunikations- und Produktverantwortliche und Vorstand Kai-Michael Stybel zur aktuellen Lage.

Es ist eine Kindheitserinnerung, die nahezu jeder kennt: Die Zeit in einer Jugendherberge oder einem Schullandheim. Lachen, Toben, Spielen, die Welt erkunden. Gemeinsam in der Gruppe. Ein tolles Gefühl.

Gemeinnützige Jugendreiseanbieter sind wichtiger Bestandteil von Jugendarbeit und Schule. Die Fahrten mit der Klasse, dem Sportverein oder dem Chor sind mehr als beliebige Urlaubsreisen. Hinter ihnen steht ein Konzept.

„Was sonst einmal in der Woche im Jugendtreff oder Musikverein stattfindet, kann sich hier eine Woche lang mit voller Wucht entfalten. Es wird verstärkt und wirkt nach“, erklärt Miriam Gedrose, die als Produktverantwortliche im DJH-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern das Gästeerlebnis vor Ort genau im Blick hat und den Wert der Jugendreise bildhaft beschreibt: „Die Fahrt in die Jugendherberge ist sozusagen der Booster für die Wirkungskraft von Jugend- und Sozialarbeit. Der Begriff Booster kommt ja eigentlich aus der Raketentechnik: Abheben, neuen Horizonten entgegenfliegen und gestärkt wieder im Alltag landen.“  

Fahrten in Jugendherbergen, so Gedrose, haben Tradition. Sie bieten in konzentrierter Form das, was Jugend- und Sozialarbeit mit ausmacht: Teilhabe, soziale Gemeinschaft, Ich-Stärkung. „Zu dieser Tradition gehört, dass viele Träger über Jahrzehnte hinweg in dasselbe Haus fahren. Und siehe da: Dieses Stammhaus wird oft von einem gemeinnützigen Träger geführt.

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Freiraum! Jugendliche haben in der Jugendherberge jede Menge Raum um neue Erfahrungen zu machen.

Gedrose ist überzeugt: Sozial- und Jugendhilfeträger finden bei gemeinnützigen Jugendreiseanbietern eine Übereinstimmung in ihren Normen und Werten, im Umgang und im Verständnis füreinander. „Bei uns weiß man, welche Unterstützung ein ehrenamtlich auf die Beine gestelltes Feriencamp braucht“, erzählt sie begeistert. „Unsere Teams räumen für die Morgenandacht den Speisesaal um und tauschen das Snackangebot für’s Diabetes-Feriencamp aus. Sie haben einen riesigen Erfahrungsschatz für die Vielfalt der Gruppen die zu uns kommen. Da gibt es kein Schema F, sondern ganz viel Flexibilität.“ Von diesem Einfühlungsvermögen würden auch Schulen als zweite Hauptgästegruppe der gemeinnützigen Kinder- und Jugendübernachtungsstätten profitieren, erläutert Gedrose weiter: „Wir bieten Medien- und Umweltbildung oder erlebnispädagogische Formate an. Dabei geht es uns um die Stärkung der sozialen Lerngemeinschaft, die im Schulalltag oft zu kurz kommt.“ Die perfekte Ergänzung, der perfekte Booster auch hier. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Die Maxime: nicht der größtmögliche Gewinn zählt, sondern die, für die Jugendarbeit ein verlässlicher Partner zu sein.

DJH-Verbandsvorstand Kai-Michael Stybel ergänzt: „Nicht, dass hier nicht auch wirtschaftlich gedacht werden müsste: Gemeinnützige Beherbergungsbetriebe hält niemand am Leben. Wir bekommen keine staatliche Grundsicherung, wie viele denken. Wir müssen genug Ertrag erwirtschaften um unseren Erhalt zu sichern. Aber: Im Mittelpunkt unserer  Arbeit steht das Gemeinwohl als satzungsgemäßer Auftrag“, so der DJH-Vorstand

Traditionen müssen gepflegt werden, damit sie nicht verkümmern

Gerade in Coronazeiten sind diese Anker im Schul- und Jugendarbeitsjahr, sind diese traditionellen jährlichen Fahrten wertvoller denn je. Sie bringen ein Stück Routine zurück nach der langen sozialen Isolation, nach Homeschooling und den unermesslichen Entbehrungen sozialer Gemeinschaft.

Aber Traditionen müssen gepflegt werden: Wenn man sich gezwungenermaßen zeitweise von ihnen entwöhnen muss und die Voraussetzungen zur Durchführung fehlen, kann auch eine gewachsene Routine schnell Vergangenheit sein. Und genau das ist passiert: Jugendchöre, Orchester und Sportvereine finden erst langsam wieder zurück in die Routine von Präsenz-Aktivitäten.

Gedrose skizziert es weiter bildhaft:  „Für den fulminanten ‚Jugendherbergs-Raketen-Boosterflug‘ hat vielen Schulen und Gruppen in den letzten beiden Corona-Jahren jede Kraft gefehlt und immer öfter auch die Besatzung.“

Problematisch: Jugendabteilungen fehlen zwei Jahrgänge im Neuzugang. Für die Vereinsarbeit sind viele Ehrenamtliche, die Fahrten mit viel persönlichem Engagement auf die Beine stellen, nicht mehr da. So entwöhnt man sich von der jahrzehntelangen Fahrtentradition, konzentriert sich – verständlicherweise – auf die Aufbauarbeit.

Im Bereich der Klassenfahrten zeichnet Stybel ein ähnlich düsteres Bild: „Seit zwei Jahren regulieren 16 Bundesländer betont unabhängig voneinander und kurzfristig die Erlaubnisse und Verbote für Schulfahrten. Das führt bei Lehrer*innen zur maßlosen Verunsicherung. Man legt geplante Fahrten erst mal auf Eis.“ Zeit und Ressourcen werden geschont, Prioritäten verschieben sich. „Natürlich muss der Schulalltag zunächst wieder hergestellt werden, es gilt, Lernstoff aufzuholen.“, bekräftigt Stybel.

Aber: Der Zusammenbruch der sozialen Gemeinschaft trifft alle Beteiligten hart: In erster Linie die Kinder und Jugendlichen. „Die psychischen und sozialen Folgen sind enorm. Darauf kann nicht häufig genug aufmerksam gemacht werden.“, meint Stybel und fordert: „Politik und Gesellschaft müssen eine viel stärkere und wirksamere Priorität auf das Wohl von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise legen.“

Denn insgesamt büßten allein in Mecklenburg-Vorpommern die in der amtlichen Statistik M-V erfassten „Jugendherbergen und Hütten“ während der zwei Corona-Jahre 2020 und 2021 durchschnittlich zwei Drittel der sonst üblichen Übernachtungen ein. Auf Bundesebene waren es laut Statistischem Bundesamt in 2020 und 2021 im Durchschnitt ein Minus von 63 Prozent.

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Lagerfeuer gehört einfach dazu und ist Teil der über 100 Jahre alten Jugendherbergstradition.

Die damit verbundenen Einnahmeausfälle seien für gemeinnützige Träger besonders fatal, berichtet der DJH-Vorstand, denn: Aufgrund steuerrechtlicher Vorgaben dürfen gemeinnützige Träger über keine Kapitalrücklagen verfügen, auf die man in Krisenzeiten hätte zurückgreifen können. Rettungsschirme begrenzten sich auf ein absolutes Minimum des Ausgleichs von Verlusten. Dadurch sei ein massiver Investitionsstau entstanden.

„Was wir gemeinnützige Träger jetzt bräuchten, wäre ein Superjahr, in dem die Gäste nach langer Entbehrung nur so strömen“, meint Stybel. „Aber solange Schule, Jugend- und Sozialarbeit nicht zur Normalität zurückkehren, wird nichts strömen, da wird keine Booster-Rakete abheben.“  Einmal mehr stellen sich gemeinnützige Anbieter auch hier auf ihre Gäste ein, lockern Stornobedingungen, beraten zu aktuellen Verordnungslagen, garantieren mit Hygienekonzepten einen sicheren Aufenthalt und gehen mit viel Verständnis und Geduld auf ihre Stammgäste ein.

Unterstützung auf politischer Ebene

„Aber das wird nicht reichen“, meint Stybel. Damit die vielfältige gemeinnützige Trägerlandschaft auch nach der Krise noch ihren Zweck erfüllen kann, bedürfe es konkreter Unterstützung auf politischer Ebene:

„Kinder- und Jugendgruppenfahrten müssen aktiv reaktiviert werden. Hier reicht keine politische Absicht“, das ist Stybels Überzeugung. Förderinstrumente, die die Zielgruppen ohne großen Organisationsaufwand abrufen und abrechnen können seien eine Lösung, meint er: „Vom groß angelegten Förderprogramm ‚Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche‘ mit einem Gesamtbudget von zwei Milliarden Euro wird ein Großteil nicht abgerufen. Corona-Einschränkungen und Strukturverlust bei Vereinen und Ehrenamtlichen verhindern, dass die Fahrten zustande kommen.“

Außerdem müsse schulisches Reisen auf allen Ebenen gewollt und als systemischer Pflichtbestandteil von Schule anerkannt sein: „Außerschulische Lernorte müssen als Chance und Ausweg aus der Corona-Krise verstanden werden, weil sie das soziale Miteinander fördern“, fordert Stybel.

Neben der aktiven Reaktivierung der Zielgruppe, würden zudem Investitionsmittel benötigt, die nicht nur erhalten, sondern auch Zukunft sichern:

„Für gemeinnützig arbeitende und als Jugendhilfeträger anerkannte Kinder- und Jugendübernachtungsstätten müssen spezifische Investitionsmittel den Erhalt und die Weiterentwicklung langfristig absichern“, fordert er.

Aber auch mit all dieser Verstärkung werde der Weg zurück in die Normalität lang, gibt Gedrose noch mal zu bedenken: „Aber wenn alle Beteiligten den Wert von dem erkennen, was da gerettet werden muss, wäre zumindest ein Anfang gemacht.“

Für das Anknüpfen an eine einst sehr lebendige Tradition und dafür, dass Kinder und Jugendliche aus dem (Krisen-)Alltag zu neuen Horizonten abheben und gestärkt zurückkehren können.

Miriam Gedrose

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