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Ausgabe 02 | 2025: Selbsthilfe25
Schwerpunkt
Andreas Greiwe

Aus dem Neuland in das ganze Bundesland

Andreas Greiwe ist jemand, den man zurecht als Urgestein der Selbsthilfeszene bezeichnen kann. Noch ist er Fachgruppenleiter Selbsthilfe/-Kontaktstellen beim Paritätischen Landesverband NRW. Jetzt steht der 65-Jährige kurz vor der Rente. Ein guter Anlass, um seine Biografie zu dokumentieren.

Seit über 40 Jahren bin ich mit dem Thema Selbsthilfe befasst. 1985 schrieb ich als angehender Politikwissenschaftler an der Uni Münster meine Magisterarbeit über Selbsthilfegruppen. Da war ich Mitte 20. Die Selbsthilfe war damals ein weitgehend neues Thema. Nicht einmal mein Professor wusste viel darüber. Es gab kaum Fachliteratur, so dass ich mich fast nur aus Pressearchiven bedienen konnte und den persönlichen Kontakt zu den Aktiven in der Selbsthilfeunterstützung suchte. 

Zunächst wusste ich gar nichts mit diesem Uni-Abschluss anzufangen, aber wie es der Zufall wollte, habe ich in der Zeitung einen Artikel gelesen. Der damalige Sozialdezernent von Münster behauptete, seine Stadt wäre Vorreiterin in der Selbsthilfeförderung. Davon habe ich ehrlicherweise zu diesem Zeitpunkt nichts mitbekommen, obwohl ich in Münster gelebt und studiert habe. Daraufhin habe ich ihm geschrieben, er hat mich eingeladen und ich wurde sofort eingestellt. Meine Aufgabe war die Entwicklung eines Modells, wie eine größere Kommune Selbsthilfegruppen fördern kann. Heute ist das weit verbreitet, Mitte der 80er war das absolutes Neuland.

Immer mehr Kontaktstellen

Etwas später hat das damalige Bundesgesundheitsministerium einen ersten Modellversuch zu Selbsthilfekontaktstellen gemacht. Man wollte deutschlandweit 20 Kontaktstellen auf den Weg bringen und schauen, was dann passiert. Als das damit beauftragte Forschungsinstitut überlegte, wer im Projekt mitarbeiten konnte, hat man sich daran erinnert, dass es in Münster einen Politikwissenschaftler gibt, der dazu seine Magister-Arbeit verfasst hat und der bereits ein gut funktionierendes Modell entwickelt hat. So bin ich dann drei Jahre nach Köln gegangen und habe Forschung betrieben. Da es aber zwischenzeitlich in Münster eine Selbsthilfekontaktstelle in Trägerschaft des Paritätischen gab und ich gern wieder in meine Heimat zurückwollte, ging ich Anfang der neunziger Jahre dorthin. Für mich war praktisch, dass zwischenzeitlich auch der frühere Sozialdezernent, der mein erstes Selbsthilfe-Projekt sehr unterstützt hat, zum Kämmerer aufgestiegen ist und sehr unterstützend war. 

Nachdem ich bereits parallel sowohl in Münster als auch für den Paritätischen NRW gearbeitet habe, wollte man, dass ich komplett für den Landesverband tätig werde, mit dem Fokus auf Selbsthilfekontaktstellen. Als ich damit Ende 1998 anfing, hatten wir 12 Einrichtungen mit 25 Mitarbeiter*innen. Jetzt sind es 38 Selbsthilfekontaktstellen- und Büros in direkter Trägerschaft des Paritätischen NRW mit fast 120 Mitarbeiter*innen. Meine zentrale Aufgabe ist es, deren Arbeit zu unterstützen, zu koordinieren und die fachliche Weiterentwicklung voranzutreiben. Dazu dienen auch eine ganze Menge weiterer Projekte, etwa die „In-Gang-Setzer“, vielfältige Aktivitäten im Bereich der Kultursensiblen Selbsthilfe oder das Internetportal selbsthilfenetz.de, das größte seiner Art in Deutschland mit aktuell Infos zu über 8500 Gruppen aus NRW. Und vor über 10 Jahren durfte ich auch mit dabei sein, als der Paritätische Landesverband die erste Selbsthilfeakademie auf den Weg brachte, die dann Vorbild für weitere in anderen Bundesländern wurde.  

Die Gruppen unterstützen

Aber was machen die Kontaktstellen und die Büros eigentlich für die Betroffenen? Wenn jemand eine neue Gruppe gründen will, ruft er oder sie bei einer dieser Einrichtungen an. Die gibt es hier in NRW in jedem Kreis. Zunächst ist abzuklären, ob es bereits eine Gruppe zu dem nachgefragten Thema gibt. Entweder gibt es eine und auf die wird dann hingewiesen und ein Kontakt hergestellt oder wenn die bestehenden Gruppen nicht den Wünschen der Selbsthilfeinteressenten entsprechen, bietet die Kontaktstelle Unterstützung bei der Gründung einer Gruppe an. Im persönlichen Gespräch wird u. a. abgeklärt, welche Hilfe bei der Gruppengründung notwendig ist. Ob etwa eine Altersbegrenzung oder Spezifizierung der Zielgruppen (Betroffene und/oder Angehörige) ratsam sind. Auch Orte zum Treffen werden ausgelotet, denn wir empfehlen ausdrücklich, sich nicht privat zu treffen und helfen auch bei der Raumsuche. Zu guter Letzt wird die Öffentlichkeitsarbeit besprochen. Unsere Kontaktstellen haben alle einen Newsletter, und natürlich wird heutzutage auch verstärkt Werbung über Social Media gemacht. Doch für die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Selbsthilfe ist auch die lokale Tageszeitung weiterhin von großer Bedeutung, Interessierte können sich dann bei der Kontaktstelle melden. Wenn genug Menschen ihr Interesse bekundet haben, wird zum ersten Gruppentreffen eingeladen. Übrigens muss der Initiator oder die Initiatorin gar nicht zwingend die ganze organisatorische Arbeit machen und auf ewig für die Gruppe als „Leitung“ verantwortlich sein. Auch hier kann die Kontaktstelle nach der Gruppengründung noch weiter assistieren oder bei Krisen helfen. Auch bereits bestehende Gruppen erhalten natürlich Hilfe. Die Kontaktstellen unterstützen z. B. dabei, Geld von den Krankenkassen zu bekommen oder bei der Ansprache neuer Mitglieder.

Andreas Greiwe

Was sich über die Jahre verändert hat, ist, dass die Selbsthilfe in der Öffentlichkeit deutlich positiver als früher gesehen wird. Früher war die Selbsthilfe eher negativ belegt. Es gab sogar mal Debatten über eine andere Bezeichnung, etwa ob der in den Niederlanden verwendete Begriff „Selbstsorge“ nicht vielleicht doch besser wäre oder ob nicht die Rede von „Initiativen“ sein sollte … das ist aber alles abgeflacht. 

Früher dominierten die Themen chronische Erkrankung, Behinderung und Sucht bei uns. In den letzten Jahren ist der Bereich „Psychosoziale Belastungen“ extrem gewachsen und ist zu dem Schwerpunkt der Arbeit von Kontaktstellen geworden. Die Nachfragen nach Gruppen zu Themen wie Depressionen oder Ängste haben stark zugenommen. Auch das hätte es früher nicht so oft gegeben, weil diese Themen viel tabuisierter waren. Eigentlich sind es gleich zwei „Tabubrüche“. Es wird erstens zugegeben, dass man psychische Probleme hat und zweitens, dass man den Austausch mit anderen sucht, weil darin eine Chance gesehen wird, die eigenen Problem besser zu bewältigen. Da hat sich viel Positives in den letzten Jahren getan. Festzustellen ist aber auch, dadurch hat sich der Bedarf nach professioneller Unterstützung erhöht. 

Außerdem hat sich die Bedeutung digitaler Informationen geändert. Früher waren Selbsthilfegruppen ganz wesentlich für den Informationsaustausch wichtig. Heute schauen alle zunächst bei Dr. Google, was sie für eine Krankheit haben und was vielleicht helfen könnte. Viele glauben, dass ihre Fragen dann schon beantwortet seien oder denken, sie bekommen die Antworten mal schnell in den Gruppen geliefert und sie selber müssten sich dabei mit keinem persönlichen Beitrag einbringen. Diese Phase nenne ich die Rezept-Austausch-Phase. Bei der Selbsthilfe geht es aber nicht in erster Linie um die Weitergabe von faktenbasierten Informationen. Die originäre Qualität der Selbsthilfe ist die heilende Kraft der Gemeinschaft. Selbsthilfe in dem hier relevanten Sinn funktioniert eben nicht zuhause alleine im Stübchen, sondern nur in der Gruppe mit Gleichbetroffenen. Diejenigen, die das im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib erfahren haben, die bleiben dann auch länger der Gruppe treu. Sie haben verstanden, was das besondere Gut einer Selbsthilfegruppe ist: der Austausch, der persönliche Kontakt mit denen, die dasselbe Problem haben. Ich selbst war lange Jahre in einer Gruppe für Eltern mit behinderten Kindern. Irgendwann wusste ich natürlich alles über das Thema, aber dann kam die Phase, in der die Selbsthilfegruppe therapeutisch wirkt. Das war die Zeit, in der man merkt, dass man nicht alleine ist. Es ist wissenschaftlich belegt, dass die Lebensqualität steigt, wenn man in einer Selbsthilfegruppe ist. Pathetisch gesagt: Die heilende Kraft der Gemeinschaft erlebe ich nicht, wenn ich mich alleine am Monitor bei Google schlau mache, sondern zu realen Treffen gehe (das können auch digitale Treffen sein).

Selbsthilfe wird vielfältiger

Noch ein Punkt, der sich verändert hat, ist die Form der Selbsthilfe. Früher waren es vor allem klassische Treffen, auf denen man geredet und sich gegenseitig schlau gemacht hat. Das gibt es immer noch, aber heute gibt es vielfältigere Formen des Miteinanders. So entstanden in der Coronazeit „Selbsthilfe-Spaziergänge“ im Wald oder im Stadtpark, die auch nach der Pandemie fortgeführt wurden. Gemeinsame Freizeitaktivitäten gewinnen an Bedeutung und auch das Treffen mit Aktiven aus anderen Selbsthilfebereichen. Auch gibt es immer mehr Überschneidungen mit dem Freiwilligenengagement. Der Wunsch etwas zu verändern, um für sich und (!) für andere was zu tun, ist und bleibt dabei ein zentrales Anliegen. Ich habe ein schönes Beispiel einer Eltern-Selbsthilfegruppe, deren Kinder mehrmals die Woche für jeweils einige Stunden an eine Dialyse angeschlossen werden mussten. Diese Eltern wurden während der Wartezeiten im Krankenhaus immer weggeschickt, wollten aber nicht nur ins Café gehen. Die Gruppe hat dann erfolgreich einen Warteraum im Krankenhaus für sich erstritten, in dem die Eltern sich auch austauschen können. Davon profitieren nun auch die Menschen, die nicht Mitglied in der Gruppe sind. 

Die Selbsthilfe ist seit ihrem Entstehen immer vielfältiger und bunter geworden. Auch umfangreicher. Wir haben mal anhand unserer Zahlen in NRW hochgerechnet, dass die oft kolportierte Zahl von 80.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen für ganz Deutschland dies ganz gut wiedergibt. Rückblickend würde ich sagen: Für die Selbsthilfe kann man eine Menge drumherum machen, anbieten, fördern, ausprobieren. Aber man sollte immer aufpassen, dabei nicht den Kern der Selbsthilfe, ihre originäre Kraft, aus den Augen zu verlieren. Selbsthilfe ist deshalb so erfolgreich, weil es eine ganz simple Idee ist: Menschen, die ein gemeinsames Problem haben, treffen sich, tauschen sich aus und erleben das als persönliche Bereicherung und Stärkung.  „Selbsthilfe ist, wenn du das Wort ergreifst, das dir im Halse stecken geblieben ist.“ (F.-J. Schaarschuh) 

Andreas Greiwe 

Aufgeschrieben von Philipp Meinert 

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