
So spielen, wie man einfach ist
Gemeinsames Spielen stärkt den Zusammenhalt. Und das seit Jahrhunderten. Das klassische Brettspiel gibt es seit dem Altertum. Trotz zahlreicher Modernisierungen ist das alte Grundprinzip – also in den meisten Fällen Spielbrett, Figürchen und Würfel – bis heute unverändert. Auch seine Beliebtheit ist trotz der Zunahme von Freizeitmöglichkeiten weiterhin hoch. Zwei von drei Menschen in Deutschland spielen nach Eigenangaben gelegentlich bis häufig auf den bunten Brettern. Auch neurodivergente Menschen spielen natürlich. Für sie kann das Spielen noch einmal eine ganz andere Bedeutung haben. Welche, dass berichten eine Spielerin und zwei Spieler, die sich in Berlin-Pankow einmal im Monat zum Spielen treffen.
Das erste Gruppentreffen fand im Juli 2024 statt. Initiiert wurde es von der Teilnehmerin einer Selbsthilfegruppe. „Cansu kam damals in die Autisten-Selbsthilfegruppe von Oberlin Lebenswelten und schlug das einfach vor“, erklärt Markus die Anfänge der heutigen Gruppe. Die Idee fand Anklang und bis zu zehn Personen treffen sich seitdem regelmäßig im Stadtteilzentrum Pankow.
Nachdem Cansu die Organisation abgegeben hat, übernahm Grit ihre Aufgabe. Sie sitzt mir wie Markus virtuell im Zoom-Call gegenüber. Grit hat nach meiner Anfrage für diesen Text auch gleich die Koordination zum Gespräch übernommen. „Ich habe über die KIS vom Spieletreff erfahren, fand ihn von Anfang an gut und wollte unbedingt, dass er weitergeführt wird“, erklärt Grit ihre Motivation, die Arbeit zu übernehmen.
Was ist eine Neurodivergenz?
Neurodivergenz ist ausdrücklich keine Krankheit, sondern steht für die unterschiedlichen Formen und Funktionen, die das menschliche Gehirn ausbilden kann. Dazu können ADHS, Autismus, Legasthenie, Tourette oder auch Hochbegabung zählen. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren geprägt. Die Grundannahme ist, dass menschliche Gehirne unterschiedlich funktionieren, ohne dass es „normale“ und „richtige“ Hirne gibt, genau so wenig wie es „normale“ Körpergrößen oder „normale“ Hautfarben gibt.
Spielen kann für Menschen im neurodivergenten Spektrum eine besondere Bedeutung haben. „Für mich als diagnostizierter Asperger, sind soziale Interaktionen immer eine Schwierigkeit“, erklärt Markus. „In einem Umfeld, in dem aber klar ist, dass auch alle anderen Teilnehmenden die ein oder andere neurologische Abweichung aufweisen, ist man verzeihender, was Fehler im sozialen Umgang angeht. Im Spieletreff können gewisse soziale Normen ignoriert werden“, so Markus weiter. Er hocke sowieso schon viel zu häufig allein zuhause und eine Gruppe zu besuchen, in der er so akzeptiert wird, wie er ist, koste ihn deutlich weniger Überwindung.
Ähnlich sieht es Grit: „Es ist dieses Zusammensein mit Leuten, die auch anders sind. Das ist für mich total wichtig.“ Grit ist etwas älter als Markus, wie sie selbst sagt, und erinnert sich noch, dass Vieles im neurodivergenten Spektrum bis vor wenigen Jahren noch nicht diagnostiziert oder behandelt wurde. „Auch ich habe mich sehr spät mit mir beschäftigt. Bis dahin war mein Anders sein gleichgesetzt mit Falsch sein“, erklärt sie weiter. Mit Menschen zusammen zu sein, die auch anders sind, sei für Grit schlicht heil- und erholsam. Untereinander herrsche eine enorme Toleranz.
Im Vergleich zur klassischen Selbsthilfegruppe sei das Spielen für sie dort einfach entspannter, aber Züge der Selbsthilfe gäbe es dennoch: „Natürlich gibt es auch während des Spiels Austausch.“ Markus lehnt die Bezeichnung „Selbsthilfe“ für den Spieletreff im Vergleich mit seiner Autismus-Selbsthilfegruppe, die er auch besucht, ab. Diese sei nach dem klassischen Stuhlkreis-Prinzip organisiert, aber „der Spieletreff hat das signifikant weniger.“ Auch im Spieletreff könne man natürlich Fragen zur Neurodivergenz stellen und Antworten bekommen, aber das sei nicht der Kern. Markus: „Eigentlich ist es wie ein Kegelverein. Da geht man ja auch zum Kegeln hin und nicht, um über seine Steuererklärung zu reden.“ Grit hingegen ergänzt, dass der Selbsthilfe-Aspekt in der Spielegruppe für sie schon ein großer sei, da sie in keiner vergleichbaren Gruppe wäre. Der Spieletreff kann also komplett unterschiedlich von den Teilnehmenden wahrgenommen werden.

Thomas, der berufsbedingt ein bisschen später dazugestoßen ist, erklärt ebenfalls seine Motivation, in den Spieletreff zu kommen. Auch er fremdelt mit dem Stuhlkreis-Format: „Unsere Spielegruppe ist keine Therapiegruppe, sondern man ist hier zusammen mit Leuten, die so ticken wie man selbst.“ Es sei einfach locker und ungezwungen.
Locker und ungezwungen ist auch die Auswahl der Spiele. „Meistens spielen wir zu Beginn in einer großen Runde mit allen zusammen“, erklärt Grit. Oftmals steige man ein mit Geschicklichkeitsspielen und kurzen Spielen. Danach greife man oft zu den Klassikern wie Malefiz oder Halma. Auch Fantasy- und Rollenspiele oder Quiz seien beliebt. Es käme aber auch immer darauf an, wer was mitbringt, denn die Spiele würden von den Spielenden selbst ran gebracht. Da die Gruppe aber auch noch nicht so lange besteht, sei man noch in der Findungsphase. Thomas würde auch gerne mal Schach innerhalb der Gruppe ausprobieren, sagt er.
„Eigentlich haben wir zwei Gruppen. Einmal die, die Spiele wollen, bei denen man viel nachdenken muss und dann die, zu der ich gehöre, die eigentlich nur würfeln und drei Züge machen wollen. Ich muss bei meinem Job in der IT die ganze Woche über nachdenken,“ erklärt Thomas die innere Dynamik der Gruppe. Das löst bei Grit umgehend Fragezeichen aus: „Du sagst, du willst nicht denken, aber dann willst du Schach spielen?“ Das wäre für ihn kein Widerspruch sagt Thomas und verweist dabei auf seinen Autismus. Spiele, bei denen er nicht viel mit anderen interagieren muss, wie etwa Kartenspiele, wären für ihn die eigentlich leichten Spiele und damit keine Denkspiele. „Beim Schach sitzt man sich ja einfach nur gegenüber. Ich muss nichts sagen und mache irgendwann meinen Zug“, sagt Thomas. Ihm sei es besonders wichtig, seine Zeit mit Menschen zu verbringen, die sich auch ohne große Worte verstehen. „Oft habe ich das Gefühl, nicht verstanden zu werden. In der Gruppe brauche ich nichts aussprechen, weil jeder weiß, wie der andere tickt.“

Gelegentlich wirken die Stunden in der Selbsthilfegruppe auch nach und in seinen Alltag hinein, berichtet Markus: „Manchmal nehme ich aus der Spielegruppe mit, wie andere Menschen funktionieren und im Alltag habe ich dann Vergleichswerte bei ähnlichen Verhalten.“ Es hilft ihm beim Umgang mit anderen Menschen. Es passiere nicht furchtbar oft, sei aber schon vorgekommen. Grit sieht es fast genauso: „Das Zusammensein mit den anderen und unseren Umgang miteinander zu erleben, tut mir gut und hilft mir manchmal, mich in Alltagssituationen sicherer zu fühlen.“
Philipp Meinert
Lust darauf, mal mitzuspielen?
Der Spieletreff für neurodivergente Menschen trifft sich jeden dritten Samstag im Monat von 14.00 bis 18.00 Uhr im Stadtteilzentrum Pankow. Neue Mitspieler*innen sind herzlich willkommen, es wird jedoch vorab um Anmeldung gebeten. Weitere Informationen hier.