Zum Hauptinhalt springen
hier klicken um zum Inhalt zu springen
Ausgabe 02 | 2025: Selbsthilfe25
Schwerpunkt

Man hilft sich halt / Birbirinize yardım edin

Der Türkische Elternverein in Ratingen betreibt kultursensible Selbsthilfegruppen – zwischen Tradition, Bürokratie und gelebter Solidarität. Hilfe ist für viele selbstverständlich, doch der Verein schafft Raum für mehr: Struktur, Anerkennung und Gemeinschaft.

Autochaos am Parkplatz der Moschee in Ratingen-Tiefenbroich. Der Platz ist voll, einige Autos drehen schon wieder um, Staub wirbelt über den Ascheplatz. „Was ist hier los?“ – „Alle wollen ihre Pflicht tun“, sagt ein Mann lachend. Das Freitagsgebet ist laut Koran das wichtigste der Woche. Für viele Männer Pflicht, für einige auch Kür – mit dem Ziel, rechtzeitig einen Parkplatz und einen Platz im Café zu ergattern. 
 
Netzwerken auf Türkisch: Hinter der Moschee findet sich ein kleiner Markt für Lebensmittel, im Vorraum gibt es Tee, Gebäck, Gespräche. Sami Celik hat es pünktlich geschafft. Er läuft zum Café und stützt Ali Dogan am Arm. In gewisser Weise stützen sie sich gegenseitig. Ali Dogan hat nach einem Sturz eine Hirnblutung überstanden. „Ich kümmere mich um ihn“, sagt Sami Celik. 
 
Wir gehen in den Aufenthaltsraum, in dem vor dem Gebet reger Betrieb herrscht. Gemeinschaft ist hier ebenso wichtig wie das Gebet. Sami Celik ist 61 Jahre alt, Lehrer im Ruhestand, heute Gruppenleiter der Abteilung Gesundheit im Türkischen Elternverein Ratingen (TEV) sowie 2. Vorsitzender, Geschäftsführer und Kassenwart. Der 1988 gegründete Verein begann mit Bildungsarbeit, heute betreibt er Migranten- und Gesundheitsselbsthilfe – auf Augenhöhe, pragmatisch, empathisch. 
 
„Wir sind Menschen, auch wir werden krank“, sagt Sami Celik. Bei ihm selbst begann alles mit dem Guillain-Barré-Syndrom, einer seltenen Autoimmunerkrankung. Erst zu spät erkannt, führte sie zu einem vollständigen Zusammenbruch seines Körpers. Auf der Intensivstation konnte er nur noch die Zehenspitzen bewegen. Hilfe bekam für ihn eine neue Bedeutung. Beim Landesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte wurde er angesprochen: Ob er nicht eine Selbsthilfegruppe gründen wolle?

Sami Celik (rechts,) hilft Urnal Selahattin beim Gebet.

„Ich wusste 2010 nicht einmal, was eine Selbsthilfegruppe ist“, erinnert er sich. In der Türkei gibt es dafür keinen Begriff – dort helfe man sich eben einfach. In Ratingen und Umgebung fehlten kultursensible Angebote. Wegen der Sprachbarriere, wegen kultureller Unterschiede. Der Akademiker absolvierte eine Fortbildung, gründete 2011 die Selbsthilfegruppe für türkische Migrant*innen mit gesundheitlichen Einschränkungen. 

In der Türkei ist Pflege traditionell Familiensache 
 
Freitags trifft man ihn oft in der Moschee – nicht nur zum Beten, sondern auch, weil er hier viele erreicht. Im Café bestellt Ali Dogan drei Lahmacun. „Nehmen Sie“, sagt er. Wir nehmen. Auch Selahattin Ciftci setzt sich zu uns. Seine Tochter pflegt ihn – und bekommt dafür Pflegegeld. „Viele wissen nicht, dass es so etwas gibt“, erklärt Sami Celik. In der Türkei ist Pflege Ehrensache. 
 
Selahattin Ciftci lebt seit über 50 Jahren in Deutschland, hat in einer Ziegelei gearbeitet. Briefe vom Amt kann er oft nicht verstehen. Sami Celik hilft – beim Rentenantrag, beim Plan, wieder „nach Hause“ zu gehen. Hinter unserem Tisch hängen Bilder vom Bosporus, von Kappadokien, Heißluftballons im Sonnenuntergang – Orte der Sehnsucht. Ein Stück Heimat, ein Stück Ferne. 
 
Der erste Gebetsaufruf ertönt, Sami Celik wird unruhig. „Wenn Sie noch Fragen haben, später gern“, sagt er und bringt mich zur Tür. Im Treppenhaus hängt eine digitale Anzeige mit den Gebetszeiten – sie richten sich nach dem Stand der Sonne. Im Café beten gleich jene, die nicht mehr gut Treppen steigen können, Celik hilft ihnen bei den Vorbereitungen. Draußen hallt der Ruf des Muezzins – das Autochaos bleibt. 

Zwischen zwei Welten 
 
Abends trifft man Sami Celik im Vereinshaus. Es steht am Rand eines Sportplatzes in Ratingen-Mitte. An der Glastür hängt ein Aushang: „Achtsame Kommunikation – Gemeinsam über Bedürfnisse und Emotionen sprechen“. Eine neue Selbsthilfegruppe. Drinnen wird gerade umgebaut – eine gespendete Küche soll bald eingebaut werden. 

Rommé auf den Rasen: Beim Spiel wird diskutiert und unterstützt.

Der 61-Jährige führt durch die Räume. An den Wänden hängen Werke aus Malkursen. Eines stammt von Sami Celik: ein anatolisches Dorf, farbenfroh, aus der Erinnerung gemalt. An der hinteren Wand des Versammlungsraums hängt ein Banner mit dem Porträt von Mustafa Kemal Atatürk. „Das haben wir 2023 gefeiert – 100 Jahre Staatsgründung“, erzählt Celik. Das türkische Konsulat war wenig begeistert. Feiern wie diese seien staatlichen Einrichtungen vorbehalten. Atatürk selbst werde heute kritisch gesehen – wegen seiner liberalen Reformen. „Auch wir stehen bestimmt auf irgendeiner Liste – wegen unserer Facebook-Kommentare zur Gerechtigkeit“, sagt Sami, halb im Scherz, halb im Ernst. 
 
Finanzielle Unterstützung kommt nicht aus Ankara, sondern aus Ratingen – oder von Projekten wie „Aktion Mensch“. Die Stadt stellt die Räume zur Verfügung, auch für regelmäßige Treffen der Selbsthilfegruppe „Gesundheit“. Etwa einmal im Monat gibt es Vorträge und Beratung. 

Es geht um Politik, um Erinnerungen, um Zukunft 

An diesem Abend kommen ein paar Männer, darunter Naci Eraslan. Frauen sind keine dabei. „Oft kommen die Männer für die Frauen“, erklärt Celik. Besonders bei bürokratischen Themen sei das in der Türkei Männersache. Geht es um Kinder, hilft die Vorsitzende des Vereins: Gül Günay. Naci Eraslan bringt Sami einen Brief vom Gasanbieter. „Du bekommst Geld zurück“, sagt Sami. Eraslan lächelt erleichtert. 
 
Draußen ist das Wetter schön, der Tisch wird auf die Rasenfläche getragen, um Rommé zu spielen. Es geht um Politik, um Erinnerungen, um Zukunft. „Links, rechts – wir reden, diskutieren und tauschen uns aus, aber respektieren uns“, sagt Sami Celik. Er selbst würde gern in der Türkei leben, wenn das Gesundheitssystem dort nicht so teuer wäre. Im Urlaub in der Türkei vermisst er jedoch deutsche Strukturen, Gerechtigkeit, Ordnung. Und das Leben in der Türkei sei ohnehin nicht mehr bezahlbar. 
 
Naci Eraslan erzählt, dass ihm seine Wohnung in der Türkei entzogen wurde – nach einem archäologischen Fund. Jetzt will er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Enttäuscht gestikuliert er mit flachen Händen und spitzen Fingern – zwischen Wut und Ratlosigkeit. „Ein Sesamring kostete früher eine Lira, heute zwanzig“, sagt er. 
 
Ein Gespräch wie an jedem deutschen Stammtisch – zwischen Brötchen, Bürokratie und dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Die Männer steigen ins Kartenspiel ein, und wieder verschwimmen die Grenzen: zwischen Hilfe und Geselligkeit, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Deutsch und Türkisch. 
 
Für die Männer hier ist das genau richtig so. 

Annabell Fugmann 

Weitere Infos

Inhaltsverzeichnis
zurück zum Seitenanfang