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Ausgabe 03 | 2023: Sucht & Drogen
Schwerpunkt
Das Projekt DigiSucht

Suchtberatung mit Zukunft

Ursprünglich entwickelt, um Menschen in ländlichen Regionen den Zugang zur Suchtberatung zu erleichtern, hat sich die Suchtberatungsplattform DigiSucht zu einem trägerübergreifenden Projekt entwickelt. Im Interview sprechen wir mit Dr. Anne Pauly, fachlich-inhaltliche Projektkoordinatorin für NRW, über die Relevanz digitaler Beratungsformen und den Weg einer Suchtberatungsstelle zu einem digitalen Angebot.

Was ist das Besondere an der Suchtberatungsplattform und dem Projekt DigiSucht?

Bei DigiSucht handelt es sich um ein trägerübergreifendes Projekt. Das bringt anfangs Herausforderungen mit sich, da es ungewohnt ist, über den eigenen Träger hinauszudenken. Wenn man jedoch versucht, die Brille der Ratsuchenden anzuziehen, wird man schnell von der Tragfähigkeit und der Reichweite dieser Beratungsplattform überzeugt. Denn sie wurde bewusst so einfach wie möglich für die Ratsuchenden gestaltet. Diese müssen nicht erst mehrere Anbieter und Webseiten durchsuchen, sondern erhalten direkt das, was sie brauchen: Suchtberatung. Dieser Ansatz, die Hilfeleistung an erster Stelle zu setzen und Wettbewerbsgedanken hintanzustellen, ist meiner Meinung nach besonders schön, neuartig und interessant. Es erfordert viel Anstrengung, führt aber dazu, dass das Angebot immer besser wird.

DigiSucht basiert auf dem Konzept der digitalen Suchtberatung, das im Vorfeld mit einem großen Expertenpool entwickelt wurde und die wissenschaftliche Grundlage für die Beratungspraxis auf der Plattform bildet.

Wie funktioniert die Beratung auf der Plattform DigiSucht und nach welchen Kriterien werden digitale Suchthilfeangebote bereitgestellt?

Die Plattform suchtberatung.digital kann über Suchmaschinen, unter den Suchbegriffen “Suchtberatung digital” oder “Onlineberatung Sucht” gefunden werden. Wenn man eine Beratung in Anspruch nehmen möchte, muss man sich mit Passwort, Benutzernamen und einigen persönlichen Angaben auf der Plattform anmelden. Nach der Auswahl möglicherweise problematischer Themen, darunter Alkoholkonsum, Cannabiskonsum, Medienkonsum, wird im nächsten Schritt nach dem konkreten Grund der heutigen Anfrage gefragt. Zuletzt braucht es noch die Postleitzahl, um eine Beratungsstelle aus dem Projekt in der Nähe ausfindig machen zu können.

Manche Klienten und Klientinnen wünschen sich zunächst eine Onlineberatung und möchten vielleicht später Face-to-Face beraten werden. Dann ist die Hürde, vor Ort vorstellig zu werden, auch nicht mehr so groß. Die andere Möglichkeit ist, anonym zu bleiben und sich eine Beratungsstelle auszusuchen. In jedem Fall nimmt die ratsuchende Person Kontakt über eine Erstanfrage auf, in der sie ihr Anliegen erläutert. Die Beratungsstellen reagieren dann innerhalb von drei Werktagen und treten mit der Person in Kontakt. Für die Kommunikation stehen dann verschiedene Kanäle zur Verfügung: E-Mail, Chat, Telefon oder ein datenschutzsicherer Videochat. Entweder die Person stellt ihre Anfrage über die Plattform oder bucht direkt einen Termin unter Angabe des gewünschten Kommunikationskanals bei einer Beratungsstelle.

In vielen Bereichen wird von der Wichtigkeit gesprochen, analoge Angebote begleitend zu Digitalen bereitzustellen. Die Kombination digitaler und analoger Kommunikationskanäle in der Beratung (Blended Counseling) ist auch Teil Ihres Konzeptes. Ist es im Sinne der digitalen Beratung, dass eine Person, die digital beraten wurde, später an ein analoges Angebot verwiesen wird?

Es ist tatsächlich ein erklärtes Ziel, dass Menschen, die online auf dieses Angebot stoßen, dann auch bei Bedarf an die örtliche Beratungsstelle angebunden werden können. Wenn ich als Beraterin nach sechs Stunden Beratung ein analoges Treffen empfehle, lade ich die Person auch zu meiner Sprechstunde ein. Es ist also gewährleistet, dass die Person bei der gleichen Beraterin landet.

Während des Beratungsprozesses haben die Beratenden verschiedene Tools, die in der Beratungsplattform integriert sind. Unter den Werkzeugen finden sich zum Beispiel diagnostische Fragebögen, ein Notfallkoffer oder die Motivationswaage. Viele Methoden, die in der analogen Beratung angewandt werden, können ebenfalls wirklich gut digital angewendet werden. 

Dr. Anne Pauly

Ein Blick in die Zukunft: Mit der Zeit gibt es immer mehr digitale Angebote. Gleichzeitig werden immer mehr Leute darauf aufmerksam und die Hemmschwelle sinkt, digitale Beratung zu nutzen. Müsste es nicht bald mehr Personal in der digitalen Suchtberatung geben?

Grundsätzlich sollte es in diese Richtung gehen. Die Beraterinnen und Berater, die dem Projekt ihre Beratungszeit zur Verfügung stellen, müssen mit ihren vorhandenen Ressourcen arbeiten. Sollte es jedoch zu einem großen Ansturm auf die Beratungsplattform kommen, müssten wir sicherlich über eine Erweiterung der Ressourcen nachdenken. Wir müssen in der Lage sein, mehr Menschen in der digitalen Suchtberatung zu unterstützen und dafür entsprechendes Personal bereitzustellen. Doch soweit sind wir noch nicht. Im Moment hoffen wir vor allem darauf, dass immer mehr Klientinnen und Klienten das Angebot wahrnehmen und dass es bekannter wird. Gegenwärtig nutzen die geschulten Beraterinnen und Berater die Plattform flexibel, um bereits bestehende Beratungsfälle online zu begleiten. Bei Dienstreisen, Urlaub oder Krankheit kann die Sitzung online stattfinden oder ein anderer Berater kann einspringen, um eine kontinuierliche Betreuung sicherzustellen. Das bietet sowohl den Hilfesuchenden als auch den Beratern mehr Flexibilität und ist eine wertvolle Chance. Zum einen können wir Menschen erreichen, die bisher nicht den Weg in eine Beratungsstelle gefunden haben, weil sie nicht wussten wie oder es ihnen zu mühsam erschien. Zum anderen schaffen wir für bereits vorhandene Klientinnen und Klienten ein entsprechendes Angebot.

Und die digitale Beratung bringt auch Vorteile für die Beratenden mit sich. Sie sorgt für mehr Abwechslung im Arbeitsalltag und es besteht zum ersten Mal die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten. Ich denke, das ist auch für das Fachpersonal eine attraktive neue Option. Es könnte sogar dazu führen, dass digitale Beratung als zusätzliche Fachkompetenz gefördert wird, insbesondere wenn eine hohe Nachfrage nach der Beratungsplattform besteht und zusätzliches Personal benötigt wird.

Wie wird man als Beratungsstelle und als beratende Person fit, um Personen digital beraten und begleiten zu können?

Auf Informationsveranstaltungen erläutern wir, wie die Arbeit auf der Beratungsplattform abläuft und die Aufnahme erfolgt. Wenn die Beratungsstellen Interesse bekundet haben, sucht die Landes-Koordinationsstelle NRW zehn Beratungsstellen aus und lädt sie zur Schulung ein.

In den Suchtberatungsstellen arbeiten in der Regel Sozialarbeiter oder Sozialpädagoginnen, die bereits gut ausgebildet sind, um eine Beratung durchzuführen. Durch zwei zusätzliche Schulungen stellen wir sicher, dass sie für die Durchführung von digitaler Suchtberatung geeignet sind. In der eintägigen, technischen Schulung für die Beratungsplattform werden die Tools vorgestellt und die Vorgehensweise erläutert. Dort wird unter anderem in Übungen vermittelt, wie mit Datenschutz in der Einrichtung, Notfällen, Krisen oder Suizidandrohungen umgegangen wird. Zusätzlich zu dieser technischen Schulung ist bei uns in NRW eine Schulung zur Onlineberatung verbindlich. Diese können die Suchtberaterinnen bei den Wohlfahrtsverbänden, wie dem Paritätischen, oder bei uns absolvieren. Pro Beratungsstelle werden zwei Personen im Train-the-Trainer Verfahren ausgebildet, die dann die übrigen Kolleginnen und Kollegen in der Beratungsstelle schulen, Ansprechpartner sind und im Prozess unterstützen.

Sobald die Voraussetzungen erfüllt sind, schalten wir die Beratungsstelle in unserer Koordinationsstelle frei, damit sie sich auf der Plattform anmelden und Beratungen durchführen können. Die Beratungsprozesse werden von den Beratungsstellen selbst organisiert. Sie können festlegen, wie viele Stunden sie dort verbringen, wie viele Termine sie anbieten und ob sie offene Sprechstunden oder Chat-Beratung anbieten möchten. Es liegt ganz bei den Beratungsstellen, was sie sich zutrauen und welche Ressourcen sie zur Verfügung haben.

Was sollten Suchtberaterinnen und Suchtberater für die Ausbildung mitbringen?

Tatsächlich handelt es sich um Teilnehmende, die sowohl im analogen als auch im digitalen Beratungskontext tätig sind. Und das sind nicht ausschließlich sogenannte "Digital Natives". Das Altersspektrum reicht von Anfang 20 bis Ende 50 und darüber hinaus. Jede Person, unabhängig von ihrem Vorwissen, wird in der Schulung technisch fit gemacht.

Die Suchtberaterinnen und Suchtberater sind sehr daran interessiert, ihr Angebot zu erweitern und sich in diesem Bereich fortzubilden. Ihnen allen ist klar, dass sie Maßnahmen ergreifen müssen, um Menschen mit Suchterkrankungen und ihre Angehörigen zu erreichen. Seit Jahren ist erkennbar, dass nicht alle Menschen die Beratungsstellen persönlich aufsuchen können oder möchten. Durch die Beratungsplattform wird ein weiterer Zugangskanal geschaffen und es werden mehr Menschen erreicht.

Dabei ist wichtig zu betonen, dass die digitale Suchtberatung die analoge Face-to-Face Beratung nicht ersetzt. Die persönliche, direkte Beratung bleibt nach wie vor der Goldstandard, an dem wir festhalten und den wir nicht vernachlässigen möchten. Die digitale Suchtberatung ist jedoch eine wertvolle und ergänzende Möglichkeit, um Menschen zu erreichen und ihnen ein erstes Angebot zu machen, ohne dass sie sich in einer Beratungsstelle vorstellen müssen.

Hatten die Beratungsstellen bereits die notwendige digitale Infrastruktur vor Ort, um am DigiSucht-Projekt teilzunehmen?

Das ist unterschiedlich. Einige Beratungsstellen hatten bereits die erforderliche digitale Infrastruktur, andere nicht. Eine funktionierende Internetverbindung mit einer Bandbreite von mindestens zehn Mbit ist eine Voraussetzung, da ansonsten keine Videoberatung möglich ist. In den meisten Regionen, auch in ländlicheren Gegenden, ist diese Voraussetzung mittlerweile erfüllt. Es gibt jedoch immer noch einige Beratungsstellen, die damit zu kämpfen haben und nicht am Projekt teilnehmen können.

Es gibt Beratungsstellen, die bereits seit Jahren Online-Beratung anbieten und bereits Erfahrungen damit haben. Der Caritasverband verfügt z.B. schon seit langer Zeit über eine Plattform für Beratungen zu verschiedenen Themen, wie Armut, Familie und anderen Beratungsansätze. Unsere Suchtberatungsplattform bietet jedoch zusätzliche Tools speziell für die Suchtberatung an. Daher nutzen die Mitarbeitenden der Caritas sowohl unsere Plattform als auch ihre eigene Beratungssoftware, je nachdem, was sie für den Einzelfall für besser geeignet halten. DigiSucht ist vor allem für die Verbände geeignet, die noch keine solche Lösung hatten, insbesondere die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, von denen viele klein sind und nicht unbedingt über eine umfangreiche Infrastruktur vor Ort verfügen. Sie profitieren besonders von unserem Projekt und können nach einer einfachen Schulung auf unserer Suchtberatungsplattform Online-Suchtberatung arbeiten. Doch auch für größere Verbände ist die Plattform attraktiv, da gute Beratungsangebote sowie -methoden genutzt werden können.

Was passiert nach Abschluss des Projektes und welche Rolle spielt das Onlinezugangsgesetz (OZG) bei der Verstetigung der Ansätze?

Die Suchtberatung ist eine von vielen kommunalen Leistungen. Im Rahmen des Onlinezugangsgesetz (OZG) wurde deswegen anfangs versucht, die Suchtberatung auf der Sozialplattform darzustellen. Hierfür sollte das DigiSucht-Projekt als Tool auf der Sozialplattform verfügbar sein. Im Laufe unserer Zusammenarbeit haben wir jedoch festgestellt, dass die Leistungen auf der Sozialplattform breit angelegt sind und viele Beratungsthemen abdecken. Der Fokus liegt hauptsächlich auf Antragsprozessen wie Kindergeld oder Wohngeld. Die Suchtberatung umfasst jedoch mehr als nur die Rehabilitations- und Eingliederungsberatung. Hier möchten wir komplexe bio-psycho-soziale Interaktionen berücksichtigen und anbieten.

Schlussendlich haben wir uns auf Landes- und Bundesebene geeinigt, alle Suchtberatungsthemen auf der Sozialplattform direkt auf die DigiSucht-Plattform weiterzuleiten. Diese Entwicklung ist sehr vorteilhaft, da im Mittelpunkt steht, was die Ratsuchenden benötigen.

Die Fragen stellte Lilly Oesterreich

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