
Eine Helferin für die Frauen
Geboren wurde ich vor 69 Jahren in Esfahan im Iran. Ich stamme aus einer Mittelschicht-Familie, die liberal-religiös war. Wir hatten keine Geldsorgen und ich konnte mein Abitur sogar auf einer Privatschule absolvieren. Meine Großeltern haben immer viele Gäste bei sich zu Hause bekocht. Es war für mich ganz normal, dass 20 bis 25 Menschen bei uns zum Essen waren. Ich glaube, so konnte ich als Kind damals einen gewissen Sinn für die Belange anderer Menschen entwickeln. Zum Studium der Politikwissenschaften bin ich dann in den späten 70er Jahren nach Teheran gegangen. In meinen vier Jahren Studium dort wurde ich auch politisiert und konnte die Empathie, die mir die vielen Gäste meiner Großeltern mitgegeben haben, theoretisieren.
Nachdem ich meinen Bachelor in Teheran gemacht habe, ging ich für meinen Master in die USA. Währenddessen wuchs Ende der siebziger Jahre die Bewegung gegen das Shah-Regime. Ich engagierte mich in den Staaten bei der Konföderation Iranischer Studierender und wurde eine von fünf Sprecher:innen. 1980 habe ich schließlich meinen Master gemacht und bin in den Iran zurückgekehrt. Dort habe ich mich einer linken Organisation angeschlossen, einen kurdischen Genossen geheiratet und ein Kind mit ihm bekommen. Hauptsächlich aufgrund der pro-kurdischen Aktivitäten meines Mannes, aber auch aufgrund meines politischen Engagements mussten wir 1984 jedoch fliehen. Es war für mich sehr schwer, den Iran zu verlassen. Nach meinen zwei Jahren in den USA wollte ich eigentlich nirgendwo anders als im Iran leben.

Zunächst sind wir in die Sowjetunion nach Baku geflüchtet. Aber auch dort waren wir sehr eingeschränkt, da wir nicht reisen und auch keine politischen Aktivitäten durchführen konnten. Deswegen sind wir weitergeflüchtet, obwohl die Kader unserer linken Organisation dagegen waren. Da gab es viele Diskussionen. Trotzdem sind wir mit mehreren Genoss:innen nach Deutschland geflüchtet und haben in Westberlin einen Asylantrag gestellt. Nach zwei Jahren im Asylverfahren wurden wir anerkannt.
Ich hatte sofort einen guten Eindruck von Deutschland und den demokratischen Möglichkeiten, die man hier hat, aber auch vom Sozial- und Rechtsstaat. Auch die Menschen waren sehr nett zu uns. Wir konnten zwar wenig Deutsch sprechen, uns aber gut auf Englisch verständigen. Zumindest ich habe damals noch keinen Alltagsrassismus gespürt. Vieles war aber damals noch etwas anders als heute.
Wir wurden zunächst nach Rheinland-Pfalz in ein Flüchtlingsheim umverteilt und ich bin letztendlich nach Köln in eine Privatwohnung gezogen. Dort habe ich angefangen, Deutsch zu lernen und wollte eigentlich weiter an meiner Doktorarbeit schreiben. Aber es kam anders. 1993 habe ich in Köln meine Arbeit bei agisra angefangen. Der Name ist eine Abkürzung für „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung.“ Der Verein wurde bereits 1983 in Frankfurt gegründet. Es war zunächst eine Arbeitsgemeinschaft von kirchlichen und anderen Frauengruppen. Der Fokus lag dabei auf Sextourismus und auf Hilfe für Frauen, die von Männern aus dem Ausland hierher zum Heiraten geholt wurden. Diese Frauen waren oft in einer sehr prekären Situation und hatten hier kaum Rechte.

Zwei der agisra-Gründungsfrauen lebten in Köln und haben hier dann eine regionale Gruppe gegründet. Da bin ich dazugestoßen und habe den Verein dann mit aufgebaut. Zuvor gab es zwar schon Unterstützungseinrichtungen für migrantische Frauen, etwa von den christlichen Kirchen oder der AWO. Das war zwar gut, aber es war keine Selbstorganisation von Migrantinnen, die uns wichtig war. Als wir 1993 in Köln begonnen haben, hatten drei unserer vier Mitarbeiterinnen eine Migrations- oder Fluchtbiographie.
Innerhalb der feministischen Bewegung waren wir damals “exotisch“. Die Frauenbewegung in Deutschland ist traditionell stark, legte ihren Fokus aber auf Unterdrückung auf Basis des Geschlechtes. Andere Unterdrückungsmechanismen, insbesondere Rassismus, wurden allerdings nicht wahrgenommen. Diese Mechanismen wollten wir nun zusammenbringen und uns als migrierte oder geflüchtete Frauen, die auch selbst sowohl von Sexismus als auch von Rassismus betroffen sind, gegen beide Unterdrückungsmechanismen einsetzen.
Von Beginn an hatten wir bei agisra drei Schwerpunkte, die auch noch heute bestehen: Beratung, Unterstützung und Begleitung von Migrantinnen und geflüchteten Frauen, unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, Alter, sexueller Orientierung, Sprachkenntnissen, Behinderungen, Religionszugehörigkeit oder familiärer Situation. Auch der Aufenthaltsstatus ist uns egal. Kurz: Wir unterstützen allen migrantischen Frauen, die zu uns kommen und in Not sind. Wir unterstützen sie auf dem Weg zu Selbstständigkeit. Das macht etwa 80 Prozent der Arbeit aus.
Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist Informations-, Bildungs- und politische Lobbyarbeit. Wir wollen nicht nur individuell Frauen unterstützen, sondern auch gesellschaftliche Veränderung für alle Frauen und vulnerablen Personen herbeiführen.

Der dritte Arbeitsschwerpunkt ist die Unterstützung der Selbstorganisation von Migrantinnen und geflüchteten Frauen. Das machen wir in Köln, aber auch landes- und bundesweit. Wir als migrantische Frauen wollen über uns selbst sprechen und das nicht anderen überlassen. Wir können unsere Forderungen an die Gesellschaft am besten artikulieren, denn wir sind Betroffene und Expertinnen in eigener Sache. Diese Betroffenheit wollen wir als Stärke einsetzen und auch andere Frauen unterstützen.
Ich bin inzwischen in Rente, aber immer noch ehrenamtlich für agisra tätig, zum Beispiel auf Tagungen und auf Podien. Viele Geschichten bleiben mir aus meiner praktischen Arbeit als Hauptamtliche bei agisra in Erinnerung. Zu viele, um sie alle zu erzählen und daher möchte ich mich auf eine beschränken. Etwa ein halbes Jahr, nachdem ich bei agisra angefangen habe, unterstützte ich eine Frau aus dem Iran. Sie hatte Probleme mit den Behörden, aber auch mit ihrem Ehemann. Bei der zweiten Sitzung wollte sie aber, dass meine deutsche Kollegin sie unterstützt. Ich sagte ihr, das sei nicht möglich, weil die Kollegin keine Beratung mache. Das hat sie auch akzeptiert. Nach einigen Monaten erfuhr ich dann den Grund ihrer Bitte. Sie dachte, dass sie mit einer deutschen Beraterin bessere Chancen bei den Behörden hätte. Sie hatte die Befürchtung, dass ich, aufgrund der rassistischen Einstellungen in der Gesellschaft, nicht in der Lage sein würde, sie umfassend zu unterstützen. Das war durchaus nachvollziehbar. Zum Beispiel war ich einmal mit ihr beim Amtsgericht und die Sachbearbeiterin merkte an, wie gut ich mich doch auskennen würde. Natürlich kannte ich mich gut aus, es war ja mein Job. Letztendlich war das eine rassistische Bemerkung. Dann hatte sie noch einen weiteren Grund genannt. Sie hatte Angst, dass ich ihre Probleme in der iranischen Community herumerzählen würde. Obwohl ich es ihr erklärt hatte, und sie eigentlich wissen musste, dass wir als Beraterinnen Schweigepflicht unterliegen, war sie misstrauisch und dachte, ich werde überall über sie erzählen. Das waren gleich zu Beginn zwei wichtige Erkenntnisse für meine Arbeit.
Am Anfang wurde ich oft bei Behörden nicht ernst genommen. Wir waren aber, in Sachen der Rechte der Frauen, sehr hartnäckig. agisra ist jetzt bekannt, aber wenn ich damals angerufen habe, war nicht klar, wer wir eigentlich sind. Wir müssten erklären, dass wir eine Fachberatungsstelle für Migrantinnen und geflüchtete Frauen sind.

Die Arbeit von agisra hat sich im Laufe der Zeit sehr geändert. Als wir angefangen haben, haben wir viel Learning by Doing betrieben. Vieles wussten wir nicht. Wir waren auch nicht alle Pädagoginnen oder Sozialpädagoginnen, sondern kamen aus ganz anderen Bereichen, hatten aber viel Empathie, Migrations- und Fluchterfahrungen, Sprachkenntnisse, ein offenes Ohr und waren parteiisch für die Frauen. Inzwischen haben wir uns alle professionalisiert. Auch räumlich hat sich viel getan: Von einem Zimmer in 1993 sind wir mittlerweile auf 600 m² barrierefreie Fläche gewachsen. Unsere Geschäftsstelle konnten wir - mit Hilfe von Bundes- und Landesmitteln - sogar kaufen. Das erleichtert natürlich die Arbeit. Jetzt können wir viel mehr anbieten als Beratung und bieten auch Yoga und Gymnastikkurse an.
Unser Credo ist aber weiterhin, dass wir alle Frauen, die zu uns kommen stärken und unterstützen. Wir kontrollieren nicht, welche Pässe unsere Klientinnen haben. Das ist mitunter auch für uns nach dem Aufenthaltsgesetz gefährlich. Aber für uns sind die Menschenrechte der Frau ausschlaggebend.
Eine Kollegin hat z.B. 2003 eine Anzeige wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt erhalten, weil Sie ein 16-jähriges Mädchen ohne Papiere unterstützt hat. Sie hätte das Mädchen versteckt, warf die Ausländerbehörde ihr vor, was aber nicht stimmte. Nach einem Jahr wurde alles, ohne Tatverdacht, vom Staatsanwalt eingestellt, aber es war ein Einschüchterungsversuch.
Wir merken, dass der politische Druck größer wird. Ständig wird von Abschiebungen geredet. Der Rechtsruck besorgt natürlich auch unsere Beratungsnehmerinnen. Auch der Alltagsrassismus hat zugenommen. Selbst auf Institutionen wie Ämtern und Behörden wird den Frauen vorgerechnet, wie viel sie den Deutschen Steuerzahler kosten; obwohl wir alle Steuern zahlen.
Zum Glück haben unsere Kolleginnen viel politisches Engagement, und wir erleben starke Solidarität innerhalb der Gesellschaft. Menschenrechte waren bei uns noch nie verhandelbar, sondern schon universal und unteilbar.
Behshid Najafi
Aufgeschrieben von Philipp Meinert