
Haben wir es geschafft, Herr Schmidtke?
Herr Schmidtke, in diesem Sommer jährte sich der berühmte Ausspruch „Wir schaffen das!“ der ehemaligen Kanzlerin Merkel zum zehnten Mal. Sie findet, sie hat recht behalten. Wie beurteilen Sie das aus Sicht der Geflüchtetenhilfe?
Es wurde tatsächlich sehr vieles geschafft. In Sachsen haben wir seit 2015 eine Struktur von Ehren- und Hauptamtlichen aufgebaut, die sich in der Geflüchtetenarbeit engagieren. Damit können wir in ganz anderen Größenordnungen Geflüchtete unterstützen als zuvor. Auch aus der Wirtschaft haben wir viele Erfolgsmeldungen. Viele Geflüchtete konnten etwa in der Auto-Industrie integriert werden. Geflüchtete haben eigene Sportvereine wie etwa den FC Azadi in Dresden oder Athletic Sonnenberg in Chemnitz gegründet. Die sind auch etwas aus der Not heraus entstanden, weil viele deutsche Sportvereine keinerlei Willkommenskultur hatten. Die größte Gruppe ausländischer Ärzte stammt aus Syrien. Wir sehen an sehr vielen Punkten, dass es funktioniert hat. Am letzten Beispiel sehen wir sogar, dass wir von den Menschen abhängig sind, dass Menschen im medizinischen Bereich, in der Gastronomie oder in der Logistik hier einen Platz in der Gesellschaft haben. Das ist geschafft worden. Wir hätten noch viel mehr geschafft, wenn der politische Wille vorhanden wäre und es nicht derart vielen rechtsextremen Gegenwind gegeben hätte und immer noch gibt. Am Ende war es natürlich ein ganz platter Satz einer Politikerin, der erst einmal gesagt hat, dass wir es schaffen wollen, mit einer selbsterfüllenden Prophezeiung integriert. Das ist aber keinesfalls etwas Ungewöhnliches gewesen. Daran sieht man, wie aufgebauscht die Debatte eigentlich ist.
Wie hat sich speziell ihre Arbeit beim Flüchtlingsrat seit 2015 verändert?
Es war eine Achterbahnfahrt. Nach 2015 haben wir einen enormen Mitarbeiterzuwachs bekommen. Es gab viele Projekte, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, und viel Fördergeld war vorhanden. Es gab eine Mentalität des Anpackens, auch in den Behörden. Daraus wurde immer mehr Skepsis, so im Sinne von: „Wie viel können wir hier noch leisten?“ Zunehmend wurde suggeriert, dass je mehr wir für Geflüchtete zahlen, desto mehr würden nach Deutschland kommen, was nachweislich falsch ist. Menschen fliehen, wenn sich die Situation verschlechtert. Unser enormer Zuwachs ist bereits wieder drastisch zurückgegangen. Wir hatten vor drei Jahren noch doppelt so viele Projekte im Jahr 2025. Viele sind wieder eingestampft worden. Leider auch einige Projekte, die extrem gut nachgefragt wurden, etwa „Bienveniedos“, ein Projekt speziell für venezolanische Geflüchtete. Jetzt sind wir wieder eher in einem existentiellen Kampf um Mittel, um Projekte zu halten. Denn auch wenn weniger Menschen ankommen, sind immer noch viele hier und der Bedarf ist extrem groß bei denen, die da sind. Studien sagen, es dauert ca. sechs bis acht Jahre, bis die Menschen hier vollständig angekommen sind. Da fehlt uns die Weitsicht der Politik, damit solche Programme nicht für ein halbes oder ein Jahr, sondern auch mal länger finanziert werden. Aktuell ist die Stimmung eher so, dass man die Gelder im Zuge der Abschottungspolitik komplett kürzen will. In Sachsen hatten wir kürzlich das Bedrohungsszenario, dass bis Juni nächsten Jahres alle Mittel für Integration gestrichen werden. Da wir in Sachsen eine Minderheitsregierung haben und Grüne und Linke sich dagegengestellt haben, konnte das abgewendet werden.

Wie erleben Sie denn den Rechtsruck, der sich einerseits in der Zunahme von Neonazis auf der Straße als auch in Wahlergebnissen in den Parlamenten zeigt, konkret bei ihrer Arbeit?
In Sachsen finden im Bundesvergleich die meisten Übergriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte statt. Seit 2023 steigt dies wieder besonders an. Dafür machen wir die Parteien am rechten Rand und ihre Hetze und Falschinformationen verantwortlich, die Geflüchtete ganz gezielt als Bedrohung darstellen. Das fruchtet leider besonders bei Menschen, die nie mit Geflüchteten Kontakt hatten und das sind in Sachsen sehr viele. Die kennen die Lebensrealität von Menschen mit Fluchterfahrung nicht und denen kann man viel erzählen. Das spüren wir in der Beratung. Unsere Klient*innen berichten uns von zunehmendem Alltagsrassismus und strukturellem Rassismus, gerade bei Behörden in der Provinz. Dort werden viel mehr Anträge auf Aufenthalt abgelehnt, die im Ermessensspielraum noch möglich wären. Und viele Menschen verlassen diese Landkreise auch. Viele Menschen, vor allem die, die hier einen Uni- oder Ausbildungsplatz gefunden haben, gehen lieber in westdeutsche Großstädte und verlassen Sachsen ab dem Moment, wo sie es können. Wir spüren die Stimmung als Verein ebenso. Gerade mein Kollege in der Öffentlichkeitsarbeit bekommt mehr Anfeindungen per E-Mail, über Social Media oder auch als Anruf. Die Menschen suchen dann nicht den Austausch, sondern machen uns für Straftaten, die angeblich oder tatsächlich von Geflüchteten begangen wurden, verantwortlich. Dabei sind wir selbst stark aktiv in der Radikalisierungsprävention tätig. Wenn wir mitbekommen, dass tatsächlich eine Person auffällig ist, melden wir das den entsprechenden Stellen. Die meisten, die herkommen, möchten ja Frieden und Ruhe, gerade weil sie ja vor Gewalt geflohen sind.
Infoblock
In seiner aktuellen Kampagne „Still Loving Bleiberecht“ setzt sich der Flüchtlingsrat aktiv für Schutz und Teilhabe von Geflüchteten ein – mit einer Spende helfen Sie, die Unabhängigkeit und Arbeit des Vereins in Sachsen zu sichern.
Wie sieht der Einfluss extrem rechter Parteien auf Ihre Arbeit aus?
Auf der parlamentarischen Ebene stellt die AfD hier mittlerweile die zweitgrößte Fraktion im sächsischen Landtag und konnte damit im Untersuchungsausschuss zur Finanzierung der Migrations- und Integrationslandschaft in Sachsen durchsetzen. In der Folge wurden sämtliche Daten ab 2019 wie Lohnabrechnungen und Adressen von Personen, die bei uns arbeiten, an diesen Ausschuss weitergeleitet. Somit hat die AfD einen demokratischen Hebel genutzt, um Informationen über den Flüchtlingsrat zu bekommen, was eine Bedrohungslage für uns darstellt. Wie wir wissen, stechen rechtsextreme Parteien diese Daten auch gerne an andere rechtsextreme Strukturen durch. Daher mussten wir uns intensiv mit Datenschutz auseinandersetzen, was uns Kapazitäten für die Geflüchtetenarbeit geraubt hat.
Eine letzte Frage. Wenn Sie für einen Tag Ministerpräsident von Sachsen wären: Was würden Sie tun?
Ich würde all die erreichten Erfolge der Zivilgesellschaft hochhalten und daran appellieren, wieder gemeinsam zusammenzuarbeiten, statt demokratische Parteien auszugrenzen – Stichwort Grünen-Bashing. Sowas würde ich bekämpfen, da wir gerade eine Schieflage im Bewusstsein der Sachsen haben. Sehr viele Leute in Sachsen wünschen sich wieder ein autoritäres Regime und dagegen würde ich anarbeiten. Ich würde natürlich auch ein realistisches Bild von Geflüchteten zeichnen und alle Erfolge, etwa auf dem Arbeitsmarkt, betonen. Immerhin haben wir allein in Sachsen 30.000 Menschen mit Fluchthintergrund, die in Sachsen arbeiten. Natürlich würde ich auch allen Helferinnen und Helfern den Rücken stärken und dass man sich mit denen solidarisiert. Also eher Brücken bauen als Abschottung betreiben. Und definitiv würde ich eine stabile, langfristige Finanzierung für alle Menschen, die im Migrationsbereich tätig sind, sicherstellen. Viele verdienen nicht viel und bekommen dann noch Anfeindungen. Daher muss man sie dauerhaft motivieren, diesen Job anzunehmen
Das Interview führte Philipp Meinert