
Zusammen schaffen wir das!
Unser Themenschwerpunkt Migration und Flucht erscheint in einem besonderen Jahr. Der sogenannte „Sommer der Migration“, in dessen Folge 1,2 Millionen schutzsuchende Menschen nach Deutschland kamen, jährt sich zum zehnten Mal. Viele unserer Mitgliedsorganisationen waren auch 2015 mit dabei und unterstützten auf beeindruckende Weise die schutzsuchenden Menschen bei ihrer Ankunft und Integration.
Zehn Jahre später wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert, ob sich Angela Merkels berühmte Worte „Wir schaffen das!“ denn nun tatsächlich bewahrheitet haben, und auch uns wird diese Frage in diesem Jahr häufig gestellt. Eine Frage, die sich nicht einfach mit einem „Ja“ oder „Nein“ beantworten lässt, zu unklar ist schon allein, anhand welcher Kriterien diese Frage beantwortet werden soll.
Seit 2015 wurde vieles geschafft
Aus Sicht des Paritätischen lässt sich festhalten, dass die Aufnahme von Schutzsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 vor allem dort gut funktioniert hat, wo alle Akteure an einem Strang zogen. Wo Runde Tische eingerichtet wurden und die zahllosen ehrenamtlichen Unterstützer*innen auch hauptamtliche Unterstützung erhielten. Wo Migrant*innenselbstorganisationen und andere zivilgesellschaftliche Akteure gemeinsam mit staatlichen Stellen nach Lösungen suchten, wurde vieles geschafft, was auf den ersten Blick unlösbar erschien. In vergleichsweise kurzer Zeit wurden bestehende Aufnahmestrukturen ausgebaut, neue (Not-)Unterkünfte errichtet und viele Regelstrukturen für Schutzsuchende geöffnet. Ein Erfolgsfaktor war dabei sicher auch, dass die Zustimmung zur Aufnahme von Menschen, die gezwungen waren, vor Krieg und Verfolgung zu fliehen, in Deutschland im Jahr 2015 in Regierung und Politik, aber auch in der Bevölkerung und den Medien größer war, als es aktuell der Fall ist. Deutlich wurde aber auch, dass es dringend nachhaltige Strukturen braucht und ein „atmendes System“, das auch auf die Aufnahme einer größeren Zahl von Schutzsuchenden vorbereitet ist. Denn Flucht lässt sich – im Gegensatz etwa zur Erwerbsmigration – nur in begrenztem Maße planen und steuern.

Im Jahr 2022 war Deutschland dann tatsächlich besser auf die Aufnahme von nahezu 1 Million Schutzsuchender aus der Ukraine vorbereitet und hatte aus den Erfahrungen von 2015 gelernt. Die Schutzsuchenden erhielten einen Schutzstatus auf der Grundlage von Europarecht (sog. temporärer Schutzstatus), was das BAMF als zuständige Behörde für das Asylverfahren entlastete. Das Aufnehmen einer Arbeit war ihnen von Anfang an erlaubt. Durch den Zugang zu regulären Sozialleistungen fielen die Schutzsuchenden überwiegend direkt in die Zuständigkeit der Jobcenter und hatten sofort Zugang zu Integrations- und berufsbegleitenden Sprachkursen sowie einer Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung. Internationale Studien belegen die Wirksamkeit des sog. „Jobturbos“. Darüber hinaus konnten diejenigen, die eine private Unterkunft nachweisen konnten, ihren Wohnort selbst wählen. Doch auch bei der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine wurde deutlich, dass es ohne die Unterstützung der Zivilgesellschaft nicht funktionieren kann. Erneut standen paritätische Mitgliedsorganisationen insbesondere aus den Bereichen Migration und Flucht, aber auch aus vielen anderen Bereichen sozialer Arbeit bereit, alles ihnen Mögliche zu tun, um die Schutzsuchenden beim Ankommen zu unterstützen.
Gute Beschäftigungsquote bei Geflüchteten
Zur Beantwortung der Frage, „ob wir es denn nun geschafft haben“, wird aktuell vor allem das Kriterium der Arbeitsmarktintegration herangezogen – und hier ist die Datenlage vergleichsweise eindeutig: Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag die Beschäftigungsquote der 2015 zugezogenen Geflüchteten im Jahr 2024 bei 64 Prozent - und damit nur noch leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 70 Prozent. Bei den männlichen Geflüchteten lag die Erwerbsquote sogar über dem Durchschnitt. Bei den geflüchteten Frauen wurden verschiedene Integrationshemmnisse deutlich, wie etwa unzureichende Kinderbetreuung, geringere Bildungsabschlüsse, gesundheitliche Einschränkungen oder fehlende Netzwerke. Neben dem Bedarf an geschlechtsspezifischen Integrationsangeboten verdeutlicht die Studie auch, dass neben einem zügigen Asylverfahren und dem Zugang zu Sprach- und Integrationskursen auch die regionale Arbeitsmarktlage und wirtschaftliche Struktur einen starken Einfluss auf Beschäftigung und Verdienst haben. Die Verteilung der Schutzsuchenden auf Bundesländer und Kommunen ohne Berücksichtigung dieser Aspekte sowie die Wohnsitzauflage für anerkannte Geflüchtete haben sich nachweislich negativ auf die Arbeitsmarktintegration ausgewirkt – hier gibt es Verbesserungsbedarf.
Es ist richtig, dass die – nicht nur in den letzten 10 Jahren – zu uns gekommenen Schutzsuchenden und sonstigen Migrant*innen, die etwa im Wege des Familiennachzugs oder als Fachkräfte eingewandert sind, sowohl für den Wirtschaftsstandort Deutschland als auch die Pflege unserer alternden Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind
Rassismus und Diskriminierung bleibt eine Bedrohung
Viel wichtiger ist aber, dass die Ankommenden von damals heute ein wesentlicher Teil Deutschlands geworden sind: Sie sind Staatsbürger*innen, Familienmitglieder, Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen. Sie sind elementarer Teil unserer Gesellschaft geworden und Forderungen nach einer schnellen Rückkehr etwa nach Syrien, obwohl weder die Sicherheitslage noch die humanitäre Lage vor Ort dies hergeben, schaden letztlich nur der Aufnahmegesellschaft selbst – und damit uns allen.
Und damit sind wir bei dem Punkt angekommen, an dem wir es „noch nicht geschafft haben“. Noch haben wir es nicht geschafft, Rassismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft tatsächlich die Stirn zu bieten. Deutlich zu machen, dass Nationalismus und Rechtsextremismus uns allen schaden. Und dass ein Rechtsstaat nur dann wirklich sicher ist, wenn er garantiert, dass Menschenrechte für alle Menschen gelten, unabhängig von Herkunft, Aufenthaltsstatus, Hautfarbe oder anderen Merkmalen. Hier gibt es für uns alle noch viel zu tun!
Das vorliegende Heft will vor allem Mut machen und zeigen, dass die Arbeit unserer Mitgliedsorganisationen im Bereich Migration und Flucht dort ansetzt, wo die Bedarfe besonders groß sind: sie unterstützen bei der Gesundung, wo traumatisierte Geflüchtete an psychischen Erkrankungen leiden. Sie bieten Sprach- und Integrationskurse an, darunter auch spezielle Angebote für Frauen oder Analphabet*innen. Sie beraten im komplexen Asylverfahren ebenso wie beim Finden einer Kita, eines Sprachkurses oder dem Erlangen einer Aufenthaltserlaubnis. Sie halten spezifische Angebote bereit für besonders vulnerable Personen, wie Kinder, Frauen, LGBTIQ* oder Menschen mit Behinderungen und tragen in erheblichem Maße damit auch zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.
Es ist richtig, dass die Aufnahme von Geflüchteten auch Herausforderungen mit sich bringt, dies zu negieren wäre naiv. Die Erfahrungen der letzten 10 Jahre haben aber gezeigt, dass wir gut gerüstet sind, um diese Herausforderung anzunehmen. Was es braucht, sind nun vor allem politischer Wille, nachhaltig finanzierte Strukturen für die Aufnahme und Integration sowie eine gute soziale Infrastruktur für die ganze Gesellschaft. Zusammen schaffen wir das!
Kerstin Becker ist Abteilungsleiterin Migration und Internationale Kooperation