Moderne Formen des kreativen Ausdrucks
Heute startet das Projekt, auf das sich die Kinder schon gefreut haben und welches sie die nächsten sechs Monate begleiten wird. In den Räumen des Freizeitladens in Winzlar, einem Stadtteil von Jena, treffen sie sich von nun an regelmäßig nach der Schule um gemeinsam den Besonderheiten zweier Handwerke auf den Grund zu gehen: dem Schnitzen und dem Nähen. Beides schaut auf eine lange Tradition zurück. Insbesondere das Nähen erfährt in den letzten Jahren ein wahres Revival. In vielen Städten und Gemeinden eröffnen kleine Stoffläden, die auch Nähkurse anbieten und auf YouTube schießt die Anzahl der Tutorials in die Höhe, mit denen jeder sich das notwendige Wissen selbst aneignen kann. Und wie könnte es auch anders sein, denn Nähen trifft den Zeitgeist: wenn alte Kleidungsstücke, die bereits eine Lebenszeit hinter sich haben und nun in anderer Form, anderer Funktion eine neue erhalten, ist es nachhaltig. Nähen bietet viel Raum für Kreativität und für Individualität. Wie bereichernd kann es sein, nach einem längeren Arbeitsprozess ein selbst gemachtes Nähwerkstück in den Händen zu halten. Aus einem einfachen Stück Stoff etwas schönes, funktionales gemacht zu haben. Die Teilnehmer*innen, teils mit und ohne Migrationshintergrund, entdecken das Handwerk als Kulturgut neu. Sie tauchen in eine für sie andere Welt ein. Durch das Nähen setzen sie sich mit den historischen und kulturellen Bezügen ihres Umfeldes auseinander und stellen diesen ihre eigenen gelebten Erfahrungen gegenüber. Sie erfahren Gemeinsamkeit und erlernen zugleich die Grundsätze der Material- und Stoffkunde sowie verschiedene Nähtechniken.
Besonders für Kinder und Jugendliche sind Kultur und die ihr innewohnende Kreativität ein wichtiger Pfeiler für die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Hierdurch können sie eigene Stärken und Fähigkeiten entdecken, ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung aufbauen, sich selbst als erfinderisch erleben und damit auch Selbstwirksamkeit erfahren. Kultur ist eine besondere Form der Kommunikation, die über Sprachbarrieren hinaus Brücken baut und gegenseitiges Verstehen ermöglicht und den Raum sowohl für das eigene wie auch für das Gemeinsame schafft. Ein ungezwungener Austausch ist vor allem nach den vielen Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie besonders wertvoll und wichtig, um soziale Kompetenzen im Umgang mit sich selbst und im Miteinander zu entfalten. Doch hierfür bedarf es engagierter Akteure - ob groß oder klein, lokal oder überregional – die sich zusammentun und entsprechende Angebote konzipieren. So wurde beispielsweise das zuvor beschriebene Projekt vom Verein Konfliktkompetenz Thüringen gemeinsam mit der Lebenswelt Winzerla e.V. sowie der Bildungsbrücke e.V. organisiert und durch die Förderung des Paritätischen Gesamtverbandes e.V. im Rahmen von „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ ermöglicht. Als Programmpartner des Bundesförderprogramms ist der Gesamtverband mit seinem Förderkonzept „Ich bin HIER! Herkunft – Identität – Entwicklung – Respekt“ von Anfang an dabei. Seit 2013 konnten viele unterschiedliche kulturpädagogische Maßnahmen gefördert und begleitet werden. Es ist beeindruckend wie viel Kreativität und Vielseitigkeit in den einzelnen Projekten steckt und wie flexibel sie sich angesichts der kurzfristig notwendig gewordenen Anpassungen aufgrund der Corona-Pandemie in 2020 gezeigt haben. Dabei sind vor allem zwei Trends zu beobachten: Zum einen, Projekte, die bewusst gegen das Digitale konzipiert sind und deren Ziel es ist, die Kinder und Jugendlichen von den Bildschirmen weg zu locken und zum anderen, Projekte, welche die neu aufgetanen digitalen Möglichkeiten ergreifen und gezielt die Medienkompetenzen der Teilnehmer*innen zu erweitern wünschen.
So macht sich beispielsweise in Berlin Neukölln eine Gruppe Jugendlicher auf den Weg ihren Stadtteil zu erkunden. Sie recherchieren verschiedene, individuelle Geschichten der Bewohner*innen vor Ort und setzen diesen ihre eigenen, persönlichen gegenüber. Spielerisch bauen sie eine Verbindung zu „ihrem Ort“ auf, welche sie mit Hilfe von Graffitis, Foto- und Videoaufnahmen, Stop-Motion Techniken oder auch Sound-Design künstlerisch umsetzen. Die verschiedenen kreativen Ergebnisse werden gemeinsam animiert, mit Ton unterlegt und für Projektionen, die später an ausgesuchten Orten im öffentlichen Raum zu sehen sein werden, arrangiert. Mit viel Begeisterung tauchen die Teilnehmer*innen in eine Welt neuer digitaler Ausdrucksformen ein. Jede*r einzelne von ihnen erstellt ein kurzes Präsentationsvideo, welches zu einer gemeinsamen Geschichte verwoben wird. Es entsteht ein Gruppenfoto, welches zum Leben erwacht und die einzelnen Teilnehmenden in Bewegung setzt. Mit Hilfe eines Bewegungssensors wird das Foto durch die aktive Bewegung der Betrachter*innen lebendig und löst die Präsentation der individuellen Videos aus. So entsteht eine ganz neue und faszinierende Form des Zusammenseins.
Mögen uns die „neuen“ digitalen Ausdrucksformen und das traditionelle Handwerk auf den ersten Blick vielleicht sehr gegensätzlich erscheinen, so wird doch deutlich, dass beide in ihrem jeweiligen Wesen genau den Nerv unserer Zeit treffen und beide genau den Raum für Kreativität geben, der für uns so wichtig und unverzichtbar ist.
Anita Havemann ist Referentin im Projekt "Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung"