
Die Bedeutung der Selbsthilfe aus wissenschaftlicher Sicht
Es ist unumstritten, dass die Selbsthilfe in Deutschland eine bedeutsame Rolle spielt – sowohl im deutschen Gesundheitswesen als auch als Teil des bürgerlichen Engagements. Während die individuelle Selbsthilfe eigenständige Maßnahmen der Problembewältigung wie z.B. die Nutzung von Selbsthilfeliteratur oder Gesundheitsapps umfasst, meint die gemeinschaftliche Selbsthilfe den selbstorganisierten Zusammenschluss und Austausch von Menschen mit ähnlichen Problemen, z.B. in Form von Selbsthilfegruppen. Laut bundesweiten Schätzungen sind bis zu 3,5 Millionen Menschen in bis zu 100.000 Selbsthilfegruppen aktiv. Und das zahlt sich aus: Die Selbsthilfe hat nachweislich einen ökonomischen, zivilgesellschaftlichen und gesundheitlichen Nutzen (Rosenbrock, 2015) und ist eine wichtige Ergänzung in der sozialen und gesundheitlichen Versorgung (Kofahl, 2022)
Die Forschung zur Selbsthilfe ist breit gefächert. Wissenschaftlich finden sich unterschiedliche Schwerpunkte, u.a. je nach Fachrichtung (z.B. Soziologie), Art der Selbsthilfe (z.B. gemeinschaftlich), Themenbereich (z.B. psychisch), Zielgruppe (z.B. junge Menschen), Indikation (z.B. Frühintervention), Format (z.B. digitale Selbsthilfe) oder konkrete Fragestellung (z.B. Vergleich verschiedener Formate). Einen empfehlenswerten Überblick über die Forschung zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe findet sich in der Magazinausgabe von 05/2022. Dort berichtet der Psychologe Dr. Christopher Kofahl von verschiedenen zentralen Forschungsfragen und Studienergebnissen, z.B. den Wirkfaktoren und Effekten gesundheitsbezogener Selbsthilfe (SHILD-Studie, 2012-2018).

In den letzten Jahren lag der Fokus der Forschung vor allem auf der Corona-Pandemie und der fortschreitenden Digitalisierung in der Selbsthilfe. So zeigte beispielsweise die BMG-geförderte DISH-Studie (2019-2020), dass Selbsthilfeorganisationen schon vor der Pandemie zunehmend digitale Anwendungen wie eine eigene Homepage oder Social-Media-Präsenz nutzten. Die qualitative GeMSeHeCo-Studie (2020-2021) zeigte, dass während der Pandemie die Selbsthilfemitglieder von den digitalen Angeboten sehr profitierten und die Selbsthilfe gerade für Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen eine wichtige Unterstützung darstellte. Dazu passt auch das Ergebnis unserer eigenen sozialpsychologischen Forschung an der Universität Leipzig: Menschen profitieren nicht nur von der gefühlten Verbundenheit mit ihrer Gruppe, sondern auch von der subjektiv wahrgenommenen Handlungsfähigkeit ihrer Gruppe – besonders in Krisenzeiten und sogar aus der Ferne (z.B. Relke et al., 2022). Somit überrascht auch nicht, dass die Pandemie selbst zur Gründung neuer Selbsthilfegruppen führte: Laut NAKOS wurden in Deutschland bis heute über 230 coronabezogene Gruppen gegründet (NAKOS, Stand 03/2025).
Spannend bleibt, welche zukünftigen Schwerpunkte es in der Selbsthilfeforschung geben wird. Denkbar sind u.a. die Chancen und Risiken digitaler Technologien wie KI-gestützter Tools, der Einfluss sozialer Netzwerke und digitaler Gemeinschaften, die Rolle aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen oder die individuellen Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen. Doch sicher ist in jedem Falle: Die Selbsthilfe in Deutschland wird auch in Zukunft unverzichtbar bleiben.
Dr. Susanne Relke