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Ausgabe 03 | 2022: Digitalisierung und Wohlfahrt
Schwerpunkt
hannes rohrer

Digitale Teilhabe von Menschen mit Armutserfahrung

Mit dem “Pilotprojekt zur Stärkung der digitalen Teilhabe Armutsbetroffener” hat der Paritätische Gesamtverband 2021 gemeinsam mit Paritätischen Mitgliedsorganisationen die digitale Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrungen in zwei Online-Veranstaltung unterstützt und begleitet. Der partizipative Ansatz hat auf vielen Ebenen in den Einrichtungen gewirkt und darüber hinaus offengelegt, wie hoch der Bedarf und die Bereitschaft der Beteiligten ist, sich im digitalen Raum mit ihrer persönlichen Meinung einzubringen.

Die Digitalisierung führt an vielen Stellen unserer Gesellschaft zu einem Ausschluss von Personengruppen, die nicht über den technischen Zugang oder die Digitalkompetenz verfügen, um von digitalen Angeboten zu profitieren. Dabei sind digitale Medien mittlerweile essentiell für den Zugang zu Nachrichten und Informationen, zu Hilfe, Beratung und Schutz in Not und Krisen sowie Bildungs- und Berufschancen sowie für gesellschaftliche, soziale, kulturelle und politische Teilhabe. Wer nicht digital angebunden ist, der kann nicht in demselben Maße teilhaben, wie Menschen mit digitalen Zugängen.

Von digitaler Ausgrenzung besonders betroffen sind grundsätzlich Menschen, die in Armut leben. Ihre größte Zugangshürde ist der Mangel an Hardware und Internet, denn in den Sozialleistungen ist dafür keine finanzielle Unterstützung vorgesehen. Zudem fehlt es ihnen an Räumen und einer entsprechenden Begleitung, um digitale Kompetenzen zu erlernen und sich praktisch auszuprobieren.

Digitale Kompetenzen beinhalten alle Fähigkeiten, die ein Individuum benötigt, um sich in einer digitalen Gesellschaft zurechtzufinden, in ihr zu lernen, zu arbeiten und am digitalen Alltag teilzunehmen. Digitale Kompetenz schließt mehr als reine Computeranwendungskenntnisse ein und umfasst eine breite Palette von Verhaltensweisen, Strategien und Identitäten, die in einem bestimmten digitalen Umfeld wichtig sind”. (Wikipedia)

Digitale Beteiligung von den Menschen, die es betrifft

Mit dem „Pilotprojekt zur Stärkung der digitalen Teilhabe Armutsbetroffener“ hat der Paritätische Gesamtverband 2021 in Kooperation mit 9 Landesverbänden und Paritätischen Mitgliedsorganisationen die digitale Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung an der  digitalen Fachkonferenz “Aktionskongress gegen Armut” unterstützt und begleitet. Bei den rund 80 Einrichtungen aus ganz Deutschland handelt es sich u.a. um Arbeitslosenhilfen, Suchtberatungsstellen, Wohnungslosenhilfen, Schuldnerberatungen, Familienhilfen, Migrant*innenselbstorganisationen, Senior*innenvereine sowie Organisationen der Gemeinwesenarbeit. Sie alle bieten Unterstützungs- und Beratungsleistungen für Menschen an, die aus unterschiedlichsten Gründen in Armut leben. So divers wie die Einrichtungen sind auch ihre Klient*innen. Die Wohnungslosen, von Altersarmut betroffenen Senior*innen, alleinerziehenden Mütter mit Migrationshintergrund oder EU-Rentner*innen bringen sehr unterschiedliche Vorkenntnisse im Umgang mit digitalen Medien und diverse Erfahrungen mit politischer Beteiligung mit. Dabei ist ihnen gemeinsam, dass sie bisher keinerlei Erfahrung in der Teilnahme an digitalen Veranstaltungen hatten und gleichzeitig hoch motiviert sind diese zu erlernen. Vielen, der am Projekt beteiligten Menschen fehlt es an digitalen Endgeräten und Berührungspunkten in ihrem privaten Umfeld, um einen Zugang zu onlinebasierten Beteiligungsformaten zu bekommen.

Die Einrichtungen erhielten im Rahmen des Bundesförderprogramms des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), welches die Digitalisierung der Freien Wohlfahrt seit 2019 unterstützt, jeweils einen Laptop. Mit der Teilnahme an dem Pilotprojekt und dem Erhalt des Endgeräts, erklärten sie sich dazu bereit mindestens einer/m ihrer Klient*innen die Teilnahme an der dreitägigen Online-Veranstaltung zu ermöglichen. Dazu sollte die sozialarbeiterische Anleitung und Begleitung bei der Nutzung des Laptops sowie bei der Bedienung der Videokonferenz-Software Zoom, mit der die Veranstaltung umgesetzt wurde, gehören.

Wie wir alle Beteiligten ins Boot geholt haben

Um den Prozess zu begleiten, hat der Gesamtverband vor dem Aktionskongress mehrere Online-Treffen mit den Prozessverantwortlichen aus den Einrichtungen organisiert. Die Treffen wurden zur Weitergabe von Informationen, zum kollegialen Austausch und zum Coaching der Verantwortlichen genutzt. Die Herausforderung hierbei war, dass der Gesamtverband in den digitalen Vorbereitungstreffen die Bedarfe der Einrichtungen aufnehmen, dazu live beraten und in unterstützende Materialien umwandeln musste. Nachfolgend sollte das hier Besprochene in den Einrichtungen umgesetz werden. Der Vorgang glich einer Train the Trainer Seminarreihe, und war für beide Seiten - für uns als Trainer der Fachkräfte und für die Fachkräfte als Trainer der Klient*innen - eine gänzlich neue Erfahrung.

Der Gesamtverband stellte zum Beginn des Prozesses eine Anleitung zur Inbetriebnahme des Laptops und einen Lehrplan für die Schulung der Klient*innen zur Verfügung. Die Auswahl aus den fünf, von uns empfohlenen Themenbereiche für die Schulungen, sollten die Verantwortlichen je nach Bedarfen und Ressourcen der Klient*innen sowie den Möglichkeiten und Ressourcen der sozialpädagogischen Fachkräfte treffen. Um an der Online-Konferenz teilnehmen zu können, war in erster Linie wichtig, dass sich die Teilnehmenden in der Videokonferenz zurechtfinden und die Basisfunktionen (Einloggen, Sprechen und Chatten) beherrschen. Im Verlauf der Vorbereitung zeigte sich recht schnell, dass die zuvor theoretisch erdachten Schulungsinhalte den Erfahrungen aus den praktischen Schulungen stark angepasst werden mussten. Sowohl die Vorkenntnisse als auch die Motivation der Klient*innen, sich mit der Rechnerbedienung, Basisprogrammen oder der Einrichtungen von Mailadressen auseinandersetzen, unterschieden sich innerhalb der Pilotprojekt-Einrichtungen und in den einzelnen Lerngruppen stark. Gleichzeitig galt es, Unsicherheiten gegenüber digitalen Räumen zu nehmen und die Beteiligungshürde durch Übungseinheiten mit sichtbaren Erfolgen schrittweise abzubauen. Dies forderte eine umfängliche Betreuung und einige Testläufe, wie z.B. in den zuvor organisierten Test-Videokonferenzen.

“Für die Klient*innen war das eine ganz neue Dimension des Denkens. Hinzu kommt, dass sich alle Klient*innen selbstständig für den Kongress angemeldet haben, denn sie wussten nun wie man tippt, die Maus bedient und hatten sogar eine eigene E-Mail-Adresse. Ein echter Erfolg!”

Von “Was soll uns das bringen?” hin zu “Ich mache mit!”

Doch bevor es mit den Schulungen losgehen konnte, mussten den potentiellen Teilnehmenden zunächst das Anliegen der Veranstalter sowie der Zweck ihrer Teilnahme vermittelt werden. So machten viele Einrichtungen die Erfahrung, dass zunächst keine Bereitschaft bestand an der Veranstaltung teilzunehmen, weil der persönliche Sinn nicht sofort erkannt wurde. Für Personen, die bisher keine Partizipation erleben konnten, ist diese Reaktion nur nachvollziehbar. Es stellte sich also heraus, dass zu Beginn eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema Armut und eine Transferleistung zur individuellen Betroffenheit der Klient*innen stattfinden musste, ehe sie sich für die Veranstaltung interessierten und darüber hinaus sich selbst in der Position sahen, einen Beitrag leisten zu wollen.

“Die Teilnehmer*innen haben sich im Vorfeld ausführlich und kritisch mit dem Thema Armut auseinandergesetzt. Ihr Selbstvertrauen stieg von Treffen zu Treffen - sie wurden "endlich" ernst genommen, gefragt und gehört! - Die Konferenz selbst konnte von allen Teilnehmenden gut verfolgt werden. - Bis heute sind sie von der Veranstaltung beflügelt.”

Um am Kongress teilzunehmen war das technische Üben über die Teilnahme an einer Videokonferenz notwendig. Darüber hinaus arbeiteten wir gemeinsam mit den Einrichtungen daran die Konferenz so auszurichten, dass sich die von Armut betroffenen Teilnehmenden in einem Setting wiederfinden würden, in dem sie sich frei von Angst vor Beschämung und Stigmatisierung öffnen konnten. Dieses Ziel konnten wir nur mithilfe der sozialpädagogischen Fachkräfte erreichen, die sich vor Ort viel Zeit nahmen, um eine vertrauensvolle, offene Atmosphäre in den Gruppen zu schaffen. Das Team des Gesamtverbandes blickt nach wie vor mit viel Wertschätzung und großem Respekt auf die Arbeit der Verantwortlichen, die es geschafft haben die Teilnehmenden über diesen Anlass miteinander in Verbindung zu bringen, zu motivieren, Unsicherheiten zu nehmen und jeden beteiligten Menschen nach seinen Bedürfnissen und in seinem Tempo zu begleiten.

“Wir haben uns näher kennen gelernt. Wir haben in den Teamsitzungen den Kongress vorgestellt und das Team am Prozess der Vorbereitung teilhaben lassen. Wir haben den einzelnen Teilnehmerinnen das Anliegen des Kongresses erklärt und die Form als Aktionskongress vorgestellt, was uns alle erst mal gefordert hat. Die vorausgehenden Gespräche haben uns näher gebracht, uns gefordert uns intensiver mit dem Thema auseinander zu setzen. Es ist eine Art von Verbundenheit entstanden und der Wunsch auch nach dem Kongress in Kontakt und am Thema dran zu bleiben.“

Für die Teilnahme an der Veranstaltung legten wir im Laufe der Zeit unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten für die Klient*innen fest. Es sollte möglich sein zuzuhören aber auch eigene schriftliche oder mündliche Beiträge zu machen. Mit einem Filmprojekt sollte den Klient*innen eine weitere Option geboten werden, einen Redebeitrag einzubringen. In Video- oder Audioformaten beantworteten die von Armut betroffenen Menschen Fragen zu ihrer Lebenswirklichkeit, ihren Herausforderungen und ihren Wünschen und schickten diese bei uns ein. Der Film wurde zu Beginn des Aktionskongresses allen Teilnehmenden präsentiert.

Der Aktionskongress gegen Armut

Die Einrichtungen organisierten die Teilnahme an der Veranstaltung vor Ort in unterschiedlichen Szenarien. Mal saßen zwei Personen sowie eine Ansprechperson am Laptop, mal nahmen die Teilnehmenden einzeln mit oder ohne Betreuung am Kongress teil. Am Tag des Events zeigte sich darüber hinaus, dass einige Einrichtungen Public Viewings organisiert hatten, bei denen eine Gruppe von Teilnehmenden vor einer Leinwand saß und die Veranstaltung gemeinsam verfolgte. So wurde die Teilnahme an der Veranstaltung als ein Event mit Buffet und Austausch zwischendurch, das Wirkung zeigte: “Insbesondere die Gruppenteilnahme vor Ort war ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Empowerment der Betroffenen.” Später wurde von den Prozessverantwortlichen mehrfach betont, dass die Teilnahme an einem digitalen Format aber in vertrauter Umgebung maßgeblich für die erfolgreiche Teilhabe der Klient*innen war. Sie mussten sich nicht an neue Gegebenheiten gewöhnen und konnten jederzeit aussteigen, Pause machen, sich austauschen oder Nachfragen stellen.

Um die Veranstaltung trotzs schneller Dialoge und ungewohnter Fachbegriffe verfolgen zu können, wurde die Simultanübersetzung des Gesprochenen in Leichte Sprache angeboten. Hierfür aktivieren die Teilnehmenden die Funktion bei Bedarf über das Zoom-Bedienfeld und hören an Stelle der Rednerin die Übersetzerin sprechen. Darüber hinaus legten wir das Rahmenprogramm so aus, dass es sowohl für die Beteiligung über Chat als auch in niedrigschwelligen Austauschformaten genügend Zeit gab. Im Speakers’ Corner, einer offenen Gesprächsrunde für eigene Beiträge, teilten viele von Armut betroffene Menschen zum ersten Mal ihre Lebenserfahrung vor großem Publikum. Diese eineinhalb Stunden haben uns und alle Anwesenden unglaublich berührt und wirken noch immer nach. Bei den Teilnehmenden war ein Gefühl besonders stark: Sie waren stolz! Für sie war es eine große Ehre ihre Stimme auf der Veranstaltung einbringen zu können, sie fühlten sich ernst genommen und in ihrer Situation bestärkt.

Empowerment, Vernetzung, Selbstwirksamkeit

Über den thematische Anlass des Kongresses, wurde es vielen Teilnehmenden erstmals ermöglicht sich mit anderen Betroffenen über Armutserfahrungen in einem digitalen Raum auszutauschen und zu verbinden. Obwohl sie zuvor teilweise keinerlei Berührungspunkte mit dem Internet hatten, setzten sie sich über die Teilnahme an der Veranstaltung mit digitalen Medien auseinander. Die Teilnahme an einem Online-Format, in vertrauter Umgebung und in Gesellschaft, setzte die Teilnahmeschwelle weit herunter. Neben der Beschaffung von Hardware, stellt der Zugang zum Internet jedoch die größte Zugangshürde dar. Trotz der Ausstattung stießen die Einrichtungen teilweise bei der Bereitstellung des Internetzugangs und von Räumlichkeiten an ihre Grenzen. Positiv bewerten lässt sich trotzdem, dass das Projekt zu weiteren Bemühungen geführt hat, diesen Mangel zukünftig anzugehen. Leider handelt es hier nicht um eine reine Willenssache, sondern benötigt unbedingt politische sowie strukturelle Unterstützung.

Was uns immer noch begeistert ist, in welchem Maß das politische Interesse bei den Teilnehmenden zum Vorschein kam. Viele Einrichtungen meldeten zurück in Zukunft weitere Maßnahmen für digitaler Teilhabe durchführen zu wollen, um die neu entdeckte Selbstverantwortung der Klient*innen weiter zu fördern, denn die Nachfrage und der Bedarf ist durch die Veranstaltung vielfach sichtbar geworden. Geplant sind z.B. die Übertragung des Teilhabeprojekts auf andere Themenbereiche, das Angebot von Computerkursen, die Organisation von Thementagen, die Gründung von einer AG Armut oder eine Werkstatt zum digitalen Empowerment für Frauen.

Die Beteiligung am Aktionskongress löste bei vielen zudem den Wunsch aus sich weiter in digitalen Formaten einbringen zu wollen. Diesen Bedarf nahmen wir zum Anlass, um ein weiteres digitales Angebot schaffen, das speziell auf die im Pilotprojekt beteiligte Zielgruppe ausgerichtet war. Wieder arbeitete der Gesamtverband eng mit den Einrichtungen des Projekts zusammen und bot gleich im November 2021 ein digitales Austauschformat an, dass ausschließlich nach den Bedürfnissen der Zielgruppe ausgerichtet war. Die Programmelemente waren kurzweilig, basierten auf niedrigschwelligen Austauschformaten in Kleingruppen und nahmen die Anliegen der Betroffenen in den Blick. Die Teilnehmenden sprachen offen über ihre alltäglichen Herausforderungen, die in der Auseinandersetzung mit konkreten politischen Forderungen mündete. Einige der gesammelten Aussagen aus dieser Veranstaltungen veröffentlichten wir nachfolgend im Paritätischen Armutsbericht 2021.

Wie geht es weiter?

Aus den beteiligten Einrichtungen hat sich eine hoch engagierte Gruppe an Fachkräften herausgebildet, die unsere Aktivitäten weiter unterstützen möchten. Die Erfahrungen aus den vorangegangen Veranstaltungen sollen in weitere digitale Maßnahmen fließen, die wir nun gemeinsam mit allen Interessierten entwickeln und umsetzen. Im Juni 2022 kommen die Teilnehmenden aus dem Pilotprojekt - sowohl aus den vorangegangenen Projekten als auch neue, interessierte Klient*innen aus den Einrichtungen - in zwei digitalen Gesprächskreisen mit Politiker*innen des Bundestags für einen persönlichen Austausch über ihre Lebenswirklichkeit zusammen. Auch hier ermöglicht der digitale Zugang den Menschen mit Armutserfahrungen die Teilhabe an der Diskussion über ihre Belange und eröffnet ihnen damit neue Wege der Selbstbestimmung.

Lilly Oesterreich arbeitet im Projekt #GleichImNetz

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