Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg: Ukrainischer Junge erhält Leistungen der Eingliederungshilfe
Der Bezirk Mittelfranken hatte mit Verweis auf die Regelung in § 100 SGB IX einem neunjährigen Jungen mit Behinderung, der gemeinsam mit seiner Familie im März 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet war, Leistungen der Eingliederungshilfe verweigert. Das Sozialgericht Nürnberg verpflichtet nun den Bezirk, die Leistungen zu erbringen.
§ 100 Abs 1 Satz 1 SGB IX beschränkt den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe für Ausländer*innen, die sich in Deutschland aufhalten: Sie können Leistungen erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Nur wer eine Niederlassungserlaubnis oder einen befristeten Aufenthaltstitel hat und sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhält, hat Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).
Der Junge ist im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz. Er besucht die zweite Klasse eines Förderzentrums. Seine Eltern beantragten im Juni 2022 beim zuständigen Leistungsträger die Übernahme der Kosten für den Besuch einer Heilpädagogischen Tagesstätte. Der lehnte ab: Die Entscheidung liege nach § 100 Abs 1 Satz 1 SGB IX in seinem Ermessen, die beantragte Maßnahme sei auch geeignet, den Jungen zu fördern und zu integrieren, sie sei aber nicht erforderlich und auch nicht angemessen.
Das Gericht führt in seiner Entscheidung aus, dass anders als vom Bezirk Mittelfranken angenommen, im Fall des Jungen die Beschränkung auf Ermessensleistung nach §100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX keine Anwendung findet: „Entgegen der Auffassung des Antragsgegners spricht hierbei der Umstand, dass dem Antragsteller – vorerst – nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, nicht gegen die Prognose eines dauerhaften Aufenthalts. (…) Ebenso wenig spricht die Begrenzung der Aufenthaltserlaubnis auf 2 Jahre gegen einen dauerhaften Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland. Die Befristung resultiert vielmehr aus den der konkret erteilten Aufenthaltserlaubnis zugrundeliegenden allgemeinen europarechtlichen Vorgaben des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001, die eine individuelle Prüfung der voraussichtlichen Dauer im Einzelfall nicht obsolet machen. Die Befristung ist überdies verlängerbar (vgl. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001).“ (Beschluss S 5 SO 25/23 ER, S.9)
Für die Beurteilung, ob es sich um einen dauerhaften Aufenthalt handele, müsse jeweils im Einzelfall ermittelt werden. Das Gericht kann nicht erkennen, dass der Bezirk diesbezüglich eine Sachverhaltsaufklärung vorgenommen hätte. Die vorliegenden Unterlagen enthielten ausschließlich Hinweise für einen dauerhaften Aufenthalt. Das Gericht führt aus: „Hat aber der Antragsteller die Absicht, in Deutschland zu bleiben und erscheint die Verstetigung seines Aufenthalts vorliegend rechtlich möglich (siehe dazu oben), ist von einer voraussichtlichen Dauerhaftigkeit des Aufenthalts auszugehen (vgl. Zinsmeister in Dau/Düwell/Joussen/Luik, SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 6. Aufl. 2022 § 100 Rn. 3).“ (ebd., S. 11)
Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt werden.
Die beglaubigte Abschrift des Beschlusses ist dieser Fachinformation beigefügt.