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Diskriminierungsfreie Triage ist Menschenrecht - Paritätisches Positionspapier beschlossen

Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen sind im Gesundheitswesen häufig Vorurteilen und Benachteiligung ausgesetzt. Auch in der Pandemie sind sie nicht ausreichend vor Diskriminierung geschützt. Welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, um Diskriminierung zu verhindern, wenn es um die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen geht, die nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen? Der Paritätische Gesamtverband bringt sich mit einem Positionspapier in diese Debatte ein.

Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, um eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen zu verhindern. Dies stellte das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021 in seinem Beschluss zu einer Verfassungsbeschwerde fest, die neun Menschen mit Behinderungen eingereicht hatten, weil sie sich diskriminiert sahen. Das Gericht formuliert in seinem Beschluss, der Gesetzgeber habe Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt, indem er nicht tätig geworden ist. Er ist nun verpflichtet, unverzüglich Vorkehrungen zu treffen, um den Schutz vor Diskriminierung sicherzustellen, so das Gericht. Bisher hat die Bundesregierung noch keinen Vorschlag für eine gesetzliche Neuregelung öffentlich vorgelegt. Der Paritätische bringt sich in die Diskussion um notwendige Vorkehrungen mit Eckpunkten ein, die im Folgenden kurz dargestellt werden:

Grundsätzlich müssen Seitens des Gesetzgebers alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um eine Situation zu verhindern, die eine Zuteilung von Ressourcen, d. h. eine Triage, erfordert. Dies gilt z.B. im Bereich des Katastrophenschutzes, kriegerischen Auseinandersetzungen sowie des Schutzes der Bevölkerung von Epidemien wie akut der SARS-CoV-2-Pandemie. Zu Triage-Situationen darf es nicht kommen. Darüber hinaus muss gewährleistet werden, dass niemand aufgrund einer drohenden Ressourcenknappheit beeinflusst wird, sich gegen eine intensivmedizinische Behandlung oder eine Krankenhausaufnahme zu entscheiden. Es muss jeder Person möglich sein, die persönliche Entscheidung über Behandlungswünsche und Grenzen einer Behandlung selbstbestimmt und mit Blick auf die individuelle Situation zu treffen.

Gleichzeitig gilt: In die Diskussion um die nun zu treffenden Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierung müssen diejenigen einbezogen werden, die konkret von Diskriminierung bedroht sind. Alle Regelungen müssen partizipativ erarbeitet, konkretisiert und evaluiert werden. Der Beschluss des Verfassungsgerichts macht deutlich, dass es sich bei den Vorkehrungen, die es nun zu treffen gilt, in der Sache nicht in erster Linie um medizinische Fragen handelt. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass dem Diskriminierungsverbot entsprochen wird. Wenn der Gesetzgeber nun Regelungen trifft, die in derart tragischen Entscheidungssituationen zur Anwendung kommen, muss der Bezug zum verfassungsrechtlich verankerten Benachteiligungsverbot und zur UN-Behindertenrechtskonvention hergestellt werden. Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden.

Kriterium für eine Entscheidung darf allein die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit sein, das erklärt auch das Gericht in seinem Beschluss. Dies muss daher auch mit Blick auf die nun zu treffenden Regelungen das einzige Kriterium sein, das für Auswahlentscheidungen herangezogen werden darf. Alle Patient*innen, die mit einer Behandlung die Chance haben, ihre Erkrankung zu überleben, müssen also die gleiche Chance auf diese Behandlung erhalten. Inwiefern es möglich ist, mit Blick auf die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit in jeder Konstellation diskriminierungsfrei zwischen Patient*innen zu hierarchisieren, ist unter den Mitgliedern des Paritätischen Gesamtverbands umstritten. Während einerseits argumentiert wird, es dürfe gerade mit Blick auf Patient*innen, deren Prognose sehr ähnlich ist, nicht der Versuch unternommen werden, eine Einschätzung darüber zu erlangen, bei welchen Patient*innen im Vergleich mit anderen Patient*innen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit besteht, halten andere dies für richtig und auch diskriminierungsfrei durchführbar. Vor diesem Hintergrund hält der Paritätische es für erforderlich, dass eine rechtliche Regelung randomisierte Verfahren zumindest nicht ausschließt. Sollte eine Regelung diskutiert werden, die Allokationsentscheidungen mit Bezug auf eine höhere oder weniger hohe Überlebenswahrscheinlichkeit zwischen Patient*innen vorsieht, muss eine solche Entscheidung in jedem Fall von einem interdisziplinären Team getroffen, dokumentiert und nachträglich evaluiert werden.

In einer Situation, in der nicht alle behandelt werden können, darf keine Behandlung, die medizinisch noch indiziert ist, zu Gunsten anderer Patient*innen abgebrochen werden (Triage bei Ex-post-Konkurrenz). Alle Patient*innen müssen sich darauf verlassen können, dass eine medizinische Behandlung so lange wie individuell nötig und gewünscht durchgeführt wird.

Für alle Menschen, auch für Menschen mit chronischer Erkrankung und Behinderung, ist ein diskriminierungs- und barrierefreier Zugang zu allen allgemeinen Gesundheitsdienstleistungen wie auch zu spezifischen Gesundheitsdienstleistungen aufgrund der Behinderung sicherzustellen (siehe Art. 25 UN-BRK). Dies gilt ganz grundsätzlich, denn nur so besteht auch in extremen und schwierigen Belastungssituationen die Möglichkeit, chronisch erkrankte und beeinträchtigte Menschen gut zu versorgen. Barrierefreiheit ist die Grundlage für eine diskriminierungsfreie medizinische Versorgung. Das bedeutet unter anderem, dass die Kommunikation zwischen medizinischem und pflegerischem Personal und Patient*innen immer möglich sein muss (z. B. über Leichte Sprache, Gebärdensprache). Auch baulich dürfen keine Barrieren bestehen.

Die Debatte um die Triage hat beispielhaft gezeigt, dass noch immer eine große Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und den Erfahrungen behinderter und chronisch erkrankter Menschen und der medizinischen Perspektive auf diesen Personenkreis besteht. Der medizinische Blick auf Behinderung ist noch immer stark defizit- und nicht teilhabeorientiert. Nur wenn die Be-handlung von Menschen mit Behinderungen in Ausbildung und Praxis zur Selbstver-ständlichkeit wird, kann sich gegenseitiges Verständnis entwickeln. Eine diskriminierungssensible Perspektive ist in der Aus- und Fortbildung im Gesundheitswesen zu verankern.
 

Dem anliegenden Papier sind weitere Ausführungen zu den geschilderten Eckpunkten zu entnehmen.