Gewaltschutz zweiter Klasse
Vor Kurzem wurde das Gewalthilfegesetz beschlossen. Ohne Frage: das Gesetz ist ein Meilenstein und entscheidender Schritt im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Doch gewaltbetroffene geflüchtete Frauen sowie weitere schutzbedürftige Personen u.a. mit prekärem Aufenthalt werden durch diese Maßnahmen nicht hinreichend geschützt. Für sie bleiben zentrale Schutzlücken und spezifische Zugangshürden ins Hilfesystem bestehen.
Die Hälfte aller Flüchtenden weltweit sind Frauen und Mädchen. Sie fliehen genau wie andere vor Krieg, Terror, Hunger, politischer oder religiöser Verfolgung. Für Frauen, LSBTIQ* und Kinder ergeben sich darüber hinaus jedoch spezifische Fluchtgründe, die an das Geschlecht und/ oder die sexuelle Orientierung geknüpft sein können. Sie fliehen vor sexualisierter und häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung, Menschenhandel, Angst vor Ehrenmord oder (drohender) Genitalverstümmelung/-beschneidung. Sie sind in einem besonders hohen Maße vor, während und nach der Flucht von geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht und betroffen. In Deutschland angekommen erleben viele von ihnen (erneut) geschlechtsspezifische Gewalt: in Unterkünften, Familie und Partner*innenschaft.
Deutschland ist durch verbindliche Abkommen wie die Istanbul-Konvention und die EU-Aufnahmerichtlinie verpflichtet, diese besonders schutzbedürftigen Personengruppen systematisch zu identifizieren, angemessen zu versorgen und zu schützen.
Doch in der Praxis erschweren rechtliche Vorgaben und Hürden im Asyl- und Aufenthaltsgesetz sowie sprachliche Zugangshürden und fehlendes Wissen über ihre Rechte häufig den umfassenden wirksamen Schutz dieser Personen. Ihr Gefährdungspotential ist gravierend hoch, insbesondere weil sie durch ihren rechtlichen Aufenthaltsstatus und durch die teilweise verpflichtende Unterbringung meist kaum Handlungsoptionen haben, daran etwas zu verändern bzw. selbständig Schutz zu suchen und schnell unbürokratisch Hilfe zu erhalten.
Um nur einige Schutzlücken und Hürden aufzuzeigen:
Geflüchtete Frauen und LSBTIQ* sowie Kinder sind in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften besonders stark von geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht. Ihre besonderen Schutzbedarfe werden trotz EU-Aufnahmerichtlinie häufig nicht hinreichend berücksichtigt. Entsprechende Vorgaben der Länder und Kommunen, gem. §§ 44 Abs. 2a und 53 Abs. 3 AsylG den Schutz vor Gewalt zu gewährleisten, greifen nicht umfassend und flächendeckend.
Betroffene von Gewalt, deren Aufenthaltsstatus an eine Ehe mit einem gewalttätigen Partner*in gebunden ist, haben häufig Angst vor einer Abschiebung und können aus diesem Grund keine Hilfe in Anspruch nehmen. Nach der sog. „Ehebestandszeit“ in § 31 AufenthG kann ein vom Partner unabhängiger Aufenthaltstitel regelmäßig erst nach drei Jahren Ehe in Deutschland erteilt werden. Die Härtefallregelung für Opfer häuslicher Gewalt, schon vor Ablauf dieser drei Jahre einen sicheren eigenständigen Aufenthalt zu erlangen, ist mit hohen Hürden verbunden und in der Praxis kaum durchsetzbar. Sie und ihre Kinder verharren daher oft zu lang in der gefährlichen Situation.
Wohnsitzverpflichtungen können für anerkannte Flüchtlinge und sonstige Personen mit humanitären Aufenthaltstiteln den Zugang zu einem schnellen und effektiven Schutz vor Gewalt erschweren, teilweise sogar verhindern. Wohnsitzauflagen führen trotz Härtefallregelung in der Praxis immer noch häufig dazu, dass Betroffenen der unbürokratische Zugang in ein Frauenhaus einer anderen Kommune oder eines anderen Bundeslandes verschlossen bleibt, obwohl es keine anderen Schutzmöglichkeiten gibt. Die Hürden für die Aufhebung von Wohnsitzverpflichtungen gem. § 12a Abs. 5 Nr. 2 AufenthG in Gewaltschutzfällen sind durch das Nachweiserfordernis in den meisten Fällen zu hoch.
Die Situation der von Gewalt bedrohten Frauen und LSBTIQ* ohne Aufenthaltspapiere ist gravierend. Aufgrund behördlicher Meldepflichten haben Betroffene häufig Angst vor einer Abschiebung und können deshalb selten Hilfe in Anspruch nehmen.
Obwohl die geschlechtsspezifische Verfolgung seit 2005 als Asylgrund in Deutschland anerkannt ist und auch Art. 60 Abs. 1 Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, schwere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt als eine Form der Verfolgung anzuerkennen, wird dies in Asylverfahren oft nicht ausreichend berücksichtigt. In vielen Fällen erhalten Betroffene nicht ausreichend rechtlichen Schutz. In vielen Fällen wird den Betroffenen nur ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG oder subsidiärer Schutz zuerkannt, statt einer rechtlichen Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention, was ihre Rechte, z.B. auf Familiennachzug, massiv einschränkt oder ganz ausschließt
All diese Probleme sind hinlänglich aus der Praxis sowie in Politik und Forschung bekannt. Auch der Expertenausschuss des Europarats GREVIO1 hat Ende 2022 ausdrücklich an vielen Stellen auf die Situation asylsuchender Frauen und anderer marginalisierter Gruppen hingewiesen, die nicht im gleichen Maße von Gewaltschutzmaßnahmen profitieren können.2 Eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst in Auftrag gegebene Studie zur Evaluierung der Wohnsitzregelung aus dem Jahr 20233 bestätigt den unzureichenden Schutz in Gewaltschutzfällen.
Ein Lichtblick wäre es gewesen, einige dieser Hürden mit dem jüngst verabschiedeten Gewalthilfegesetz abzubauen. Ohne Frage – das Gesetz ist ein Meilenstein und entscheidender Schritt im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Es sieht ab 2032 einen bundesweiten kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt Betroffene und ihre Kinder vor. Zudem wird sich der Bund an den Kosten für den dringend notwendigen Ausbau von Schutz- und Beratungseinrichtungen beteiligen.
Doch gewaltbetroffene geflüchtete Frauen sowie weitere schutzbedürftige Personen u.a. mit prekärem Aufenthalt werden durch diese Maßnahmen nicht hinreichend geschützt. Für sie bleiben zentrale Schutzlücken und spezifische Zugangshürden ins Hilfesystem bestehen. Zu sagen, dies sei ein Versäumnis, eine vertane Chance, wäre angesichts der gravierenden Gefährdung dieser Personengruppe noch zu euphemistisch. Es bestätigt vielmehr den Eindruck eines Gewaltschutzes zweiter Klasse.
Der Paritätische appelliert an Deutschland, den Gewaltschutz-Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention auch und gerade im Hinblick auf marginalisierte und besonders schutzbedürftige Gruppen nachzukommen und sieht darüber hinaus folgenden dringenden Handlungsbedarf:
Die Wohnverpflichtung in Erstaufnahmeeinrichtungen gem. § 47 AsylG sollte für alle Asylsuchenden aufgehoben werden. Auch sollte die freie Wohnsitzwahl nach einer Anerkennung gesetzlich ermöglicht werden, indem die Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG gestrichen wird.
Solange Menschen verpflichtet oder mangels Zugangs zu privatem Wohnraum gezwungen sind, über einen längeren Zeitraum in großen Unterkünften zu wohnen, müssen dringend Unterbringungs- und Gewaltschutzstandards4 garantiert werden.
Die Pflicht zur bundesweiten systematischen, flächendeckenden und frühzeitigen Identifizierung besonderer Schutzbedarfe ist rechtlich zu verankern. Darüber hinaus muss der vollumfängliche und diskriminierungsfreie Zugang zu den Leistungen des Sozialgesetzbuches für alle Geflüchteten geöffnet werden und bei entsprechenden Bedarfen ihre menschenrechtlich garantierte Versorgung auch tatsächlich gewährleistet werden.
Es braucht einen flächendeckenden Ausbau eines diskriminierungs- und kostenfreien Schutz-, Unterstützungs- und Beratungssystems für alle Betroffenen geschlechtsbezogener Gewalt.
Es ist zwingend, zeitnah eine Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Regelungen für alle Betroffenen von innerfamiliärer oder partnerschaftlicher Gewalt herbeizuführen, indem der § 31 AufenthG insbesondere in Hinblick auf die Härtefallklausel und Ehebestandszeit angepasst und für Kinder eine entsprechende Härtefallklausel geschaffen wird. Mit Blick auf die Betroffenen von Menschenhandel muss es ein Aufenthaltsrecht für Betroffene unabhängig von ihrer Aussage im Strafverfahren geben.