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Gutachten „Beitragssatzeffekte einer Pflegebürgervollversicherung“: Hintergründe und Erläuterungen.

Der Paritätische hat mit dem Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung ein Gutachten vorgelegt, wie pflegebedingte Kosten vollständig von der Versicherung übernommen werden können. Die Eigenanteile in der Pflege laufen aus dem Ruder und die Lasten in der sozialen und privaten Pflegeversicherung sind zum Nachteil der gesetzlich Versicherten unsolidarisch verteilt. Derzeit müssen Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Aufenthaltes in einem Pflegeheim durchschnittlich rund 2.970 Euro pro Monat selbst aufbringen. Davon entfallen allein auf die pflegerische Versorgung rund 1.490 Euro. Tendenz steigend. 35 % sind so auf Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) angewiesen. Pflege ist ein echtes Armutsrisiko. Auch in Häuslicher Pflege gibt es Handlungsbedarf. Eine effektive Begrenzung des Eigenanteils kann durch eine Vollversicherung gewährleistet werden. Damit würde der ursprünglichen Zielstellung der Pflegeversicherung entsprochen. Erhöhten Ausgaben dieses Schrittes kann durch eine Bürgerversicherung entgegengewirkt werden. Es entsteht eine Pflegebürgervollversicherung. Die vollständige Übernahme pflegebedingter Kosten kann so praktisch ohne Beitragssatzsteigerung finanziert werden. Wie die Berechnungen im Gutachten von Prof. Dr. Heinz Rothgang zeigen, sind die durch die Bürgerversicherung generierten Mehreinnahmen auch langfristig ausreichend, um eine Vollversicherung zu finanzieren. Und eine Bürgerversicherung führt zu mehr Gerechtigkeit beim Lastenausgleich zwischen den Versicherten der sozialen und privaten Versicherungssäulen. Eine private Zusatzversicherung, um dem doppelten Finanzierungsproblem in der Pflege zu begegnen, ist aus Sicht des Paritätischen keine gute Lösung. Das Gutachten zeigt einen fundierten Gegenvorschlag auf.

Der Gutachtenauftrag bezog sich auf die Berechnung der Beitragssatzeffekte einer Pflegebürgervollversicherung. Dazu wird die Beitragssatzentwicklung für die soziale Pflegeversicherung gemäß dem Status quo, eine Pflegevollversicherung, eine Bürgerversicherung und für eine Pflegebürgervollversicherung berechnet. Berechnet wird der Effekt (Beitragssatzpunkte und Euro) jeweils zunächst im „day oder morning after“-Szenario, also am Tag nach einer Umstellung. Das ausgewiesene Basisjahr der Berechnungen ist 2023. Die Berechnungen wurden dann für eine mittlere Frist bis 2028 durchgeführt und ergänzt durch eine langfristige Modellrechnung bis 2060. Für die Vollversicherung und die Bürgerversicherung werden dabei noch verschiedene Varianten unterschieden, die sich im Hinblick auf die berücksichtigten Einkommensarten und die Beitragsbemessungsgrenze (Bürgerversicherung) und die Leistungshöhen in einer Vollversicherung (gerade für den ambulanten Bereich bzw. die Häusliche Pflege) unterscheiden.

Während in den Berechnungen für die vollstationäre Pflege der gesamte Pflegesatz inklusive der Ausbildungskosten herangezogen wurde, wurden für die Häusliche Pflege zu den Ausgaben im Status quo weitere Ausgaben einbezogen, die derzeit empirisch hergeleitet privat getragen werden. Als Durchschnittswert aller ambulant versorgten Pflegebedürftigen wird ein Wert von 130 Euro / mtl. zur Deckung von Eigenanteilen herangezogen. Als weitere Variante wurde dieser Wert verdoppelt. Hinzu kommt für alle ambulant versorgten Pflegebedürftigen ein pauschaler monatlicher Betrag von 100 Euro zur Finanzierung einer obligatorischen Fallsteuerung, so dass pro pflegebedürftige Person in Häuslicher Pflege Mehrausgaben von 230 Euro (Variante 1) bzw. 360 Euro (Variante 2) in den Modellrechnungen berücksichtigt wurden.

Ergebnisse für die Beitragssatzberechnungen: 

Morning After-Szenario:

  • Der ausgabendeckende Beitragssatz einer Bürgerpflegevollversicherung liegt in der Variante 1 nur geringfügig über dem ausgabendeckenden Beitragssatz im Status quo (3,54 insgesamt oder nur 0,09 Beitragssatzpunkte mehr als derzeit). In der großzügigeren Variante 2 ergibt sich ein Beitragssatzanstieg von 0,35 Beitragssatzpunkten. Für die Versicherten mit einem Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze (Stand 2024) führt die Einführung der Pflegebürgerversicherung in der Variante 1 nur zu einer marginalen Veränderung der monatlichen Beiträge von weniger als 5 Euro.

Beitragssatzeffekte bis 2028:

  • Der positive Beitragssatzeffekt der Bürgerversicherung ist auch auf mittlere Sicht annähernd ausreichend, um die Vollversicherung in Variante 1 zu finanzieren. In Variante 2 liegt der ausgabendeckende Beitragssatz 2028 um mehr als vier Zehntel Beitragssatzpunkte oberhalb des ausgabendeckenden Beitragssatzes im Status quo.

Beitragssatzeffekte bis 2060:

  • Diese Effekte bleiben im Wesentlichen auch auf längere Frist stabil.

Fazit:

  1. Die zwischenzeitlich erreichte Höhe bundesdurchschnittlicher Eigenanteile in stationärer Pflege und die absehbare Steigerung sind ein Risko für pflegebedingte Armut. Der Anspruch der Pflegeversicherung ist es, diese zu vermeiden. Eine Dynamisierung der Leistungen und der Leistungszuschuss nach § 43c SGB XI kann offensichtlich keine Abhilfe schaffen, denn die Eigenanteile sind nun höher als bei Einführung der Zuschüsse. 
  2. Ein konkreter Reformvorschlag und eine überzeugende Alternative zu einer vielfach diskutierten privaten Zusatzversicherung ist die Pflegebürgervollversicherung, unter Einbeziehung der bisher Privatversicherten in die Sozialversicherung, der Einbezug weiterer Einkommensarten und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze.
  3. Zusätzliche Leistungen der Häuslichen Pflege müssen in dieser Reform vorgesehen werden, die wie in Variante 1 berücksichtigt, den bislang durchschnittlich aufgebrachten Eigenanteilen entsprechen und zudem noch einen weiteren Betrag für Fallsteuerung enthalten. Um Unsicherheiten bei den Ausgaben in diesem Bereich entgegenzutreten, wurde eine Variante 2 mit höheren Ausgaben berücksichtigt. 
  4. Eine derartige Vollversicherung führt zu Mehrausgaben der Pflegeversicherung, die aber bei gleichzeitiger Einführung der Bürgerversicherung praktisch ohne Beitragssatzsteigerung finanziert werden können.
  5. Für die Pflegeversicherung führen die Bürgerversicherungselemente zu einer Beendigung der strukturellen Einnahmeschwäche und stabilisieren die Finanzierung dieses Systems daher auch nachhaltig. Ungerechtigkeiten bei der Lastenverteilung werden abgeschafft.

Das Gutachten wurde im Auftrag des Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung von Prof. Dr. Heinz Rothgang und Dominik Domhoff, M.A. (beide Universität Bremen) Ende 2024 erstellt. Dem Bündnis gehören an: Der Paritätischer Gesamtverband, die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK), der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Bundesverband der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB), der Deutsche Frauenrat, der BIVA-Pflegeschutzbund, der Arbeiter-Samariter-Bund, die Volkssolidarität, die Arbeiterwohlfahrt AWO und die IG Metall. Vor dem Hintergrund der enormen und weiter steigenden finanziellen Belastungen Pflegebedürftiger setzt sich das Bündnis für eine Reform der Pflegeversicherung ein. Das Gutachten sowie weitere Informationen zu den Forderungen des Bündnisses sind hier abrufbar: www.solidarische-pflegevollversicherung.de