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GVWG: Wie können Einrichtungen Tarifverträge für sich zur Anwendung bringen?

Nach § 72 Abs. 3a Sozialgesetzbuch (SGB) XI - in der Fassung des am 11. Juli 2021 in Kraft getretenen Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) - dürfen ab 1. September 2022 Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die in Bezug auf ihre Pflegekräfte entweder tarifgebunden sind oder sie jedenfalls nicht untertariflich bezahlen. Versorgungsverträge, die vorher abgeschlossen wurden, müssen mit Wirkung ab 1. September 2022 entsprechend angepasst werden.

Im folgenden gehen wir näher darauf ein, wie Einrichtungen Tarifverträge für sich zur Anwendung bringen können und was dabei zu beachten ist.

 

A. Tarifbindung, § 3 TVG

Versorgungsverträge dürfen zum einen nur noch mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihren Arbeitnehmer*innen, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen, eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen (oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen) vereinbart ist, an die die jeweilige Pflegeinrichtungen gebunden sind.

Versorgungsverträge können demnach mit tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden. Tarifgebunden sind nach § 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrages ist.

Ein Verbandstarifvertrag findet demnach auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung, wenn sowohl der/die Arbeitnehmer*in in der tarifabschließenden Gewerkschaft organisiert als auch der Arbeitgeber Mitglied in dem tarifabschließenden Arbeitgeberverband ist.

Erforderlich ist eine (Voll-)Mitgliedschaft des Arbeitgebers im tarifabschließenden Arbeitgeberverband. Eine bloße Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (kurz „OT-Mitgliedschaft“) genügt folglich nicht, da sie lediglich die Partizipation an verbandlichen Serviceleistungen, wie zum Beispiel die Vertretung vor Arbeitsgerichten, umfasst.  

Auch die einzelne Einrichtung selbst kann als Arbeitgeber Tarifvertragspartei sein und mit einer Gewerkschaft einen Tarifvertrag abschließen, der dann als Haustarifvertag bezeichnet wird.

 

B. Inbezugnahme arbeitsvertraglicher Regelungen

Zum anderen dürfen aber auch mit Pflegeeinrichtungen, die nicht tarifgebunden sind, nach § 72 Abs. 3b SGB XI Versorgungsverträge ab dem 1. September 2022 abgeschlossen werden, wenn sie ihren Arbeitnehmer*innen, die Leistungen der Pflege oder Betreuung von Pflegebedürftigen erbringen, eine Entlohnung zahlen, die

1. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen räumlicher, zeitlicher, fachlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist,

2. die Höhe der Entlohnung eines Tarifvertrags nicht unterschreitet, dessen fachlicher Geltungsbereich mindestens eine andere Pflegeeinrichtung in der Region erfasst, in der die Pflegeeinrichtung betrieben wird, und dessen zeitlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist, oder

3. die Höhe der Entlohnung einer der Nummer 1 oder Nummer 2 entsprechenden kirchlichen Arbeitsrechtsregelung nicht unterschreitet.

Pflegeeinrichtungen, die nicht tarifgebunden sind, müssen demnach ihre Pflege- und Betreuungskräfte (mindestens) nach einem einschlägigen Flächen- oder Haustarifvertrag vergüten.

Wie sich die (erstmalige) Anwendung eines solchen Tarifvertrags im Einzelnen vollzieht, soll im folgendem erläutert werden.

 

1. Grundlegendes

Tarifverträge gelten heute nur noch selten kraft beiderseitiger Verbandsmitgliedschaft (siehe unter A.), sondern es ist mittlerweile weit verbreitet, dass in Arbeitsverträgen auf bestimmte Tarifverträge verwiesen wird. Solche Verweisungen erzeugen aber keine Tarifbindung in dem Sinne, dass nun ein Tarifvertrag, wie ein Gesetz, auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet, sondern es werden die in Bezug genommenen tariflichen Regelungen vielmehr selbst zum Inhalt des Arbeitsvertrags, sprich zu arbeitsvertraglichen Regelungen. Rechtlich gesehen ist das ein erheblicher Unterschied.

a) In der Regel wird eine solche Verweisung arbeitsvertraglich vereinbart werden. Im schon bestehenden Arbeitsverhältnis muss demnach ein Zusatz zum Arbeitsvertrag aufgesetzt und eine (einvernehmliche) Vereinbarung geschlossen werden, weil es einen erheblichen Eingriff in das Arbeitsverhältnis bedeutet, wenn in Zukunft abweichende Regelungen eines bestimmten Tarifvertrags gelten sollen.

Mit einem solchen Vertragszusatz erfüllen die Einrichtungen auch ihre Nachweispflicht nach § 2 Nachweisgesetz.

b) Zwar kann die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag auch stillschweigend erfolgen und durch eine betriebliche Übung zum Inhalt der Arbeitsverträge werden, indem der Arbeitgeber tarifliche Reglungen einfach „kommentarlos“ anwendet. Zu empfehlen ist das aber nicht, da es dann Unklarheiten im Hinblick auf den genauen Inhalt und die Reichweite der Bezugnahme geben kann.

c) Auch die Variante, dass Arbeitgeber erklären, zum Beispiel in einer Betriebsversammlung oder per „Rundmail“ im Intranet, dass und wie sie einen bestimmten Tarifvertrag in Zukunft anwenden wollen, ist nicht unproblematisch. Denn soweit der Tarifvertrag, der angewendet werden soll, günstigere Regelungen für die Arbeitnehmer*innen enthält, würden diese fortan gelten. Soweit aber die bisherigen Vereinbarungen (teilweise) günstiger wären, könnten diese durch die (einseitige) Erklärung des Arbeitgebers nicht außer Kraft gesetzt werden, sondern würden weiterhin gelten.

Ein (einvernehmlicher) Zusatz zum Arbeitsvertrag schafft dagegen Klarheit, was (ab wann) im Arbeitsverhältnis genau gelten soll.

d) In größeren Einrichtungen, in denen Betriebsräte gewählt wurden, könnte erwogen werden, in einer Betriebsvereinbarung tarifvertragliche (Entlohnungs-)Regelungen in Bezug zu nehmen und so für alle Arbeitnehmer*innen im Betrieb gelten zu lassen. Eine Inbezugnahme tariflicher Regelungen in einer Betriebsvereinbarung ist zwar grundsätzlich zulässig, wird im Ergebnis aber in vielen Fällen an der Tarifsperre nach § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) scheitern. Nach dieser Vorschrift können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, es sei denn, der Tarifvertrag sieht eine Öffnungsklausel vor.

Außerdem kann in einer Betriebsvereinbarung nicht dynamisch auf einen Tarifvertrag Bezug genommen werden, weil Arbeitgeber und Betriebsrat die Aufgabe haben, selbst betriebliche Regelungen zu schaffen, und ihre -Befugnis nicht einfach anderen, zum Beispiel den Tarifvertragsparteien, überlassen dürfen. Daher käme ohnehin nur eine statische Verweisung in Betracht.

 

2. Umfassende oder nur punktuelle Bezugnahme?

Nicht tarifgebundene Pflegeeinrichtungen werden absehbar auf einen der Tarifverträge verweisen (müssen), die auf den Übersichten auftauchen, die von den Landesverbänden der Pflegekassen veröffentlicht werden. 

Zulässig ist, einen Tarifvertrag vollständig in Bezug zu nehmen oder auch nur teilweise, wenn nur auf bestimmte tarifliche Bestimmungen verwiesen wird (punktuelle Bezugnahme).

Nach § 72 Abs. 3b) SGB XI kommt es maßgeblich darauf an, dass die Höhe der Entlohnung eines gewählten und in Bezug genommenen Tarifvertrags nicht unterschritten wird. Demnach kann, aber es muss nicht zwingend ein gewählter Tarifvertrag insgesamt, mit all seinen Regelungen, zum Beispiel auch in Bezug auf die Arbeitszeit, den Urlaub, Ausschlussfristen, etc., in Bezug genommen werden, sondern es reicht nach dem Wortlaut der Vorschrift aus, wenn sämtliche entlohnungsrelevanten Regelungen zur Anwendung gebracht werden.

Entlohnung umfasst das Arbeitsentgelt, das als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung gezahlt wird. Dazu zählen nicht nur die Tabellenentgelte, sondern zum Beispiel auch Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge oder eine Jahressonderzahlung, etc. Das Nähere werden die Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes nach § 72 Abs. 3c) SGB XI zu den Verfahrens- und Prüfgundsätzen zur Einhaltung der obigen Vorgaben regeln. Hierüber werden wir noch gesondert informieren.

Hinweis:

Pflegeeinrichtungen werden sich überlegen müssen, ob sie einen bestimmten Tarifvertrag insgesamt mit all seinen Regelungen anwenden und die bisherigen betrieblichen Bestimmungen (vollständig) ablösen oder ob sie zum Beispiel nur die entlohnungsrelevanten tariflichen Bestimmungen übernehmen und im Übrigen die bislang im Betrieb schon geltenden Regelungen beibehalten wollen.

Welcher Weg für Einrichtungen vorzugswürdig ist, kommt sehr auf den Einzelfall an. Generell ist zu berücksichtigen, dass es sich umso anspruchsvoller darstellen wird, einen (gesamten) Tarifvertrag einzuführen, je ausdifferenzierter und komplexer seine Regelungen sind. Vor allem für kleinere und mittelgroße Einrichtungen dürften „schlankere“ Tarifverträge leichter umsetzbar sein.

Soweit aus Tarifwerken nur die entlohnungsrelevanten Regelungen in Bezug genommen werden sollen, muss besondere Sorgfalt darauf verwendet werden, keine dieser Regelungen (möglicherweise auch unabsichtlich) zu übersehen, weil sonst die Voraussetzungen für den Abschluss eines Versorgungsvertrags fehlen könnten. Insoweit werden auch die erwarteten GKV-Richtlinien noch Aufschluss bringen, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt.

 

3. Statische oder dynamische Verweisung

Weiterhin können Einrichtungen wählen, ob sie auf einen Tarifvertrag in einer ganz bestimmten Fassung verweisen wollen, was als statische Verweisung bezeichnet wird und zur Folge hat, dass Änderungen dieses Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis nicht zur Geltung kommen. Die Mitarbeiter*innen haben nur Anspurch auf tarifliche Leistungen, wie sie im Zeipunkt der Inbezugnahme vereinbart waren.

Alternativ kann auch auf einen bestimmten Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung verwiesen werden (dynamische Verweisung). Wenn sich dieser Tarifvertrag fortentwickelt, gelten die Neuerungen (und Steigerungen) automatisch auch im Arbeitsverhältnis.

In jedem Fall muss klar geregelt werden, welchen Umfang (gesamter Tarifvertrag oder nur Teile daraus) und welche Reichweite (statisch oder dynamisch) eine arbeitsvertragliche Verweisung haben soll.

Hinweis:

Eine dynamische Inbezugnahme hat generell den Vorteil, dass Änderungen des in Bezug genommenen Tarifvertrags, insbesondere Entgelterhöhungen oder rechtlich gebotene Aktualisierungen, automatisch auch in den Arbeitsverhältnissen gelten, ohne dass sich die Einrichtung jedes Mal selbst darüber Gedanken zu machen braucht. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Mitarbeiter*innen ohne „Wenn und Aber“ einen arbeitsvertraglichen Anspruch, einschließlich aller etwaigen (regelmäßigen) Erhöhungen, auf die tarifliche Vergütung erwerben. Daher müssen die Einrichtungen in den Verhandlungen mit den jeweiligen Kostenträgern zunächst dafür sorgen, dass die Refinanzierung der vereinbarten Entlohnung der Arbeitnehmer*innen sichergestellt ist. Sollte dies, etwa im Hinblick auf "automatische" zukünftige Steigerungen im Voraus nicht möglich sein, kommt nur eine statische Verweisung in Betracht.

Sollte sich das Entlohnungsniveau, um ein anderes Beispiel zu nennen, in einer Pflegeeinrichtung noch (weit) von tariflichen Standards entfernt bewegen, und für eine vorübergehende Zeit möglicherweise noch ein „Zwischenschritt“ benötigt werden, bevor ambitioniertere Gehaltssteigerungen in Frage kommen, könnte der Weg sein, zunächst einmal einen einschlägigen, "schlanken" und vom Entlohnungsniveau her moderaten Haustarifvertrag (statisch) in Bezug zu nehmen, um auf diesem Niveau weiterzusehen.

In jedem Fall wichtig ist, dass nur ein Tarifvertrag, der auch refinanzierbar ist, in Bezug genommen wird. Die erwarteten Übersichten der Landesverbände der Pflegekassen werden die in Frage kommenden Tarifwerke benennen.

 

4. Formulierungsbeispiele

Generell kommt es auf den Einzelfall und auf die von der Einrichtung getroffenen grundlegenden Entscheidungen an, was mit Bestandsmitarbeiter*innen (ergänzend) vereinbart werden muss und wie Arbeitsverträge für neue Mitarbeiter*innen sinnvollerweise zu gestalten sind, wenn ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen soll. Folgende (schablonenartige) Formulierungsbeispiele sollen eine erste Orientierung bieten.

a) Wenn ein Tarifvertrag in vollem Umfang und statisch in Bezug genommen werden soll, kann zum Beispiel folgendes vereinbart werden:

Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem Tarifvertrag … in der Fassung vom …

Wenn nur Teile eines Tarifvertrags statisch übernommen werden sollen, zum Beispiel nur die entlohnungsrelevanten Regelungen, im Übrigen aber die bisherigen Bestimmungen weiterhin gelten sollen, kommt folgende Formulierung in Betracht: 

Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach den Regelungen … (genau bezeichnen!) des Tarifvertrags … in der Fassung vom … Im Übrigen gelten die bisherigen arbeitsvertraglichen Regelungen fort.

b) Sofern ein Tarifvertrag insgesamt und dynamisch in Bezug genommen werden soll, könnte zum Beispiel folgendes geregelt werden:   

Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem Tarifvertrag … in der jeweils geltenden Fassung.

Für den Fall, dass ein Tarifvertrag nur zum Teil und dynamisch übernommen werden soll, im Übrigen die bisherigen Regelungen weiterhin gelten sollen, könnte wie folgt formuliert werden:

Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach den Regelungen … (genau bezeichnen!) des Tarifvertrags … in der jeweils geltenden Fassung. Im Übrigen gelten die bisherigen arbeitsvertraglichen Regelungen fort.

Hinweis:

Solche Inbezugnahmeklauseln nehmen nicht nur nicht tarifgebundene, sondern verbreitet auch tarifgebundene Arbeitgeber in ihre Arbeitsverträge auf, weil in der Regel nicht bekannt ist, welche Mitarbeiter*innen in der tarifabschließenden Gewerkschaften organisiert sind und welche nicht, der Arbeitgeber aber regelmäßig die Mitarbeiter*innen gleichbehandeln und den Tarifertrag für alle zur Anwendung bringen will. In solchen Fällen empfiehlt sich auch noch eine Regelung zur (einheitlichen) Beendigung der (Tarif-)Dynamik für den Fall, dass der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband ausscheiden will.

In der Regel wird es einer eingehenden, einzelfallbezogenen rechtlichen Prüfung bedürfen, wie geeignete arbeitsvertragliche Regelungen aussehen können, um Tarifverträge rechtssicher in Bezug zu nehmen. 

 

5. Mitbestimmung

In nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen, in denen ein Betriebsrat gebildet wurde, ist von einem Mitbestimmungsrecht bei der Einführung tariflicher (Entlohnungs-)Regelungen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auszugehen. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere der Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung, mitzubestimmen. Demnach ist zunächst Einvernehmen mit dem Betriebsrat herzustellen, bevor Einrichtungen an ihre Mitarbeiter*innen mit Zusätzen zum Arbeitsvertrag (mit Bezugnahmeklausel) herantreten. Anderenfalls droht, dass sich Einrichtungen arbeitsvertraglich gegenüber ihren Mitarbeiter*innen schon zu etwas verpflichten, was sie betriebsverfassungsrechtlich möglicherweise (noch) gar nicht dürfen. Die Akzeptanz, tarifliche (Entlohnungs-)Regelungen einzuführen und ein bisher angewendetes betriebliches Vergütungssystem abzulösen, dürfte bei Betriebsräten jedoch groß sein, wenn sich für die Arbeitnehmer*innen hierdurch (finanzielle) Verbesserungen ergeben.