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Hartz IV: Bei der Regelbedarfsanpassung 2023 droht erneut reale Kürzung des Existenzminimums

Die anstehende Regelsatzanpassung zum 1.1.2023 droht ein weiteres Mal zu einer faktischen Kürzung der Leistungen bei Hartz IV und anderen existenzsichernden Leistungen zu werden. Die Paritätische Forschungsstelle hat ermittelt, wie die Regelbedarfe ausfallen, wenn sich die Festlegung der Regelbedarfe 2023 ausschließlich an der aktuell gültigen Anpassungsformel orientiert. Auf der Grundlage mittlerweile vorliegender Daten wird dabei eine Anpassung der Regelbedarfe um 4,6 Prozent ermittelt. Die Preise steigen aber schneller. Die Inflation beträgt im Juli 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat bereits 7,5 Prozent. Die Menschen würden ärmer.

Die Ampelregierung stellt mit der angekündigten Bürgergeldreform eine grundlegende Reform der Grundsicherung in Aussicht. In dem bisher vorliegenden Referentenentwurf finden sich aber zu der zentralen Frage, wie hoch die Leistungen in Zukunft ausfallen sollen keine Aussagen. Das Ministerium warte noch auf Daten des Statistischen Bundesamts.

Die Daten, die zur Ermittlung der gesetzlich vorgesehenen Fortschreibung benötigt werden, liegen nunmehr vor. Damit kann die Fortschreibung der Leistungen berechnet werden. Die Methode der Fortschreibung ist zunächst gesetzlich in § 28a SGB XII festgelegt. Die konkrete Berechnung wird in der Begründung zur Regelbedarfsfortschreibungsverordnung detailliert ausgeführt. Danach ergibt sich die Fortschreibung der Regelbedarfe aus einem Mischindex, der sich zu 70 Prozent aus der Preisentwicklung und zu 30 Prozent aus der Lohnentwicklung zusammensetzt. Nach den Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle ergibt sich danach eine Preisentwicklung von 4,7 Prozent und eine Nettolohnentwicklung von 4,3 Prozent. Mit der genannten Gewichtung ergibt sich daraus eine Anpassung der Regelbedarfe zum 1. Januar 2023 in Höhe von 4,6 Prozent (mehr Details werden weiter unten ausgeführt). Für eine alleinlebende Leistungsberechtigte in der Grundsicherung ergibt sich daraus rechnerisch ein Regelbedarf in Höhe von 470 Euro.

Wie ist eine Anpassung der Regelbedarfe um 4,6 Prozent zu bewerten? Unter anderen Umständen ohne Inflation könnte eine Anpassung um 4,6 Prozent eine relevante Erhöhung sein. Aktuell erleben wir aber eine extrem hohe Inflation. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamts lag die allgemeine Inflationsrate im Juli 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat bei 7,5 Prozent. Und auch die Preisentwicklung bei den regelbedarfsspezifischen Gütern und Diensten liegt im Juli 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat bei 7,1 Prozent. Die Inflation frisst damit die nominelle Erhöhung der Leistungen nicht nur auf, sondern sorgt dafür, dass die Betroffenen sich weniger leisten können als zuvor. Die Grundsicherungsleistungen sind unter dem Strich weniger wert. Einfacher ausgedrückt: sie werden faktisch ärmer.

Im Grundsatz befinden wir uns damit in derselben Situation wie vor einem Jahr. Auch bei der Regelbedarfsanpassung zu 2022 übertraf die Inflation die Anpassung der Regelbedarfe. Im Auftrag des Paritätischen Gesamtverband hat Prof. Anne Lenze diesen Sachverhalt in einem kurzen Gutachten verfassungsrechtlich bewertet und ist zu dem Schluss gekommen, dass der Bundesgesetzgeber eingreifen muss, wenn eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums droht. Diese Situation ist heute wiederum gegeben: das menschenwürdige Existenzminimum wird nicht mehr gesichert, wenn die Preisentwicklung die reale Kraftkraft der Leistungen schmälert.

Bislang ist es offen, ob es tatsächlich zu einer faktischen Leistungskürzung kommt. Verschiedene Vertreter*innen der Ampel-Koalition haben sich öffentlich dafür ausgesprochen, dass die Regelbedarfe stärker erhöht werden sollen. Bundesminister Heil hat gegenüber der Presse 40 bis 50 Euro an Erhöhung genannt. Innerhalb der Regierung scheint es hierzu aber keinen Konsens zu geben. Bundesminister Linder und weitere Vertreter der FDP haben widersprochen und darauf verwiesen, dass der Koalitionsvertrag keine Erhöhung der Regelbedarfe vorsehe. Zudem würde es ja eine reguläre Anpassung an die Inflationsentwicklung geben. Die vorliegende Berechnung macht allerdings deutlich, dass die reguläre Anpassung nicht einmal zu einem Inflationsausgleich führt.

Der Paritätische Gesamtverband wiederholt seine Forderungen. Die Bundesregierung muss schnell und ambitioniert handeln. Dr. Ulrich Schneider kommentiert: „Vor diesem Hintergrund fordert der Paritätische die Erhöhung der Regelsätze um 200 Euro monatlich noch im Herbst dieses Jahres und die zügige, seriöse und zeitgemäße Berechnung auskömmlicher Regelsätze für das Jahr 2023.“

 

Hinweise zur Berechnung

Nach § 28a Abs. 1 SGB XII ergibt sich die Regelbedarfsermittlung in den Jahren zwischen der Neuermittlung der Regelbedarfe als Mischindex aus
a. der Preisentwicklung regelbedarfsrelevanter Güter und Dienstleistungen (zu 70 Prozent) und
b. der Entwicklung der Nettolöhne und –gehälter je beschäftigten AN nach den Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (zu 30 Prozent).
Die Preis- und Nettolohnentwicklung ist jeweils für ein Jahr bis zum 30. Juni des Vorjahres zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Fortschreibung ist die Veränderung gegenüber dem davorliegenden Zwölfmonatszeitraum.

Für die Berechnung der Fortschreibung nach der geltenden Rechtsalge hat sich die Paritätische Forschungsstelle an das methodische Vorgehen gehalten, wie es in der Begründung zur Regelbedarfsfortschreibung 2022 ausgeführt wurde.
 

Preisentwicklung  

Für die Berechnung ist nicht der allgemeine Verbrauchpreisindex relevant, sondern das Statistische Bundesamt ermittelt auf der Grundlage der als regelbedarfsrelevant eingestuften Güter und Dienstleistungen einen spezifischen Preisindex für die Beziehenden von Grundsicherungsleistungen. Steigende Preise für Heizkosten oder etwa die Miete gehen hier beispielsweise nicht ein, weil diese nicht über den Regelbedarf finanziert werden, sondern separat übernommen werden (sofern sie als angemessen anerkannt werden). Die Daten zur Entwicklung der regelbedarfsspezifischen Preisentwicklung werden monatlich vom Statistischen Bundesamt an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemeldet, aber weder vom Statistischen Bundesamt noch vom BMAS veröffentlicht. Erst nach Anfragen aus dem Parlament – insbesondere in Reaktionen auf die Anfragen der Abgeordneten Tatti - sind die entsprechenden Daten öffentlich zugänglich worden und werden dem Ausschuss Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag zugeleitet. In der Tabelle sind die Daten wiedergegeben.
 

 

Tabelle: Entwicklung der regelbedarfsspezifischen Preise

2021

Indexwert

Veränderung zum

Vorjahresmonat in %

Januar

106,53

0,8

Februar

107,01

0,7

März

107,17

0,6

April

107,82

0,4

Mai

108,19

0,6

Juni

108,17

1

Juli

108,21

3,3

August

108,33

3,3

September

108,61

3,5

Oktober

108,86

3,5

November

109,05

3,7

Dezember

109,65

4,6

2022

 

 

Januar

110,69

3,9

Februar

111,39

4,1

März

112,71

5,2

April

114,95

6,6

Mai

116,21

7,4

Juni

115,32

6,6

Juli

115,92

7,1

Quelle: Daten bis Juni 2022: Antwort auf schriftliche Frage der Abg. Tatti, Drucksache 20/2992, S. 58f.
 

Für die Berechnung der regelbedarfsspezifischen Preisentwicklung wird nun der durchschnittliche Indexwert der Monate Juli 2021 bis Juni 2022 (111,165) ins Verhältnis gesetzt zu dem entsprechenden Wert des Vorjahres. Letzterer Wert ergibt sich aus der Begründung der Regelbedarfsfortschreibungsverordnung 2022 (106,23). Dies ergibt rechnerisch einen Anstieg von 4,65 Prozent, der auf die erste Stelle nach dem Komma gerundet wird: 4,7 Prozent.

Lohnentwicklung  

Die zweite Komponente, die in die Fortschreibung eingeht, ist die Lohnentwicklung. Hier gibt es keine Statistik, die zeitnah und ausschließlich niedrige Nettoeinkommen erfasst. Daher orientiert sich die gängige Praxis des Bundesministeriums auf die durchschnittlichen Nettolöhne und –gehälter je beschäftigten Arbeitnehmer nach den Angaben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR).

Diese Daten werden vom Statistischen Bundesamt in der Statistik Inlandsproduktberechnung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Fachserie 18 Reihe 1.2) öffentlich zur Verfügung gestellt. Am 25. August wurde die jüngste Ausgabe mit den Daten bis zum 2. Quartal 2022 auf der Homepage des Statistischen Bundesamts publiziert. Die hier relevanten Informationen finden sich in der Tabelle 1.8 unter der Rubrik Nettolöhne und -gehälter, monatlich je Arbeitnehmer. Wiederum werden hier die Daten des Jahres Juli 2021 bis Juni 2022 ins Verhältnis ersetzt zu den Daten des Vorjahres. Nach unserer Berechnung ergibt sich dabei eine Steigerung in Höhe von 4,34 Prozent, gerundet auf eine Stelle nach dem Komma demnach 4,3 Prozent.

Gesamtergebnis:

Die Fortschreibung der Regelbedarfe ergibt sich dann aus der Gewichtung der beiden Komponenten:
Fortschreibung = (0,7 * 4,7) + (0,3 * 4,3) = 4,58.

Abschließend erfolgt wiederum eine Rundung auf die erste Stelle nach dem Komma: 4,6 Prozent.