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Ulrich Schneider
Ulrich Schneider

Jamaika: Es ist fast niemals alles nur schlecht – Nachruf auf eine nie gewesene Koalition

Fachinfo
Erstellt von Ulrich Schneider

Acht Wochen nach der Bundestagswahl sind die Jamaika-Sondierungen gescheitert – und alle sind erschrocken. Dabei wäre von einer konservativ-ökoliberalen Koalition nicht viel zu erwarten gewesen. Vor allem soziale Themen mussten sich hinten anstellen. Ein Kommentar.

Nun sind alle ganz erschrocken, sogar von Krise ist allenthalben die Rede. Deutschland brauche eine stabile und verlässliche Regierung Aber Hand auf’s Herz! Auch wenn es zu einem konservativ-ökoliberalen Bündnis gekommen wäre: Wer die Sondierer in den letzten Wochen erlebt hat, dem wurde es schon ziemlich schwer gemacht, sich unter Jamaika für die nächsten vier Jahre etwas sonderlich Tragfähiges vorzustellen.

Zu groß waren die offensichtlichen Animositäten, zu schwer wogen die kulturellen und inhaltlichen Differenzen. Inhaltlich stimmte ohnehin wenig optimistisch, was man so hörte aus den Sondierungsgesprächen; zumindest all diejenigen, denen ernsthaft und ehrlich an einer Politik gelegen ist, die in der Lage wäre, Armut zu bekämpfen, Menschen in schwierigen Lebenssituationen soziale Sicherheit und – noch besser – Perspektiven zu geben. Mit anderen Worten: Wer wirklich an einer Politik interessiert ist, die diese auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenhalten könnte, musste mehr als skeptisch sein.

Denn dass diese Gesellschaft auseinanderdriftet, daran dürfte kein Zweifel bestehen, auch wenn interessierte Kreise in ihren Predigten nicht müde werden zu betonen, wie gut es Deutschland doch gehe – gegen alle Fakten und gegen alle Vernunft. Zu groß ist die Zahl der Armen. Zu groß die Zahl derjenigen, die von der Hand in den Mund leben müssen und die sich jetzt schon an ihren fünf Fingern ausrechnen können, dass trotz Arbeit ihre Rente später einmal nicht reichen wir, um vor dem bitteren Gang zum Sozialamt zu bewahren. Zu groß ist die Kluft zwischen Durchschnitt und Reich. Und zu groß ist auch das regionale Wohlstandsgefälle zwischen München und Bremerhaven. Es bräuchte in den nächsten vier Jahren eine Regierung, die genau darin ihre alles überragende Aufgabe sieht: den großen Herausforderungen von der Digitalisierung bis zum Klimaschutz nämlich gerecht zu werden und dabei Deutschland zugleich wieder sozial zusammenzuführen. Bei den Beinahe-Jamaikanern musste man stattdessen den Eindruck gewinnen, als werde das Soziale mehr oder weniger hintangestellt, um zumindest auf den anderen Feldern noch irgendetwas hinzubekommen, was halbwegs trägt und was man den jeweiligen Parteibasen verkaufen kann.

Keine "Knackepunkte" in der Sozialpolitik

Von kaum überbrückbaren Differenzen und „Knackepunkten“, wie es die Kanzlerin nennt, war die Rede: in der Klimapolitik, in der Verkehrspolitik, bei der Zuwanderung und in der Flüchtlingspolitik. Nur in der Sozialpolitik schien es solche kaum überbrückbaren „Knackepunkte“ offenbar nicht zu geben – irgendwie alles nur Streit um Details bei Renten, beim Familienlastenausgleich oder bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Vorsichtshalber blendete man die Armutsentwicklung gleich völlig aus, um nicht das Klima zu verderben. Ein klein bisschen Linderung der Kinderarmut mit Kleinstmaßnahmen war alles, wozu man sich in der Lage sah.

Viel investieren wollte man, da schienen sich die Sondierer einig:  ins Digitale, aber auch in Schulen. Auch Wohnungen wollte man wohl schaffen. Gleichzeitig war von der Abschaffung des Soli die Rede und dass man auf Steuererhöhungen bei Erbschaften und Vermögen doch lieber verzichten wolle. Um die Gespräche nicht gleich am ersten Tag zu beenden und alle Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung fahren zu lassen, hatte die grüne Verhandlungsdelegation Steuererhöhungen für Reiche und Superreiche gar nicht erst angesprochen.

Die vielbemühte Quadratur des Kreises darf man, im Vergleich zu dem, was die Jamaika-Sondierer anboten, daher gern als eher einfache Übung ansehen. Der Gewinner bei diesem Spiel hätte ohnehin festgestanden: der gute alte Finanzierungsvorbehalt, der schon in den vergangenen vier GroKo-Jahren zuverlässig dafür sorgte, dass zwar so einiges angepackt wurde, kaum aber etwas so, dass es nachhaltig hätte soziale Probleme lösen können. Die berühmten Tropfen auf den heißen Stein.

Vier verlorene Jahre

Das Ergebnis der letzten Legislaturperiode: Trotz Mindestlohn, trotz BAföG-Reform, trotz Wohngeldnovelle oder Erhöhung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau waren es armutspolitisch dann doch vier verlorene Jahre, die nur eines ein weiteres Mal unterstrichen: Eine Politik, die den Menschen das Gefühl der sozialen Sicherheit wiedergeben kann, eine wirkungsvolle Wohnungspolitik, eine gute Politik der Alterssicherung, eine Arbeitsmarktpolitik, die alle mitnimmt, und eine Bildungspolitik, die ebenfalls niemanden zurücklässt, sind ohne eine entsprechende Steuerpolitik schlechterdings nicht machbar.

Genau das gleiche Dilemma zeichnete sich bereits für eine mögliche konservativ-ökoliberale Koalition ab, vier weitere armuts- und verteilungspolitisch verlorene Jahre nämlich. Die Frage ist allerdings, ob wir uns die leisten können und wollen. Eher nicht. Vielleicht kann eine Minderheitenregierung, die nach den GroKo-Jahren fast zwangsläufig das Parlament wieder erstarken lassen dürfte und auch die SPD in der Suche nach Mehrheiten wieder ins Boot holt, tatsächlich die bessere Alternative sein.