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Im Hintergrund diverse Zahlen, Fotos und Grafiken, im Vordergrund eine Broschüre mit einem "Virus" auf dem Titelbild und dem Titel: "Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021".

Pressestatement von Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands zum Paritätischen Armutsbericht 2021

Statement von Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, anlässlich der Bundespressekonferenz am 16. Dezember 2021 zur Veröffentlichung des Paritätischen Armutsberichtes 2021.

Der diesjährige Armutsbericht des Paritätischen trägt den Titel „Armut in der Pandemie“. Aus gutem Grund: Mit der aktuellen Auswertung des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes erhalten wir erstmals zuverlässige Armutsquoten für das Pandemiejahr 2020.

Verschiedene Studien – des DIW, der Hans-Böckler-Stiftung oder des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung – beschäftigten sich bereits mit der Frage von Einkommenseinbußen in der Pandemie. Doch erst die vorliegenden Mikrozensus-Daten geben jetzt Hinweise darauf, wie viele Menschen diese Einkommenseinbußen tatsächlich unter die Armutsschwelle drückten.

Der erste wichtige Befund – auch nach vorsichtiger Sichtung der Datenlage: Die Armut in Deutschland erreicht im Pandemiejahr 2020 einen neuen Höchststand. Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020. 16,1 Prozent der Bevölkerung – das entspricht 13,4 Millionen Menschen – müssen danach in diesem Lande zu den Armen gerechnet werden – ein neuer trauriger Rekord.

Der Vergleich der Ergebnisse aus den Erhebungen 2020 und 2019 ist aus methodischen Gründen nur eingeschränkt möglich. Doch fügen sich die aktuellen Daten in das Bild der letzten Jahre: Rückblickend auf 2006 lässt sich ein stetiger Aufwärtstrend ausmachen, der auch 2020 nicht gebrochen zu sein scheint. 2006 lag die Quote noch bei 14,0 Prozent.

Wenngleich die Armutsquote mit 16,1 Prozent einen neuen Höchstwert markiert: Das große Beben in der Armutsstatistik ist trotz Pandemie ausgeblieben. Wir müssen uns vor Augen halten: Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung – rund vier Fünftel – hatte in 2020 ja zum Glück keinerlei corona-bedingte Einkommensverluste: Rentnerinnen und Rentner, Beamte, Angestellte des öffentlichen Dienstes. Andere mögen Einkommensverluste gehabt haben, lebten als Niedrigeinkommensbeziehende aber ohnehin schon unter der Armutsschwelle – auch hier gibt es dann keinen statistischen Effekt.

Eine “nur“ um 0,2 Prozentpunkte höhere Armutsquote als in der Erhebung aus 2019 darf aber vor allem als Hinweis darauf verstanden werden, dass die rasch ergriffenen Unterstützungsmaßnahmen von Bund und Ländern noch höhere Armutswerte durchaus verhindern konnten. Sie sorgten dafür, dass das Ausmaß der Armut nicht proportional zum Wirtschaftseinbruch und dem damit verbundenen Beschäftigungsabbau zunahm.

Insbesondere das Kurzarbeitergeld, aber auch das Arbeitslosengeld I wirkten durchaus als Instrumente der Armutsbekämpfung. Sie verhinderten zwar keine Einkommenseinbußen – so sind sie auch nicht angelegt –, doch bewahrten sie viele Menschen in dieser Krise ganz offensichtlich vor dem Fall in die Einkommensarmut.

Es sind vor allem Erwerbstätige, unter denen die Einkommensverlierer der Coronakrise zu suchen sind, und unter den Erwerbstätigen sind es vor allem die Selbstständigen. Das wussten wir schon aus anderen Untersuchungen. Was wir nun ebenfalls wissen: Dieser Umstand findet auch seinen Niederschlag in den Armutsquoten. Zählte die Mikrozensuserhebung 2019 unter den Erwerbstätigen insgesamt 8 und unter den Selbständigen 9 Prozent Arme, kommt die 2020er Erhebung auf 8,7 Prozent bei den Erwerbstätigen und sogar 13 Prozent bei den Selbständigen.

Was das allgemeine soziodemografische Risikoprofil der Armut anbelangt, so entspricht es im Wesentlichen dem der Vorjahre: Alleinerziehende und kinderreiche Paarhaushalte haben mit 41 und 31 Prozent das höchste Armutsrisiko aller Haushaltstypen. Besonders stark betroffen sind ebenso Erwerbslose (52 Prozent), Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (31 Prozent) oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit (36 Prozent).

Der Ländervergleich zeigt, dass sich der Wohlstandsgraben zwischen Bayern und Baden-Württemberg einerseits und dem Rest der Republik andererseits verfestigt, wenn nicht sogar vertieft hat. Kommen die beiden süddeutschen Länder auf eine gemeinsame Armutsquote von „nur“ 12,2 Prozent – womit sie weit unter dem Bundesdurchschnitt liegen –, weisen die übrigen Bundesländer eine gemeinsame Armutsquote von 17,7 Prozent aus. Der Abstand zwischen Bayern (11,6 Prozent) und dem schlechtplatziertesten Bundesland Bremen (28,4 Prozent) beträgt mittlerweile 16,8 Prozentpunkte. Wenn in einem Bundesland jeder zehnte und in dem anderen mehr als jede*r vierte Einwohner*in zu den Armen gezählt werden muss, hat dies mit gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland nichts mehr zu tun.

Deutschland ist nicht nur sozial, sondern auch regional ein tief gespaltenes Land und die Gräben werden immer tiefer.

Mit außerordentlich hohen Armutsquoten von um die 20 Prozent fallen auch Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt auf.

Die Daten des Mikrozensus können uns Auskunft geben über den Umfang der Armut in Deutschland. Wozu sie nichts sagen, sind die enorme Belastungen und Nöte, denen die Armen mit der Pandemie ausgesetzt wurden. Arme Menschen trugen aufgrund ihrer schlechteren Arbeitsbedingungen, ihrer Angewiesenheit auf öffentliche Verkehrsmittel, ihrer schlechteren und beengteren Wohnverhältnisse und ihrer im Schnitt schlechteren gesundheitlichen Verfassung von Anfang an ein deutlich höheres Risiko, an Corona zu erkranken als wohlhabende Menschen – von Flüchtlingen in Sammelunterkünften oder Obdachlosen in Notunterkünften oder auf der Straße ganz zu schweigen.

Auch die allgemeinen Folgen der Pandemie trafen Arme ungleich härter. Es ist eine Binse, dass sich ein Lockdown mit Kontaktbeschränkungen im Eigenheim mit Garten sehr viel besser überstehen lässt als mit zu vielen Menschen in einer zu kleinen Wohnung. Die Lern- und Lebensbedingungen im Homeschooling waren für viele Kinder aus armen Familien ungleich schwieriger als die ihrer Mitschüler*innen.

Hinzu kam, dass viele Unterstützungsangebote für die Ärmsten erst einmal wegfielen: Sozialkaufhäuser, Tafeln oder das Schulessen. Zugleich sollten die Menschen noch zusätzlich Geld ausgeben für Masken und Desinfektionsmittel, Geld, das sie jedoch nicht hatten, da die bereits unter dem Existenzminimum liegenden Regelsätze bei Hartz IV oder in der Altersgrundsicherung für solche Dinge nichts vorsehen. Die Belastung am untersten Rand dieser Gesellschaft war ungeheuer. Dennoch konnte sich die Bundesregierung während des ganzen Jahres 2020 nicht dazu durchringen, etwas für die Ärmsten zu tun – trotz eines viele Milliarden Euro schweren Konjunkturprogramms. In der zweiten Jahreshälfte wurde ein Kinderbonus von 300 Euro pro Kind ausgezahlt. Dieser wurde zumindest nicht mit Hartz-IV-Leistungen verrechnet, wie es sonst üblich ist. Es dauerte jedoch bis zum Mai 2021, dass endlich alle Beziehenden von Hartz IV und Altersgrundsicherung wenigstens einen einmaligen kleinlichen Betrag von 150 Euro ausgezahlt bekamen. Ebenfalls bis 2021 brauchte es, bevor Grundsicherungsbeziehende einen Anspruch auf einmalig zehn Masken zugesprochen bekamen und bevor das Bundesarbeitsministerium der Arbeitsverwaltung endlich Anweisung gab, bei Kindern in Hartz IV notwendige Ausgaben zur digitalen Teilhabe am Schulunterricht als Bedarf anzuerkennen. Vorausgegangen waren einschlägige Urteile von Sozialgerichten. Für die Ärmsten und ihre besonderen Nöte hatte die große Koalition 2020 im wahrsten Sinne des Wortes einfach nichts und in 2021 bestenfalls den berühmten Tropfen auf den heißen Stein übrig.

Erlauben Sie mir, unter dem speziellen Aspekt der Bekämpfung der Einkommensarmut auch einen Blick auf den aktuellen Koalitionsvertrag zu werfen. Nach unserem Dafürhalten benennt der Vertrag eine Reihe von Vorhaben, die geeignet sind, Einkommensarmut wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro ist dabei ein wichtiger und ganz konkreter Schritt. Auch die Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau kann helfen, den rasanten Anstieg der Altersarmut zu bremsen. Weitere armutspolitisch relevante Vorhaben, die sich ganz direkt auf die Armutsquoten auswirken würden, sind die angekündigten Verbesserungen beim BAFöG, beim Wohngeld oder bei den Erwerbsminderungsrenten. Das Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen, ist besonders zu würdigen: Wohnen ist ein Menschenrecht, das noch viel zu oft uneingelöst bleibt. Diese angekündigten Maßnahmen müssen aber auch konsequent genug umgesetzt werden.

Als ein armutspolitischer Durchbruch kann sicherlich die Festschreibung einer Kindergrundsicherung im Koalitionsvertrag angesehen werden. Die Ampelkoalition hat damit die eigenen Ansprüche an die Bekämpfung der Kinderarmut sehr ambitioniert formuliert. Denn klar ist: Von Kindergrundsicherung kann vor dem Hintergrund der jahrelangen politischen und Fachdiskussion letztlich nur gesprochen werden, wenn sie die Einkommensarmut von Kindern in Deutschland praktisch beendet und wenn sie sicherstellt, dass niemand zum Jobcenter muss, nur weil er oder sie Kinder zu versorgen hat. Es wird also sehr darauf ankommen, wie die ebenfalls angekündigte Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums der Kinder ausfällt, wie es im Koalitionsvertrag heißt.

Das Grundproblem der Sozial- und Armutspolitik der Ampel-Koalition ist, dass mit Ausnahme des Mindestlohnes sämtliche relevanten Vorhaben quasi unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Der Kardinalfehler auch dieser Koalition ist die Tabuisierung jeglicher Steuererhöhungen. Sie wiederholt damit einen groben Fehler, der schon unter der Großen Koalition dazu führte, dass zwar vieles richtig angedacht wurde, dann jedoch zu klein dimensioniert war, um durchschlagende Wirkung zu entfalten – denken wir etwa an sozialen Wohnungsbau, an BAFöG, Wohngeld und anderes. Wir sind nach wie vor der festen Überzeugung: Deutschland braucht die stärkere Heranziehung großer Vermögen und Erbschaften und hoher Einkommen, um den großen finanziellen Herausforderungen gerecht werden zu können, die die notwendige sozialökologische Transformation mit sich bringen wird. Diese Notwenigkeit verschwindet auch nicht einfach dadurch, dass es einem der drei Koalitionspartner nicht ins Parteiprogramm passt. Es dürfte eine eher kurze Zeitspanne sein, bis die Koalition mit dieser Realität konfrontiert wird. Dann heißt es entweder, den Koalitionsvertrag zu schleifen oder aber sich steuerpolitisch doch noch eines Besseren zu besinnen.

Tief enttäuscht sind wir vor allem von der Tatsache, dass die seit Jahren heiß diskutierte Frage des Regelsatzes in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung im Koalitionsvertrag überhaupt keine Rolle mehr spielt. Es ist von einem Bürgergeld die Rede, das Hartz IV ersetzen soll, von Würde und Teilhabe. Aber mit keinem Wort wird das Hauptproblem von Hartz IV erwähnt: Dass nämlich die jetzigen Regelsätze keine Chance bieten, überhaupt halbwegs anständig über den Monat zu kommen, dass eine ausgewogene und gesunde Ernährung genauso wenig möglich ist wie gesellschaftliche Teilhabe auf wenigstens bescheidenstem Niveau. Alle Praktiker*innen sind sich da völlig einig. Mit keinem Wort wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Regelsätze nach Auffassung regierungsunabhängiger Expert*innen seit Jahren trickreich kleinmanipuliert sind und eigentlich über 600 Euro betragen müssten – auch übrigens nach Auffassung der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, die sich aber offenbar nicht gegenüber SPD und FDP durchsetzen konnten. Fest steht jedoch: Solange die Menschen, die Grundsicherung beziehen, in Armut verbleiben, wird auch ein “Bürgergeld“ eine Mogelpackung bleiben. Hartz IV wird erst überwunden sein, wenn die Sanktionen weg sind UND wenn die Regelsätze keine Armutssätze mehr sind. Alles darunter bleibt Hartz IV.

Im Koalitionsvertrag ist in diesem Zusammenhang viel von Bildung und Arbeitsmarkt die Rede, was ja auch nicht verkehrt ist: Die Regierung will den Vermittlungsvorrang in der Grundsicherung abschaffen und Weiterbildung stärker fördern. Doch: Sie darf nicht nur eine Regierung derer sein, die arbeiten können, sondern muss gerade auch die Menschen vertreten, die das nicht oder nur eingeschränkt können. Arbeitsmarktorientierung darf nicht in Arbeitsmarktfetisch umschlagen.

Bei aller Fortschritts-, Aufbruchs- und Aufstiegseuphorie darf nicht übersehen werden, dass wir in Deutschland auch Millionen von Menschen haben, die einfach nur unsere Fürsorge brauchen. Wenn die einzige Verbesserung, die der Koalitionsvertrag beispielsweise für altersarme Rentnerinnen und Rentnern vorsieht die ist, dass ihre Möglichkeiten verbessert werden sollen, neben der Sozialhilfe einer Erwerbsarbeit nachzugehen, so wirkt das bestenfalls wie ein makabrer Scherz. Der Regelsatz ist und bleibt die zentrale Stellgröße im Kampf gegen die Armut und für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft. Wer dies ignoriert, wird keine erfolgreiche Armutspolitik machen können. Wir appellieren dringend an die Bundesregierung, hier nicht weitere vier Jahre tatenlos zu bleiben.