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Alles anders über Nacht: Die Coronakrise in der stationären Kinder- und Jugendhilfe

Wie wirkte sich die Coronakrise bisher auf die stationäre Kinder- und Jugendhilfe aus? Ein Blick in die Praxis im Gespräch mit Ramona Lenz, der Leiterin der Kinder- und Jugendhilfe der Gut Priemern gGmbH in Sachsen-Anhalt.

Zwischen Wiesen und Feldern liegt das alte Rittergut im Altmarkdörfchen Priemern im Landkreis Stendal (Sachsen-Anhalt). Richtig viel Natur und richtig wenig Infrastruktur kennzeichnen die Gegend. Genau das wird als Vorteil für viele Kinder und Jugendliche mit einem so genannten herausfordernden Verhalten gesehen. Aus der ganzen Bundesrepublik werden sie von Jugendämtern im Gut Priemern untergebracht. Meistens dann, wenn alle anderen "Maßnahmen" gescheitert sind.

Ramona Lenz ist Psychologin und leitet den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Insgesamt fünf Wohngruppen mit jeweils fünf bis acht Plätzen für die Kinder und Jugendlichen, die andere überfordern, sind in ihrer Verantwortung. Der Träger gilt im Bundesland – so sagt sie selbst – als die "Kirsche auf der Sahne": Neben wenig Ablenkung, weil so abgelegen, bietet er einen langen Atem in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. Die Wohngruppen können in der Regel die Jugendlichen halten. Nur selten türmt jemand. Ein Team aus 53 Mitarbeiter*innen kümmert sich zusammen mit Praktikant*innen und Freiwilligendienstler*innen im Schichtsystem um die 6- bis 18-jährigen. Die Kinder und Jugendlichen besuchen Kita und Schule. Ein normaler Dienstalltag ist neben der Beziehungs- und pädagogischen Arbeit in der Wohngruppe vor allem durch viele Termine und lange Wege gekennzeichnet: Jugendamtsgespräche, Therapie- und Arzttermine, Einkaufen, Freizeitangebote etc. Hinzukommen Dokumentationstätigkeiten und Schriftverkehr. Da ist die "pädagogische Zeit" eine unter vielen.

So funktionierte bisher auch die Wohngruppe Lückstedt. Eine gemischte Gruppe aus drei Mädchen* und vier Jungen*. Der Jüngste ist sechs Jahre alt, die anderen zwischen 12 und 18 Jahren. 11 Mitarbeiter*innen, sieben davon im Schichtdienst, kümmern sich um die Einzelnen und natürlich die ganze Gruppe sieben Tage die Woche. Es ist ein junges Team. Die meisten sind unter 40 und stehen mit eigenen Kindern und zu versorgenden oder zu pflegenden Angehörigen Mitten im Leben.

Bis zum 13. März 2020 lief das WG-Leben in seinen geordneten und eingespielten Bahnen. Dann änderte sich alles über Nacht: Coronabedingt sofortige Schließung der Schulen und der meisten Kitas. "Das war ein großer Schreck", berichtet Ramona Lenz. "Uns war sofort klar, dass dies eine Betreuung von 24 Stunden an sieben Tagen die Woche bedeutet. Das gab unsere Personalaufteilung gar nicht her. Dienste, Urlaube, die Heimfahrten der Kinder und Jugendlichen über Ostern werden in der Regel lange im Voraus geplant. Innerhalb eines Wochenendes wurde alles auf den Kopf gestellt. Die Basis der Planung war: Alle müssen in die Betreuung und in den Schichtdienst, auch die Leitungen, die Therapeut*innen, alle. Und es hat funktioniert. Die Mitarbeiter*innen selbst haben ihr Privatleben über das Wochenende neu organisiert. Wohin mit den eigenen Kindern? Ist jemand zur Betreuung zu Hause? Müssen Oma und Opa einspringen? Welche anderen Netzwerke konnten genutzt werden?", so die Psychologin. Hilfreich sei dabei gewesen, dass in Sachsen-Anhalt die Mitarbeiter*innen der Kinder- und Jugendhilfe schnell als systemrelevant eingestuft wurden und die Notbetreuungen für die eigenen Kinder zur Verfügung standen.

Die WGs wurden sofort isoliert. Jeder Wohngemeinschaft wurden feste Mitarbeiter*innen zugeteilt, sodass es keinen Kontakt zwischen den Mitarbeiter*innen und den Kindern und Jugendlichen der unterschiedlichen Wohngruppen gab. Das sei ein harter Einschnitt gewesen, berichtet Ramona Lenz. "Die Stimmung unter den Kindern und Jugendlichen war schlecht. Es war ja auch klar: Niemand darf über Ostern nach Hause, keine Freunde durften besucht werden. Die Gruppen waren von Stund an auf sich zurückgeworfen", so Lenz. Und wie haben die Teams das in der Betreuung gelöst? "Durch sehr viel Kreativität", erzählt Ramona Lenz in Anerkennung ihrer Kolleg*innen. Tagsüber wurde auch die WG Lückstedt geteilt. Einige Kinder und Jugendliche gingen an die frische Luft, die anderen blieben in der WG und wurden beschult und umgekehrt. Die Betreuer*innen haben untereinander ausgetüftelt, wer wen und mit was am besten beschulen kann. "Nicht jeder musste Mathematik übernehmen! Das funktioniert bis heute sehr gut", betont die Leitern der Kinder- und Jugendhilfe am Gut Priemern. Die ländliche Lage der Einrichtung war dabei ein großer Vorteil: "Es ist schwer vorstellbar, wie das in Großstädten funktioniert hat, die nicht die Möglichkeit hatten, einfach nach draußen zu gehen. Es war schon so eine Herausforderung, alle bei Laune zu halten", blickt Ramona Lenz zurück.

Auf die Frage, ob die Ausstattung der Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen mit digitalen Endgeräten sinnvoll und hilfreich wäre und die Beschulung erleichtern würde, war die Antwort von Ramona Lenz eindeutig: "Nein! Die meisten Kinder und Jugendlichen verfügen über ein Smartphone. Es ist schon so eine immense pädagogische Aufgabe, den Kindern die analoge Welt und eine vernünftige Sprache und Kommunikation jenseits der Messengerdienste beizubringen. In den Corona-Wochen war das Smartphone natürlich der Zugang zu Freunden und Familie. Für die Beschulung und sonstige Aktivitäten im Internet wäre es jedoch viel sinnvoller, die Wohngruppen und vor allem die Schulen selbst auszustatten und einen pädagogisch vermittelten und begrenzten Umgang mit den Geräten zu ermöglichen."

Neu für die Einrichtung war außerdem die wöchentliche Abfrage des Landkreises zum Bedarf an Ausrüstung zum Infektionsschutz. "Es dauerte bis Pfingsten, bis wir endlich voll ausgestattet waren", berichtet Ramona Lenz nicht ohne ein Lachen. Es wäre zum Glück bisher alles gut gegangen, es gab lediglich einen Verdachtsfall, der nicht bestätigt wurde. Was wäre aber im Falle einer Corona-Infektion gewesen? "Auch in der Frage war für die meisten Mitarbeiter*innen klar: Die Taschen standen gepackt zu Hause. Wäre ein Kind erkrankt, hätten sich die Kolleg*innen mit ihrer WG in Quarantäne begeben. Selbst wenn zu Hause die eigene Familie gewartet hätte", sagt Ramona Lenz.

Und wie ist die Stimmung nach diesen Wochen? Ramona Lenz berichtet, dass die Mitarbeiter*innen sehr stolz darauf sind, was sie bewältigt und wie bereitwillig sich alle engagiert haben. Seit Pfingsten ist auch die Stimmung der Kinder und Jugendlichen besser. Viele konnten nach diesen harten Wochen in der Isolation endlich wieder ihre Familien besuchen.

Offen ist noch, welche Folgen die Krise für die Zukunft des Trägers haben wird. In den vergangenen Wochen hätte man Glück gehabt, so Leiterin des Bereichs der Kinder- und Jugendhilfe auf Gut Priemern, "die Angebote und die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wurde nicht infrage gestellt, die Jugendämter haben zum Teil unaufgefordert die Leistungen ohne weiteres pauschal um zwei Monate verlängert, keine Hilfe wurde abgebrochen. Es gab in den Corona-Wochen sogar zwei Neuaufnahmen." Die Psychologin befürchtet allerdings, dass in den kommenden Monaten die Diskussion zur Vergütung der Angebote und zur Höhe der Fachleistungsstunden Fahrt aufnehmen wird, weil in vielen Kommunen die Kassen leer sind. "Das wird nicht an der Kinder- und Jugendhilfe vorbeigehen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben in dem Bereich schon seit Jahren permanent und in Folge von Corona wird der Bedarf an Betreuung zunehmen", sagt die Lenz und ergänzt: "Zum einen werden es viele Kinder und Jugendliche in den Familien unter diesen Bedingungen noch schwerer haben als bisher schon. Zum anderen werden die Jugendämter, gerade weil unter diesen Bedingungen der Einblick in die familiären Situationen eingeschränkt ist, schneller auf Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung reagieren."

Und was braucht es für die Zukunft in der Kinder- und Jugendhilfe nach diesen Corona-Eindrücken? Auch hier eine schnelle und deutliche Antwort der Psychologin: "Die Kinder brauchen eine starke Lobby und Geld darf keine Rolle spielen. Die Einschnitte und Herausforderungen in den letzten Wochen waren für die Kinder und Jugendlichen riesig. Es darf nun nicht auch noch zu ihren Lasten gespart werden."

Der Beitrag erschien auch in unserem Verbandsmagazin "Der Paritätische", Ausgabe 04/20. Gern weisen wir auf die Online-Leser*innenumfrage zum Magazin hin: Was gefällt Ihnen, was können wir bessern machen? Wir freuen uns über Ihre Teilnahme.

Autorin:
Juliane Meinhold, Referentin für Kinder- und Jugendhilfe beim Paritätischen Gesamtverband

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de