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Das Soziale in der Krise

Die Corona-Krise hat weitreichende gesellschaftliche Folgen, auch für die Sozialsysteme. Aber daraus können wir auch lernen.

Die COVID-19-Pandemie ändert alles. Sie stellt den Sozialstaat in Deutschland vor bisher nicht gekannte und längst noch nicht absehbare Herausforderungen. Die Ärmsten waren auch diesmal diejenigen, die die Krise des Sozialen als erste zu spüren bekamen. Ein großer Teil der Hilfeinfrastruktur für Obdachlose, geflüchtete, gefährdete oder besonders einkommensarme Menschen wird aus privater Initiative, überwiegend von gemeinnützigen Organisationen der Wohlfahrtsverbände, getragen. Allein bei den Tafeln in Deutschland engagieren sich etwa 60.000 Menschen überwiegend ehrenamtlich. Fast zwei Drittel von ihnen sind bereits im Ruhestand und zählen damit zu den Risikogruppen, die durch das Virus besonders gefährdet sind. Allein die Tafeln verteilen unter normalen Umständen in ganz Deutschland in über 2.000 Ausgabestellen 500 kg Lebensmittel, pro Minute. Etwa 1,65 Millionen Nutzer*innen profitieren davon. Etwa die Hälfte der Tafeln ist inzwischen geschlossen, wegen Personalmangel aufgrund des Risikos für besonders gefährdete Engagierte, aus Rücksicht auf nicht zu gewährleistende, verschärfte Hygienebestimmungen oder wegen des Ausbleibens von Warenspenden. Während mehr und mehr Menschen Hilfe und Unterstützung suchen, verringert sich das Angebot an Hilfen dramatisch. Ähnliche Meldungen gibt es aus anderen Initiativen, von Essensausgabestellen, aus Notunterkünften und von Beratungs- und medizinischen Behandlungsstellen, die in der Regel ebenfalls maßgeblich von freiwillig Engagierten betrieben werden. Streetworker berichteten schon früh in der Krise von wachsender Ablehnung von Obdachlosen, etwa durch die Verweigerung ehemals geduldeter Raumnutzungen. Die Bereitschaft zum Kauf von Obdachlosenmagazinen oder zu spenden geht zurück. Mit der Schließung öffentlich zugänglicher Orte, von Bibliotheken über Einkaufszentren und Gemeindehäuser, verlieren obdachlose Menschen zudem Zugang zu frei zugänglichen Sanitäreinrichtungen und zur Wasserversorgung. Spendeneinnahmen gehen zurück und mit den Menschen verschwinden, ganz banal, auch Pfandflaschen aus dem öffentlichen Raum.

Hamstern ist egoistisch

Die Krise betrifft aber nicht nur die genannten Gruppen unmittelbar: Mit den fortdauernden Hamsterkäufen konkurrieren alle einkommensarmen Gruppen plötzlich mit anderen um haltbare Lebensmittel und Güter des täglichen Lebens. Sie sind dabei nicht nur finanziell limitiert, sondern verfügen oft weder über das Geld noch die Möglichkeiten, Vorräte anzulegen, wie es für derartige Krisensituationen erforderlich ist. Sie sind auch nicht in der Lage, nicht erhältliche Waren und Güter durch verfügbare, aber deutlich teurere Produkte zu substituieren. Wer ohne Not Vorräte „hamstert“, handelt deshalb nicht nur egoistisch und rücksichtlos, sondern mischt aktiv am heimlichen Verteilungskampf an den Supermarktregalen mit. Zu den Leidtragenden gehören gerade auch besondere Risikogruppen, zu denen viele ältere Menschen und solche mit chronischen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen zählen. Die Krise führt auch in anderen Hinsichten zu einem wachsenden Bedarf, denn auch das kostenlose Essen in Schulen und Kindertageseinrichtungen entfällt und muss durch zusätzliche Ausgaben kompensiert werden. Die häusliche Ernährung ist zwar formal in den Regelleistungen der Grundsicherung eingepreist, an der sich verschärfenden Mangelsituation ändert das aber nichts. Bedarfe für Prävention oder nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel nehmen zu, das zur Verfügung stehende Einkommen nicht. Gelegenheitsjobs, mit denen viele Menschen in der Grundsicherung zusätzlich Einkommen erarbeiten, entfallen häufig ersatzlos. Mitte 2018 waren in Deutschland über 6,7 Millionen Menschen in Minijobs tätig, für über 3,8 Millionen von ihnen war das die ausschließliche Beschäftigung. Viele dieser Beschäftigungsverhältnisse können in den kommenden Wochen und Monaten wegfallen. Die COVID-19-Pandemie, so steht zu befürchten, wird die soziale Verwundbarkeit breiter Bevölkerungsgruppen deutlich machen, weit über die „üblichen Verdächtigen“ der Armutsdebatte hinaus. Studierende, deren Zusatzbeschäftigungen, etwa in der Gastronomie, entfallen, und Alleinerziehende, die bei geschlossenen Kindertageseinrichtungen und Schulen nicht oder in geringerem Umfang arbeiten können, sind schon bislang häufig von Armut betroffen. Hinzu kommen nun auch zahlreiche Selbstständige. Das BMAS geht davon aus, dass kurzfristig bis zu 700.000 der 1,9 Millionen Solo-Selbständigen und bis zu 300.000 der 1,6 Millionen Selbständigen mit Angestellten auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sein könnten. Bei den Angestellten geht das BMAS von etwa 2,15 Millionen Menschen aus, die 2020 Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen könnten. Das ist eine deutliche Steigerung, verglichen mit den 1,4 Millionen Menschen, die während der Finanzkrise 2009, dem bisherigen Höchststand, Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen mussten. Nicht alle, aber viele von ihnen können dabei in die Situation geraten, aufgrund des sinkenden Einkommens auf ergänzende Grundsicherungsleistungen angewiesen zu sein. Allein für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende schätzt das BMAS, dass etwa 1,2 Millionen Bedarfsgemeinschaften und damit etwa doppelt so viele Menschen zusätzlich grundsicherungsbedürftig werden können.

Mangel und Not zeigt sich während Corona

Je länger die Krise andauern wird, desto schwerwiegender kumulieren die wachsenden Bedarfe und sinkenden Ressourcen zu sozialen Notlagen. Die soziale Not in Krisenzeiten ist dabei eine, die öffentlich kaum sichtbar ist. Die im öffentlichen Raum sichtbare Obdachlosigkeit ist nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs, verglichen mit dem verborgenen Ausmaß an Mangel und Not der Haushalte, die neben dem Geldmangel nun auch die Sorge um Gesundheit in den eigenen vier Wänden hält. Das verweist auch auf eine immaterielle, aber nicht weniger dramatische Seite der Krise: Die neue Verwiesenheit auf den eigenen Haushalt und seine Angehörigen führt jenseits der weitläufigen Altbauwohnungen zu verstärktem Stress, der allzu häufig in häuslicher Gewalt kulminiert, während Frauenhäuser und andere Hilfestrukturen entweder geschlossen oder deutlich schwerer zugänglich sind. Auch das Hilfetelefon ist kaum zu erreichen, wenn man auf engem Raum isoliert ist. Die ungleiche Verteilung von Bildungschance radikalisiert sich angesichts der verschlossenen Infrastruktur von Schulen, Jugendzentren und Bibliotheken.
E-Learning und Unterricht online setzen eine Hardware voraus, die Kindern und Jugendlichen in Armut schlicht nicht zur Verfügung steht. Ein anderes Problem, das sich in der Krise radikalisiert, sind Einsamkeit und soziale Isolation. Gerade ältere und beeinträchtigte Menschen sind häufig noch „offline“ und entbehren deshalb selbst einfacher Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen. Das nachbarschaftliche Engagement vieler Menschen dabei, anderen zu helfen und soziale Isolation zu durchbrechen, ist beeindruckend und nachahmenswert, leider aber ebenfalls sehr ungleich verteilt.

Kurzarbeitergeld bedeutet Einschnitte für Beschäftigte

Friedrich Hölderlin, dessen Geburtstag sich am 20. März 2020 zum 250. Mal jährte, formulierte in seinem Patmos den bekannten Hoffnungsvers: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Wie steht es um die Hilfen in der Krise? Die Regierungen und Parlamente von Bund und Ländern sind sich ihrer Verantwortung in dieser Situation ganz offensichtlich bewusst. Im Ausnahmezustand hat der Souverän entschlossen entschieden: In gerade einmal einer Stunde und 19 Minuten hat etwa der Bundestag am Freitag, dem 13. März 2020, einstimmig Erleichterungen beim Kurzarbeitergeld beschlossen. Wie bisher soll das Kurzarbeitergeld 60, bei Beschäftigten mit Familie 67 Prozent des wegfallenden Nettoeinkommens kompensieren. Neu ist, dass Unternehmen Kurzarbeitergeld beantragen können, wenn mindestens ein Zehntel der Beschäftigen von Arbeitsausfall betroffen sind, nicht, wie bisher, ein Drittel. Kurzarbeitergeld kann zudem künftig auch von Menschen in Zeitarbeit genutzt werden, Sozialversicherungsbeiträge werden durch die Bundesagentur für Arbeit vollständig erstattet. Für die Beschäftigten bedeutet das deutliche Einschnitte, Unternehmen werden gleichzeitig stärker als bisher entlastet. Bislang galt, dass Unternehmen die Sozialversicherungsbeiträge von Kurzarbeitenden vollständig zu tragen hatten. Mit der Neuregelung werden Unternehmen von jeder Beteiligung freigestellt.

Milliardenschweres Maßnahmenpaket

Die Jobcenter vor Ort haben Antragsverfahren, einer Weisung der Bundesagentur vom 16. März 2020 folgend, vereinfacht und entformalisiert. Anträge auf Grundsicherung können nun auch bspw. telefonisch oder per Mail gestellt werden. Meldepflichten wurden aufgehoben; vorübergehend werden keine Sanktionen mehr ausgesprochen. Ebenfalls in Rekordzeit haben Regierung, Bundestag und Bundesrat innerhalb weniger Tage ein bis zu 756 Milliarden Euro umfassendes Maßnahmenpaket beschlossen. 156 Milliarden Euro fließen aus dem Bundeshaushalt, weitere 600 Milliarden Euro sind für Garantien und Beteiligungen eingeplant. Das sind anerkennenswerte und beispiellose Maßnahmen. Dennoch wissen wir noch lange nicht, ob sie ausreichen werden, um soziale und wirtschaftliche Verwerfungen in und aufgrund der Krise zu verhindern. Die beschlossenen Maßnahmen im Sozialbereich dienen insbesondere dazu, den Zugang zu den bereits bestehenden Leistungen zu erleichtern. So umfasst das durch das BMAS konzipierte Sozialschutzpaket, das mit den Maßnahmen beschlossen wurde, den vorerst bis zum 30. Juni 2020 befristeten und per Verordnung bis zum 31. Dezember 2020 verlängerbaren Verzicht auf die Berücksichtigung von Vermögen bei der Prüfung des Grundsicherungsanspruchs. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung werden ebenfalls grundsätzlich anerkannt, die Einkommensprüfung erleichtert. Der Zugang zum Kinderzuschlag, von dem in der Regel Familien mit geringem Erwerbseinkommen profitieren können und der bis zu 185 Euro monatlich betragen kann, wird bis zum 30. September vereinfacht. Diese Regelungen sind uneingeschränkt zu begrüßen, sie machen den Sozialstaat vorübergehend für viele Menschen zugänglicher. Etwa 10 Milliarden Euro Mehrausgaben sind dafür eingeplant. Am Leistungsniveau, dass in der voraussichtlich länger andauernden Ausnahmesituation wenige denn je ausreicht, ändert sich jedoch nichts. Für die schon jetzt Grundsicherungsberechtigten ist das Sozialschutzpaket vor allem ein Verwaltungsvereinfachungsgesetz. Kinderschutzbund und Kinderhilfswerk, Wohlfahrtsverbände wie der Paritätische oder Initiativen wie der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e. V. fordern deshalb zusätzliche Unterstützungsleistungen, insbesondere einen krisenbedingte Mehrbedarfspauschale in Höhe von 100 Euro monatlich und eine Einmalzahlung, etwa 200 Euro, um die drängendsten Bedarfe zu sichern. Unterstützt werden diese Forderungen durch die demokratischen Oppositionsparteien. Auch die FDP-Bundestagsfraktion fordert eine Anhebung der Regelleistungen um 15 Prozent für Alleinstehende und 20 Prozent für Familien. Nichts dergleichen fand Eingang in das Sozialschutzpaket. Verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten wurden indes für Kurzarbeitende und Rentner*innen geschaffen. Einkommen aus Zusatzbeschäftigungen, die Kurzarbeitende annehmen, bleiben anrechnungsfrei. Rentner*innen können 2020 statt bisher 6.300 Euro 44.590 Euro dazuverdienen, ohne Rentenkürzungen befürchten zu müssen. Das schafft Anreize dazu, sich aus Ruhestand oder Kurzarbeit in systemrelevanten Bereichen zu engagieren, immerhin.

Gefeierte Held*innen der CARE-Arbeit

In den vergangenen Tagen erleben wir die Wiederentdeckung sozialer Berufe als systemrelevante Tätigkeiten. Die häufig von schlechter Bezahlung und physisch und psychisch fordernden Arbeitsbedingungen besonders belasteten CARE-Arbeiter*innen werden zusammen mit den Beschäftigten in der medizinischen Versorgung und im Lebensmittelhandel  verdientermaßen als Held*innen der Stunde mit allerhand Geschirrgeklapper von den Balkonen gefeiert. Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten gewesen, dass die Sicherung der medizinischen und sozialen Hilfeinfrastruktur auch politisch Priorität gehabt hätte. Das hatte sie jedoch nicht. Die Krankenhäuer etwa waren durch den Bundesgesundheitsminister frühzeitig aufgefordert worden, geplante Operationen zu verschieben, bestehende Kapazitäten freizumachen und zusätzliche Kapazitäten, gerade in der Intensivpflege und bei den Beatmungsmöglichkeiten, zu schaffen. Dafür war ein entsprechender Ausgleich in Aussicht gestellt worden. Der am 21. März 2020 dazu bekannt gewordenen Gesetzentwurf sah dabei tatsächlich Finanzhilfen vor. 4,5 Milliarden Euro zur Finanzierung der Pflege sollten jedoch auch in der Krise detailliert dokumentiert und ggf. zurückgezahlt werden. Mehrkosten für Schutzmaßnahmen zugunsten der Beschäftigten waren nicht enthalten, eine Entschädigung für das Freihalten von Betten war nur unzureichend berücksichtigt: Neu geschaffene Intensivpflegeplätze sollten mit 30.000  Euro honoriert werden, während die Krankenhäuser Kosten von 85.000 Euro geltend machten. Erst nach scharfen Protesten erfolgten kurzfristig deutliche Nachbesserungen. Insgesamt sollen 7,8 Milliarden Euro in diese Bereiche fließen, davon 3,3 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt.

Sicherungsnetz vor erheblichen Herausforderungen

Ähnlich erging es den sozialen Dienstleistern, gerade im gemeinnützigen Bereich. Auch bei ihnen war noch am Wochenende des 21. und 22. März ungewiss, ob und inwieweit sie unter den versprochenen Schutzschirm fallen würden. Für die häufig gemeinnützigen Träger war dies überlebenswichtig, denn anders als gewerbliche Einrichtungen ist ihre Arbeit weder an Renditezielen ausgerichtet, dazu dürfen sie nur in sehr begrenztem Rahmen Rücklagen bilden. Das BMAS hat in dieser Situation mit großem Engagement entscheidend dazu beigetragen, dass mit den Rettungsmaßnahmen auch ein Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) beschlossen wurde. Es richtet sich an alle sozialen Leistungsträger mit Ausnahme der an anderer Stelle adressierten Kranken- und Pflegedienste und spricht einen Sicherstellungsauftrag aus. Als Ausgleich für das Zurverfügungstellen freier Kapazitäten sollen die Leistungsträger, die diese Dienste bisher finanziert haben, künftig mindestens 75 Prozent der bisherigen Finanzierung gewährleisten, wobei ohnehin weiter fließende Einnahmen allerdings berücksichtigt werden. Das dadurch geschaffene Sicherstellungsnetz stellt die Einrichtungen und Dienste immer noch vor erhebliche Herausforderungen, viele werden den Betrieb wegen und in der Krise einstellen müssen. Dennoch wurde damit nach langer Ungewissheit ein entscheidender Beitrag geleistet, um die soziale Infrastruktur in der Fläche aufrechthalten zu können. Als ungemein hilfreich erweisen sich dabei Unterstützungsprogramme wie das 20 Millionen Euro umfassende Sofortprogramm der Aktion Mensch, das gemeinnützigen Organisationen, die in den Bereichen der Persönlichen Assistenz oder der Lebensmittelversorgung für sozial und wirtschaftlich Benachteiligte tätig sind, kurzfristig notwendige Hilfen für die Helfer bietet.

Gefährdete besonders schützen

Für viele Dienste und Einrichtungen in der Wohlfahrtspflege fehlt es jedoch weiterhin an Lösungen und konkreten Hilfen zum Überleben, im doppelten Sinne. Zum einen macht sich der bestehende Mangel an Schutzkleidung, an Atemmasken und Hygieneausrüstung längst bemerkbar und bringt neben Krankenhäusern und Arztpraxen gerade stationäre Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe, Obdachlosenunterkünfte und Einrichtungen für Geflüchtete in eine ausgesprochen schwierige Situation. Hier ist dringend öffentliche Unterstützung erforderlich, denn viele Bewohner*innen zählen zu den besonders gefährdeten Personengruppen. Aus Erfahrungen in anderen Ländern, aber aus Erfahrungen aus Würzburg, wo das Virus allein in einem einzigen Pflegeheim zwölf Todesopfer forderte. Wirtschaftliche Überlebenshilfen werden darüber hinaus für Bereiche benötigt, die bisher im toten Winkel der Rettungsschirme standen. Das betrifft etwa die Jugendherbergen, die ein wichtiger Akteur der Kinder-und Jugendhilfe sind, ohne als solcher eine Finanzierung zu erhalten. Ihnen brechen in der Krise Einnahmen weg, voraussichtlich viel länger als nur für einige Wochen. Die Finanzierung von Beschäftigungsträgern beruht in der Regel auf einer sehr knappen Mischkalkulation bei nur geringen Rücklagen, viele Träger sind deshalb trotz der getroffenen Regelungen in existenzieller Not. Nicht zuletzt steht der gesamte Weiterbildungsbereich vor dem Problem, bisher unter keinem der Schutzschirme Raum gefunden zu haben, obwohl die Einnahmen aus Fortbildungen kurzfristig nahezu vollständig weggebrochen sind, während Storno- und Personalkosten auch weiterhin in erheblichem Maße zu Buche schlagen. Auch hier sind viele Träger in ihrer Existenz gefährdet.

Soziale Verteilungskämpfe verschwinden nicht

Deutlich wird, dass die berechtigten und fortlaufenden Feierstunden zugunsten der Menschen, die die klassische Daseinsvorsorge, die Gesundheitsfürsorge, Sorge- und Versorgungsaufgaben aufrechterhalten, keinerlei Gewähr dafür bieten, dass diese Tätigkeiten und Hilfestrukturen – die Bedarfswirtschaft in der Ökonomie des Alltags - nach überstandener Krise wieder auf ihre angestammten Plätze verwiesen werden. Soziale Verteilungskämpfe treten in der Krise in den Hintergrund, aber sie verschwinden nicht. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen und gewachsener Staatsverschuldung werden sie schon bald unter dem Ruf nach mehr Effizienz und Einsparungen erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Auch die besonders unterstützungsbedürftigen Gruppen haben noch keinerlei Anlass, angesichts der bestehenden Mangellagen auf stärkere Unterstützung zu hoffen. In und nach der Krise werden neue Verteilungskämpfe virulent werden, in denen die Leistungs- und Gewährleistungsverantwortung des Staates neu verhandelt werden wird. Ob der Sozialstaat der Zukunft soziale Verwundbarkeit dauerhaft reduzieren oder institutionalisieren wird, ist noch lange nicht ausgemacht.

Autor:
Dr. Joachim Rock ist Abteilungsleiter für Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de