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"Ein Herz mit mehreren Kammern"

"Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit Menschen umgeht, die Unterstützung brauchen", sagt Lisa Schmidt im Interview. Sie fordert eine Systemumstellung der Pflegeversicherung und konkrete Maßnahmen, Pflegeberufe attraktiver zu machen.

Frau Schmidt, bei Pflege denken alle nur an Pflegeheime. Aber viele Menschen, die Pflege brauchen, leben doch zu Hause. Die wichtigsten Pfleger sind die Angehörigen. Ist das fair so?

Stimmt: Die Mehrzahl der Menschen wird zu Hause gepflegt. Die Zahl der pflegenden Angehörigen ist zuletzt sogar gestiegen. Etwa die Hälfte der Pflegebedürftigen wird von Angehörigen gepflegt, das sind gut 1,7 Millionen von den 3,4 Millionen Pflegbedürftigen insgesamt. Angehörige übernehmen eine große pflegerische Leistung. Das ist oft eine erhebliche Belastung: Sie müssen ihren Beruf unterbrechen, müssen auf Einkommen verzichten …

Gibt es dafür ausreichende gesetzliche Regelungen?

Angehörige können ihre Arbeitszeit reduzieren, wenn in der Familie Pflegebedürftigkeit eintritt. Aber es gibt keinen Rechtsanspruch auf eine ausreichende Pflegezeit, so wie es die Elternzeit für Väter und Mütter gibt. Unsere Forderung lautet deswegen: Es sollte einen Rechtsanspruch auf eine befristete Familienpflegezeit mit einer Art Familienpflegegeld geben. Sie sollte bis zu drei Jahren betragen.

Wobei die Frage ist, ob die drei Jahre ausreichen …

Zumindest sollte es eine solche Möglichkeit mit finanzieller Absicherung für die erste Zeit geben: Das ist die intensivste Zeit, in der alles koordiniert werden muss. Der größte Bedarf besteht, bis dann die professionelle Pflege ins Laufen kommt. Und bis das Vertrauen in diese professionelle Pflege da ist, sich die Situation stabilisiert, müssen Angehörige oft eine Art Vermittlungstätigkeit übernehmen. Das ist sehr wichtig und sollte unterstützt werden.

Sind eigentlich die Informationen darüber, was Pflegebedürftigen zusteht, ausreichend?

Es gibt einen gesetzlichen Anspruch auf Pflegeberatung, diese kann bei Pflegekassen, zu Hause oder anderen Beratungsstellen wie Pflegestützpunkten stattfinden. Auch die Wohlfahrtsverbände informieren zum Thema Pflege. Dennoch, Sie haben Recht: Es reicht nicht aus. Die Gesellschaft wird älter, es gibt immer mehr Menschen, die auf Pflege angewiesen sind. Wir müssen allgemein schauen, dass Themen wie Alter und Pflegebedürftigkeit mehr in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Jeder sollte die Chance haben, sich bei unabhängigen Beratungsstellen schon vor dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit zu informieren.

Die Mehrzahl der Pflegebedürftigen wird zu Hause versorgt, andere in Pflegeheimen. Ambulant wie stationär, heißt es immer, fehlen viele Pflegekräfte – aber die Zahlen dazu sind sehr unterschiedlich. Wie hoch ist denn nun der Bedarf an Pflegekräften?

Der Fachkräftemangel zeigt sich in allen Bundesländern, Stellenangebote für Altenpflegerinnen und Altenpfleger sind im Durchschnitt 171 Tage unbesetzt.

Das bedeutet natürlich entsprechend Mehrarbeit für die Beschäftigten. Mittelfristig sind für gute Pflege über 100.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig, das ist jetzt schon absehbar. Schon jetzt gibt es Wartelisten für Heimplätze und bei ambulanten Pflegediensten.

100.000, das ist eine ganze Stadt – ist es realistisch, all diese Stellen zu besetzen?

Die große Aufgabe ist, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Ich finde, dieser Beruf ist ohnehin sehr attraktiv: Es ist ein wichtiger, fachlich anspruchsvoller Beruf, in dem soziale Beziehungen sehr groß geschrieben werden. Man begleitet Menschen, die in einem sehr wichtigen Lebensabschnitt stehen. Und es geht um Fähigkeiten, die auch in Zukunft nicht von einem Computer oder Roboter ersetzt werden können – Zuwendung, Zwischenmenschlichkeit, sinnstiftende Gespräche führen, Empathie – das macht diesen Beruf zu einem besonderen.

Woran es hapert, ist eher das Image: Das kann doch jeder, auch ohne Ausbildung – das ist die eine schlechte Meinung. Die andere ist: Da werden Mitarbeiter verheizt. So stimmt das an vielen Orten gar nicht. Und trotzdem müssen die Rahmenbedingungen weiter verbessert werden, damit der Beruf endlich wieder das Image bekommt, das er verdient.

Wie denn?

Denken Sie an die Maßnahmen der „Konzertierten Aktion Pflege". Die Ausbildung attraktiver zu gestalten, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, flexiblere Arbeitszeiten zu ermöglichen oder ausländischen Fachkräften zu ermöglichen, einfacher hier arbeiten zu können.

Die Anerkennung der ausländischen Fachkräfte – wie macht man die einfacher?

Man muss die bürokratischen Hürden bei der Anerkennung des ausländischen Berufsabschlusses abbauen und die Wege müssen auch vereinheitlicht werden, damit nicht je nach Bundesland andere Schwierigkeiten auftauchen. Dies ist auch Bestandteil der „Konzertierten Aktion Pflege".

Und wie steht es mit der Bezahlung?

Wir setzen uns für eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte ein. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil möchte die Bezahlung über flächendeckende Tarifverträge verbessern, die von allen eingehalten werden sollen. Der Weg dahin ist nicht einfach, aber wir unterstützen ihn.

Stichwort bessere Ausbildung: Die ist nun eben reformiert worden …

Ja, ab 2020 gibt es die gemeinsame dreijährige Ausbildung zum Pflegefachmann und zur Pflegefachfrau. Mit dieser Ausbildung können Sie dann in allen drei Bereichen – Altenpflege, Krankenpflege, Kinderkrankenpflege arbeiten. Die Spezialisierung Altenpflege und Kinderkrankenpflege kann jedoch auch weiterhin nach zwei Jahren gewählt werden.

Das Besondere an der Altenpflege ist, dass dort viel mehr sozialpflegerische Tätigkeiten und andere Aspekte mit hineinspielen als bei der medizinischer ausgerichteten Pflege im Krankenhaus – ich glaube, dass sich deswegen auch viele ganz bewusst für die Arbeit in Pflegeeinrichtungen entscheiden. Im Mittelpunkt der pflegerischen Arbeit steht, so lange wie möglich die Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Person zu erhalten. Zu den ausschließlich ausgebildeten Pflegern vorbehaltenen Tätigkeiten gehören auch die Planung der individuellen Pflege und die Steuerung des Pflegeprozesses.

Nun gibt es auch neue Modelle wie zum Beispiel Demenz-WGs – sind das gute Zwischenstufen zwischen alleine leben und Heim?

Prinzipiell geht es um Selbstbestimmung bei solchen Modellen. Wohngemeinschaften oder ähnliche Dinge müssen aber lange vorher angebahnt werden, das ist eine langfristige Entscheidung. Natürlich gibt es das Bedürfnis, nicht ins klassische Pflegeheim zu gehen – die Welt ist bunt, so etwas soll selbstverständlich auch möglich sein. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf welche Art auch immer, ist einfach wichtig. Solche Formen sollten unterstützt werden.

Eine ganz andere Forderung, die derzeit in Sachen Pflegeheime immer wieder auftaucht, ist die Forderung nach Gewinndeckelung, wenn externe Fonds oder Anleger in private Heime investieren. Auf der anderen Seite dient Gewinn aber auch dazu, dringend benötigte neue Heime aufzubauen – eine schwierige Balance?

Wir als Paritätischer Wohlfahrtsverband vertreten die Auffassung, Pflege darf kein Markt sein für Spekulation und Gewinnwirtschaft. Finanzielle Mittel, die für die Versorgung von Pflegebedürftigen aufgebracht werden, sollen dort landen, wo sie benötigt werden, beim Pflegebedürftigen.

Sie gehören zur Wohlfahrt, sind also nicht gewinnorientiert – aber das funktioniert auch?

Natürlich muss auch investiert werden, wir brauchen ebenso Rücklagen. Das Prinzip der Gemeinnützigkeit bedeutet ja, dass nicht gewinnorientiert gearbeitet wird – Überschüsse, sofern sie entstehen, werden dem sozialen Bereich nicht entzogen. Das heißt, es gibt keine Investoren, die von uns Rendite erwarten. Aber auch wir gründen, investieren, vergrößern uns – Gemeinnützigkeit funktioniert.

Dennoch wird Pflege älterer Menschen immer teurer. Irgendwann stellt sich die Frage: Wie lange können wir uns Pflege noch leisten?

Die steigenden Kosten – und sie werden wohl weiter steigen – bleiben derzeit vor allem an den Pflegebedürftigen hängen. Das heutige System der Pflegeversicherung läuft so, dass die Leistungen der Pflegeversicherung auf einen fixen Betrag gedeckelt sind, je nach dem Pflegegrad. Die Pflegeversicherung deckt also nicht alle Kosten ab, sondern nur einen Teil. Alle weiteren Kosten, die für die Pflege, die Unterkunft, Verpflegung und Investitionen bei einem stationären Aufenthalt anfallen, zahlt der Pflegebedürftige selbst.

Wodurch steigen denn die Kosten?

Ein Kostenfaktor sind die Reformen der letzten Jahre: Zu ihnen zählen etwa die Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes und der Pflegegrade. Mehr Menschen haben nun ein Anrecht auf Leistungen, insbesondere auch Menschen mit Demenz. Diese Umstellung war auch dringend nötig, das sind gute und wichtige Reformen. Dennoch schlagen nach heutigem System Verbesserungen auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch, während die Versicherung weiter ihren fixen Teil trägt.

Wenn man Leistungen ausweitet, muss man sehen: Wo kommt das Geld her? Sollen alle es zahlen? Der Beitragssatz wurde behelfsweise zuletzt auf 3,05 Prozent erhöht.

Dennoch besteht weiterhin das Dilemma: Die Last ruht derzeit allein auf den Schultern der Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, das kann nicht so weiter gehen. Es ist ein Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung.

Welche Reformen würden Sie fordern?

Das Teilleistungssystem ist an seine Grenzen gestoßen. Wir schlagen deshalb eine Umstellung vor. Vor allem müssen die Eigenanteile schnell und spürbar gesenkt werden. Die Pflegeversicherung sollte daher als ersten Schritt 85 Prozent der Kosten übernehmen, der Pflegebedürftige trägt dann lediglich 15 Prozent der Kosten. Dies wäre schnell eine deutliche Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.

Wo soll das Geld für diese Reform denn herkommen?

Wir fordern eine Solidarische Bürgerversicherung, in die alle, Beamte, Selbstständige und Angestellte, einzahlen. Die Einnahmebasis würde so erweitert, die private und gesetzliche Versicherung würde vereinigt werden. So können die Kosten gerecht auf mehrere Schultern verteilt werden. Einige Studien zeigen: Wenn alle einzahlen, könnte der Beitragssatz sogar sinken. Oder es gäbe einen Spielraum für eine Erweiterung der Leistungen.

Aber die beste finanzielle Ausstattung hilft nichts, wenn zu wenige Menschen den Pflegeberuf er­greifen – werden wir immer unsolidarischer, dass sich so wenige, zu wenige dafür entscheiden?

Man könnte sagen, Pflege funktioniert wie ein Herz mit mehreren Kammern, es gibt verschiedene Aspekte, die ineinandergreifen und funktionieren müssen. Und es ist nicht nur die Wertschätzung der Älteren durch die Gesellschaft ausschlaggebend, ob man diesen Beruf ergreift, sondern wir müssen eben auch an den Rahmenbedingungen und am Image arbeiten. Da sind also mehrere Faktoren verantwortlich.

Aber natürlich ist richtig: Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit Menschen umgeht, die Unterstützung brauchen – dazu gehören auch ältere Menschen.

Dieses Interview erschien zuerst am 27. September 2019 im Forum Magazin.

Autor*innen:

Hubert Beyerle und Susanne Wolkenhauer

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de