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Eine verpasste Chance: Soziale Innovationen im Bundestag

"Soziale Innovationen haben es in den Bundestag geschafft", so feierte das Enorm-Magazin Ende Mai diesen Jahres. Anlass der Freude war, dass im Plenum des Bundestages am 29. Mai 2020 fünf Anträge unterschiedlicher Fraktionen diskutiert wurden, die sich mit sozialen Innovationen befassen. Wer allerdings annimmt, dass das eine Bundestagspremiere war, der unterschätzt das Parlament, denn die Debatte um soziale Innovationen hat im Parlament, wie in der Wohlfahrtsarbeit, eine sehr viel längere Geschichte. 1998 beispielsweise hat sich eine Bundestags-Enquete-Kommission in ihrem Abschlussbericht ausdrücklich mit der Bedeutung sozialer Innovationen beschäftigt. In der Wohlfahrtspflege hat das Thema eine noch weitaus längere Tradition. Die Beiträge eines 1987 erschienenen Sammelbandes "Soziale Arbeit als soziale Innovation" geben davon beredt Zeugnis. Das soll der Freude aber keinen Abbruch tun, im Gegenteil lädt es zum genaueren Hinschauen ein: Was ist neu im neuen Innovationsdiskurs?

Auf den ersten Blick: Wenig. Die Beschreibung und Abgrenzung sozialer Innovationen bleibt abstrakt und ist vollständig austauschbar mit den Beschreibungen, die bereits die Bundestags-Enquete-Kommission von 1998 getroffen hat. Dass hier kein Neuland beschritten wird, sondern sich die Phantasie in einem "höher, schneller, weiter" erschöpft, macht schon der Komparativ im gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU, CSU und SPD deutlich: "Soziale Innovationen stärker fördern und Potenziale effizienter nutzen". Der erst wenige Tage vorher fertiggestellte Antrag enthält ein Potpourri von mehr schlecht als recht verbundenen Einzelmaßnahmen, wahlweise solchen aus der Vergangenheit, die als Leistungsnachweis dokumentiert werden, und Forderungen für die Zukunft, verkleidet in der Regel als Prüfaufträge. Auf der Habenseite verbuchen die Regierungsfraktionen dabei, dass "im Haushalt des BMBF in Titel 3003 / 541 01 'Wissenschaftskommunikation, Partizipation, Soziale Innovationen' gut 6 Millionen Euro (2020-2023) zur Förderung sozialer Innovationen sowie im Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für die 'Nichttechnische und soziale Innovationsförderung' 7,5 Millionen Euro für das Jahr 2020 bereitgestellt" worden seien. Soziale Innovationen, so lernt man, werden als Thema von Wirtschaft und Wissenschaft verhandelt, aber gerade nicht als Innovationen im Sozialen. Mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesministerium für Umwelt, dem Bundesministerium für Inneres und Heimat sind vier auf dem Feld des Sozialen und der Umwelt tätige Ressorts unerwähnt. Das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend, das unter den Ministerien noch auf die längste Tradition im Innovationsdiskurs verweisen kann, wird nur am Rande erwähnt.

So kommt es, dass selbst die Regierungsfraktionen Räder neu erfinden wollen, für die es schon lange erfolgreiche, aber trotzdem nicht fortgeführte Ansätze gab. CDU/CSU und SPD schlagen etwa Austauschformate zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Form von "Sozialen Innovationsforen" vor. Das Bundesministerium für Familie, Senioren und Jugend hatte bereits am 25. Oktober 2011 und am 27. Februar 2013 große Multistakeholder-Konferenzen zur Förderung von sozialen Innovationen durchgeführt und die Einführung eines Sachverständigenrates für soziale Innovationen angeregt. Die Erfahrungen daraus gehen verloren, wenn man die Debatte – wie hier – vornehmlich unter Wirtschaftspolitikerinnen und Wirtschaftspolitikern führt.

Es fügt sich deshalb leider ins Bild und bleibt dabei dennoch auffällig, dass keiner der Anträge einen Begriff von sozialer Innovation zugrunde liegt, der über Gemeinplätze hinausgeht. Soziale Innovationen werden, etwa im Antrag von CDU/CSU und SPD, beschrieben als "neue soziale Praktiken und Organisationsmodelle, die darauf abzielen, für die Herausforderungen der Gesellschaft tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden". Dass die soziale Innovationspolitik noch auf der Suche nach ihrem Gegenstand ist, zeigt sich auch den Forderungen, überhaupt erstmal "eine Definition für Sozialunternehmen zu erarbeiten sowie ein ressortübergreifendes Konzept für die Förderung von sozialen Innovationen und Sozialunternehmen zu entwickeln" (CDU/CSU, SPD) bzw. "eine soziale und gesellschaftliche Innovationsstrategie" zu entwickeln.

Irritierend ist, dass die Parteien übergreifend nicht die soziale Praxis als den Ort ansehen, an dem soziale Innovationen entstehen, sondern immer wieder "soziale Innovationszentren" fordern, die der "Ideenfindung" dienen sollen. Man kennt dieses Bild aus zahlreichen betriebswirtschaftlichen Diskussionen, in denen Innovationen von Stabsstellen produziert oder ihre Herstellung gleich ganz in "Labs" und "Hubs" ausgelagert werden, wo sie mittels "Design Thinking" konstruiert werden. Ein derart technisches Innovationsverständnis ist der Freien Wohlfahrtspflege, gerade dem Paritätischen, fremd. Schon Max Weber betonte vor über einhundert Jahren, dass der innovative Gedanke kommt, "wenn es ihm, nicht, wenn es uns beliebt". Die übergroße Mehrheit sozialer Innovationen entsteht in der sozialen Praxis, im Austausch zwischen engagierten Menschen, insbesondere durch und mit dem Expertenwissen von Betroffenen, gerade in der Selbsthilfe. Eine Kollegin aus einer Paritätischen Kindertagesstätte formulierte einst treffend: Sie können noch so häufig erklären, wie Laufen funktioniert, sie können aus Büchern vorlesen und noch soviel Wissen dazu sammeln. Laufen lernt man trotzdem nur, indem man es probiert, hinfällt, aufsteht, es wieder probiert. So läuft das mit dem Laufen, so läuft das mit den sozialen Innovationen. Sie entstehen selten im Labor, und das zeigen auch die Beispiele von sozialen Innovationen, die in der Bundestagsdebatte formuliert wurden.

In der Plenardebatte wurden konkretere Beispiele für soziale Innovationen genannt, die – so der Antrag der Regierungsfraktionen – eine Tradition "bis ins Mittelalter" haben. Die Abgeordneten Mark Hauptmann und Markus Paschke etwa nannten als Beispiele die Gesetzliche Krankenversicherung, dazu die Rentenversicherung und das Prinzip des Genossenschaftswesens. Bemerkenswert: Ein guter Teil der in der Debatte genannten sozialen Innovationen sind Institutionen, deren Einführung annähernd eineinhalb Jahrhunderte oder länger zurückliegen. Weitere genannte Beispiele waren u. a. das Crowdfunding, der verpackungslose Supermarkt und eine Ersthilfe-App. Als Produzenten von sozialen Innovationen wurden auch Organisationen hervorgehoben. Der Abgeordnete Thomas Sattelberger etwa nannte beispielhaft die AfB gGmbH aus Düren und die gemeinnützige Lernplattform Serlo, während der Abgeordnete Markus Paschke (SPD) auf den Bundesverband der Tafeln hinwies. Alle drei Organisationen sind gemeinnützige Organisationen und jeweils Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Soziale Innovationen und Sozialunternehmen stehen nicht neben oder gar gegen Wohlfahrtspflege, sie kommen aus der Wohlfahrtspflege und werden aus ihr heraus initiiert, gefördert und verbreitet. Viele weitere Angebote mit sozial-innovativem Anspruch wurden in der Debatte ebenfalls erwähnt, etwa das soziale Start-Up "Kuchentratsch". Dessen Idee beschrieb der Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek, dass ältere Menschen dort "Kuchen backen und unter die Leute bringen und so auch unter Leute kommen". Als gewerbliche GmbH mit sozialem Anspruch ist "Kuchentratsch" tatsächlich ein gutes Beispiel für Social Entrepreneurship. Freie Wohlfahrtspflege unterscheidet sich von solchen Beispielen in mehrfacher Hinsicht, in dem sie nicht nur manchmal, sondern stets gemeinnützig arbeitet und nicht nur ergänzende Angebote erbringt, sondern zentrale Versorgungsaufgaben für die gesamte Bevölkerung zuverlässig in der gesamten Republik erbringt, auch in den kleinsten und entlegensten Gemeinden des Landes.

Umso erstaunlicher ist, dass die Freie Wohlfahrtspflege in ihrer Funktion als größter Produzent von sozialen Innovationen und als größter Förderer der Verbreitung von sozialen Innovationen nahezu außer Betracht blieb. In der Freien Wohlfahrtspflege sind über 1,9 Millionen Menschen hauptamtlich und darüber hinaus weitere 3 Millionen Menschen ehrenamtlich engagiert. Sie machen nichts anderes, als tagtäglich soziale Hilfen zu leisten, soziale Probleme überwinden zu helfen und soziale Innovationen zu schaffen – und das nicht nur im hippen "Spaces" im urbanen Raum, sondern überall im Land. Ein solches Innovationsverständnis bleibt eindimensional. Wer wirklich Innovation fördern will, der soll auch von der Ausnahme reden, aber von der Regel nicht schweigen. Die doppelte Ignoranz im laufenden Innovationsprozess, sowohl gegenüber den Engagierten in der Sozialen Arbeit als auch gegenüber dem Sozialen als dem Ort, an dem soziale Innovationen entstehen, muss überwunden werden. Wenn CDU/CSU und SPD in ihrem Antrag fordern, ein "ressortübergreifendes Konzept für die Förderung von Sozialen Innovationen" vorzulegen, dann wäre das vor allem dann glaubwürdig gewesen, wenn man selbst die bestehenden Erfahrungen der für Soziales und Umwelt maßgeblichen Ressorts einbezogen hätte.

Soziale Innovationen durch Stärkung gemeinnütziger Sozialer Arbeit stärken

Innovativ im parlamentarischen Raum wäre, wenn sich die demokratischen Fraktionen nun daran setzten, über die jeweiligen Tellerränder zu blicken und gemeinsam daran mitzuwirken, die gemeinnützigen Organisationen stärker zu fördern und zu entwickeln, die tagtäglich die Sorge für Menschen tragen und Wertvolles leisten, die dadurch sozialen Zusammenhalt herstellen und dabei soziale Innovationen bewirken. Das sollte allen demokratischen Fraktionen leicht fallen, denn die Arbeit der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege ist in vielerlei Weise eng mit politischen Traditionen der einzelnen Parteien verbunden. Die Rahmenbedingungen für die Wohlfahrtspflege sind maßgeblich durch das Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre geprägt worden. Dieses Erbe nicht nur zu verwalten, sondern zu fördern und entwickeln zu helfen, müsste CDU und CSU eine geradezu "heilige" Verpflichtung sein. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hat das Genossenschaftswesen wesentlich befördert und Wohlfahrtspflege als Instrument zur Verwirklichung der "Arbeiterwohlfahrt" verstanden. Große Organisationen, wie der Arbeiter-Samariter-Bund als einer der großen überregionalen Mitglieder des Paritätischen, sind Ausdruck dieser Tradition, der sich die SPD eigentlich gerade heute deutlich stärker verbunden fühlen müsste. Ähnliches gilt für die LINKE, denn welche Organisationsform außer der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege gibt es noch, die in Abgrenzung zum verbreiteten Profitstreben daran arbeitet, Gleichheit – mit einem anderen Wort: Parität – herzustellen und dabei die Ursachen von Ungleichheit radikal, an die Wurzeln gehend, zu beseitigen? Bündnis90/Die Grünen haben ihren Ursprung in der Zivilgesellschaft und Alternativbewegung, die auch den Paritätischen maßgeblich geprägt hat und in der es um die Förderung von sozialer Teilhabe durch Selbsthilfe und politische Partizipation ging. Warum wird das nicht stärker gepflegt? Da Freie Wohlfahrtspflege immer darauf gerichtet war, durch privates Engagement staatliches Eingreifen überflüssig zu machen und Subsidiarität verwirklichen zu helfen, müsste die Förderung Freier Wohlfahrt ein Herzensanliegen der FDP sein. Wie gut das zusammen passt, zeigt etwa die Freie Demokratische Wohlfahrt, die seit 1954 Mitglied des Paritätischen ist. Dass ausgerechnet eine Freie Demokratische Partei immer wieder den Eindruck erweckt, mit Freier Wohlfahrtspflege zu fremdeln, ist schwer zu erklären.

Ein weiteres Zeichen dafür, dass es den demokratischen Parteien damit ernst ist, soziale Innovationen wirklich zu fördern, wäre eine gemeinsame Initiative dazu, den "blinden Fleck" der bisherigen Anträge und Debatten zu überwinden und sich gemeinsam dafür stark zu machen, die Bedeutung der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege für soziale Innovationen hervorzuheben und die Rahmenbedingungen gemeinnütziger Arbeit zu stärken: Wir sind gespannt!

Autor:
Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen Gesamtverband.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de