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Forschung für die inklusive Gesellschaft: Ergebnisse des neuen Teilhabeforschungsberichts

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Er wird seit 1993 begangen und soll dazu beitragen, die Interessen von Menschen mit Behinderungen stärker in die öffentliche Debatte zu rücken. Bestand schon vor Beginn der Covid-19-Pandemie ein erheblicher Handlungsbedarf, ist dieser sogar noch gewachsen. Zusätzlich zu bestehenden Barrieren haben sich häufig neue aufgetan, zum Teil ganz praktisch, durch geschlossene Einrichtungen und verringerte Besuchsmöglichkeiten. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.

Wie schaffen wir Veränderungen hin zu einer inklusiven Gesellschaft? Wer heute überzeugen will, benötigt häufig mehr als praktische Erfahrungen und ein berechtigtes Anliegen. Um auch politisch überzeugen zu können, bedarf es zunehmend auch konkreter Zahlen. Wie ist die Situation genau? Wo sind die Bedarfe? Wer ist betroffen? Zahlen prägen nicht nur unser Bild von der Welt, Zahlen helfen auch, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Welt sich ändert. Der Paritätische weiß dabei, wovon er redet. Vor über drei Jahrzehnten gab es nach offiziellen Angaben keine Armut in Deutschland. Es gebe, so die Argumentation etwa der damaligen Bundesregierung, die Sozialhilfe, Armut sei damit beseitigt. Mit den sozialen Realitäten hatte das nichts zu tun. In dieser Situation war es der Paritätische, der erstmals einen eigenen, unabhängigen Armutsbericht vorlegte. Armut wurde damit nicht nur stärker sichtbar, auch konkrete Ansätze zu ihrer Bekämpfung erhielten dadurch eine breite Öffentlichkeit.

Mit einem jährlichen Teilhabeforschungsbericht, ermöglicht von der Aktion Mensch Stiftung und erstellt durch die Paritätische Forschungsstelle, die dafür auf umfangreiche Daten des Sozio-oekonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zurückgreifen kann, soll genau das erreicht werde: einen Beitrag dazu leisten, dass die Welt fortwährend inklusiver gestaltet wird. Und das nicht nur am 3. Dezember, sondern jeden Tag mehr.

Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt deshalb die Bedeutung unabhängiger, zivilgesellschaftlicher Forschung, wie sie der Paritätische betreibt, heraus, zu Recht. Es gibt heute viele Perspektiven auf Menschen mit Behinderungen. Es muss aber vor allem um die Perspektive der Menschen mit Behinderungen gehen. Der Bericht ist deshalb unter Beteiligung von Betroffenen und deren Organisationen entstanden. Er beschränkt sich deshalb auch nicht auf die Wiedergabe aktueller Forschungsergebnisse, sondern fragt auch, was sich im vergangenen Jahr konkret getan hat. Und er formuliert Forderungen, was weiter getan werden muss. Wie groß der Handlungsbedarf in einzelnen Bereichen ist, hat uns dabei selbst überrascht.

Ein über 90-seitiger Bericht lässt sich an dieser Stelle nicht zusammenfassen. Mit diesem Beitrag möchten wir dazu einladen, sich mit dem Bericht selbst auseinandersetzen, mit seinen Fakten und mit seinen Forderungen. Vier neue Fakten und vier Forderungen seien beispielhaft hervorgehoben:

  • Erschreckende 38,8 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen bzw. 37,6 Prozent der Menschen mit Schwerbehinderung geben an, oft oder eher oft einsam zu sein. Von den Menschen ohne Beeinträchtigungen bestätigen das nur 15,8 Prozent. Besonders häufig einsam fühlen sich immer noch 14,2 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen, fast fünfmal mehr als in der Vergleichsgruppe.
  • Deutliche Unterschiede gibt es auch bei der Armutsbetroffenheit: Mit 32,4 Prozent sind Männer mit Beeinträchtigungen mehr als doppelt so häufig von Armut betroffen wie Männer ohne Beeinträchtigungen (14,6 Prozent). Sie leben ebenfalls häufiger als Frauen mit Beeinträchtigungen (28,1 Prozent) in Armut.
  • In den Blick genommen wurde auch die Entwicklung im Zeitverlauf. Zwischen 2010 und 2018 steigen die Armutsquoten bei Frauen und Männern im jungen/mittleren Alter deutlich an – bei den Frauen mit Beeinträchtigungen um 5 Prozentpunkte, bei den jeweiligen Männern sogar um 12,5 Prozentpunkte!
  • Das spiegelt sich auch im Grundsicherungsbezug: Fast drei Mal so häufig beziehen Frauen (35,5 Prozent) und Männer (33,5 Prozent) mit Beeinträchtigungen Grundsicherungsleistungen im Vergleich zu Personen ohne Beeinträchtigungen. Bei den Frauen mit Beeinträchtigungen ist der Anteil zwischen 2010 und 2018 drastisch und zudem signifikant gestiegen, und zwar von 22,7 Prozent um rund 13 Prozentpunkte.

Diese Unterschiede sind erheblich und belegen den Handlungsbedarf. Was kann getan werden? Unter anderem formuliert der Bericht folgende Forderungen:

  • Einsamkeit kann vorgebeugt werden, indem konkrete Teilhabebarrieren beseitigt werden, etwa durch stärkere Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung und den Kampf gegen Armut. Auch geringe Einkommen können ein Grund sein, dass soziale Kontakte bröckeln, weil alltägliche Unternehmungen nicht mehr finanzierbar sind.
  • Dazu kann ganz konkret beitragen, das Kriterium des Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung als Zugangsvoraussetzung zu einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) im SGB IX zu streichen. Um die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen wirksam zu bekämpfen, bedarf es über Projekte und Einzelmaßnahmen hinaus eines Gesamtkonzeptes zur Entwicklung inklusiver betrieblicher Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten.
  • Wenn Menschen nicht teilhaben können, darf es keine individuelle finanzielle Verpflichtung zur Überwindung der Barrieren geben. Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung muss unabhängig vom Einkommen und Vermögen gewährt werden.
  • Das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen durchsetzen und etwa den Mehrkostenvorbehalt abschaffen.

Die Daten, die dem Bericht zugrunde liegen, sind die aktuellsten, die dazu vorliegen. Sie stammen aus dem Bezugsjahr 2018. Seitdem hat sich vieles verändert. Sicher zu sein scheint: Die Probleme und der Handlungsbedarf, die der Bericht aufzeigt, sind seitdem nicht kleiner, sondern größer geworden.

Das gilt auch im Hinblick auf die Digitalisierung, wie der Leiter der Aktion Mensch Stiftung, Friedhelm Peiffer, in seinem Vorwort zum Bericht betont. Die Covid-19-Pandemie hat die Einführung neuer digitaler Instrumente und Kommunikationsmittel erheblich beschleunigt. Diese neuen Techniken haben das Potenzial, Barrieren abzubauen und gleichere Zugangschancen zu schaffen. Gleichzeitig besteht jedoch auch die Gefahr, dass Menschen dauerhaft von der Entwicklung ausgeschlossen und abgehängt werden. Ungleiche Teilhabemöglichkeiten wurden nicht verringert und beseitigt, sondern noch verstärkt. Die Erfahrungen aus der Pandemie und die Ergebnisse des am 3. Dezember veröffentlichten Teilhabeforschungsberichts belegen, dass der Handlungsbedarf viel größer ist, als viele Menschen angenommen haben. Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft brauchen wir schnellere Fortschritte. Das ist nicht nur im Sinne der sogenannten Betroffenen, sondern eine Aufgabe für alle.

Weitere Informationen:

Autor*innen:

  • Janine Lange, Referentin für Sozial- und Teilhabeforschung, Projektleiterin "Teilhabeforschung: Inklusion wirksam gestalten" beim Paritätischen Gesamtverband
  • Dr. Joachim Rock, Abteilungsleiter Abteilung Arbeit, Soziales und Europa beim Paritätischen Gesamtverband

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de