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Hartnäckige Reflexe: Die Täter im Visier … die Betroffenen vernachlässigt!

Das Bundesjustizministerium will die Strafen für sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie für die Verbreitung und den Besitz kinderpornografischen Materials verschärfen. Dass es zum Schutz der Betroffenen allerdings auch eine zweite Ebene braucht, die weiterhin vernachlässigt wird, erläutert Juliane Meinhold. Sie ist Referentin für Kinder- und Jugendhilfe beim Paritätischen Gesamtverband.

Damit dies nicht falsch verstanden wird: Es ist zu begrüßen, dass das Bundesjustizministerium mit einem aktuellen Gesetzesentwurf die Strafen für sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie für die Verbreitung und den Besitz von kinderpornografischem Material verschärfen will und damit auf die verheerenden Taten in Lügde, Münster und Bergisch-Gladbach u.v.m. reagiert. Hier endlich von einem Verbrechen auszugehen, setzt um, was schon lange gefordert wurde. Der Haken ist, dass Experten*innen davon ausgehen, dass dies allein nur sehr wenige abschrecken wird, Täter zu werden. Solange sie sich in relativer Sicherheit wiegen, nicht entdeckt zu werden, wird das auch so bleiben. Dem wäre nur mit massiven Investitionen in die Strafverfolgung zu entgegnen. Die aktuellen Vorhaben konzentrieren sich auf die Täter, Kinder und Jugendliche werden aber weiter Zielscheibe sexueller Gewalt bleiben.

Gleichzeitig sind es wichtige Schritte, die das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) und das Amt des Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch (UBSKM) in den letzten Monaten unternommen haben. Dazu gehört etwa die Einrichtung des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und Sensibilisierungskampagnen zu diesem Thema auf allen Ebenen, insbesondere in Zeiten von Corona. „Hinsehen und Hilfe holen bei Verdacht auf Kindesmissbrauch“ lautet ein aktueller Aufruf des Bundesfamilienministerium.

Natürlich muss mehr sensibilisiert werden. Natürlich ist es unabdingbar, dass hingesehen wird. „Hilfe holen“ wäre der nächste Schritt. Allerdings: Wenn wir davon ausgehen, dass die Gewalt und der Missbrauch nicht so schnell einzudämmen sind und gleichzeitig die Sensibilität für das Problem zunimmt und mehr hingeschaut wird, dann braucht es auch mehr Kapazitäten für die Beratung und die Begleitung der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Doch genau dieses „Mehr“ an Kapazitäten gibt es aktuell nicht. Im Gegenteil: Die spezialisierte Beratungsstruktur im Feld der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (und Frauen, und Menschen mit Behinderung, und Männern, und queeren Menschen, und…) hängt seit Jahren bundesweit an einem dünnen Faden. Viele Beratungsstellen finanzieren sich aus einem Mix an kommunalen und Landesmitteln, meistens zuwendungsbasiert und im Zweifel jährlich neu zu beantragen, gepaart mit häufig bis zu 50 Prozent Eigenmittelanteilen, die über Spenden und sonstige Zuwendungen eigenhändig eingeworben werden müssen. Die Finanzierung ist dann auch noch an regionale Beratungsgrenzen gekoppelt. Eine Beratungsstelle im Land Niedersachsen, Landkreis Lüchow-Dannenberg darf niemanden aus den angrenzenden Landkreisen der Bundesländer Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beraten, weil die Mittel nur den Einwohner*innen der zahlenden Kommune zu Gute kommen dürfen. Aber die aufgezählten Landkreise haben gar keine adäquaten Beratungsstellen und die Betroffenen müssten bis nach Potsdam, Magdeburg oder Rostock reisen, um spezialisierte Hilfe zu bekommen. Wie sollen Kinder und Jugendliche das leisten?

Zusätzlich halten sich viele Mitarbeiter*innen (häufig Frauen) in den Beratungsstellen bei vollem Einsatz für die Betroffenen mit Teilzeitstellen und geringer Entlohnung selbst finanziell nur knapp über Wasser. Viel Arbeit fließt in die Akquise der Eigenmittel und in die Antragstellungen. Die Corona-Krise erschwert nach Aussagen vieler Berater*innen die Einwerbung von Mitteln. Darüber hinaus sind viele Kommunen in großen Schwierigkeiten und Förderungen in Gefahr. Durch die Krise bricht auch das Spendengeschehen und die Möglichkeit der Einwerbung ein. Die Situation war jedoch bereits vor Corona schwierig: Darauf weist die Bundeskoordinierungsstelle für spezialisierte Fachberatungsstellen BKSF mit ihrer Kampagne „100% für Beratung“ schon lange hin. Studien, wie die von Barbara Kavemann, Cornelia Helfferich und Sybille Rothkegel haben bereits 2011 die prekäre Lage vieler Beratungsangebote empirisch belegt.

Geschehen ist seitdem nicht viel. Akut beschäftigt sich in NRW die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege mit der Finanzierung der Beratungsangebote: „Viele der spezialisierten Fachberatungsstellen leisten Aufklärung und Prävention durch Fachveranstaltungen und Fortbildungsangebote. Inhaltlich ist dies zugleich ein wichtiger Bestandteil der Sicherung des Kinderschutzes, der Fachwissen, Handlungssicherheit und Haltungsentwicklung der einzelnen Professionen qualitativ aufbauen und sichern kann. Die Notwendigkeit, einen Eigenanteil in oft nicht unerheblichem Maße erwirtschaften zu müssen, bindet einen Teil der vorhandenen Ressourcen, die besser in die Beratung und Konzeptentwicklung einfließen sollten. Eine gesicherte Finanzierung und die Ausweitung der Aufgaben sollten vorrangige Ziele auf der politischen Agenda sein“, heißt es in der Stellungnahme vom 25.5.2020.

Neben der Strafverschärfung und den Sensibilisierungskampagnen auf Bundesebene braucht es also nun konsequenterweise den politischen Willen und entsprechende Entscheidungen auf Landes- und kommunalen Ebenen, die Beratungsangebote für von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche auszubauen und auf finanziell sichere Füße zu stellen. Sonst bleiben wir in den gängigen Reflexen kleben und den Kindern und Jugendlichen ist nicht geholfen.

Autorin:
Juliane Meinhold

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de