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Leave no one behind!

Die traditionelle Humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit wollen aufholen. Ihre Hilfsleistungen, Unterstützungen und Projekte sollen für alle Menschen – ob mit oder ohne Behinderung – barrierefrei umgesetzt werden.

Zahlen, die erschrecken und aufrütteln: Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) zählte 2017 insgesamt 36 innerstaatliche Kriege, 186 gewaltsame Krisen und 11 zwischenstaatliche Konflikte auf fünf von sieben Kontinenten. Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Ende 2018 haben 68,5 Millionen Menschen unfreiwillig ihre Heimat verlassen. 15 bis 20 Prozent der Geflüchteten, so Schätzungen von Expertinnen und Experten, sind Menschen mit Behinderungen – sichtbare oder unsichtbare. Valides und zuverlässiges Datenmaterial zur Anzahl der Menschen mit Fluchterfahrung und mit Behinderungen stehen oft nicht zur Verfügung.

Aber es ist bekannt, dass Menschen aufgrund verschiedenster Beeinträchtigungen auch in Friedenszeiten aus vielen Lebensbereichen ausgeschlossen werden und gravierende Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen erleben. In akuten Notsituationen – nach einer Naturkatastrophe, während gewaltsamer Auseinandersetzungen und auf der Flucht – ist für sie der Zugang zu medizinischer Versorgung und anderen überlebenswichtigen Nothilfemaßnahmen erschwert oder gar nicht vorhanden.

„Es ist wichtig, dass Humanitäre Hilfe inklusiv umgesetzt wird. Und zwar Tag für Tag, in Flüchtlingslagern, in gefährdeten Gebieten, bei Krisen und Katastrophen“, betont Haakon Spriewald. Er ist für Handicap International Deutschland (HI) tätig und koordiniert von Berlin aus das durch das Auswärtige Amt finanzierte Projekt Leave no one behind! (dt.: Niemand darf zurückbleiben!). Es wurde 2016 in Kooperation mit der Christoffel Blindenmission e.V. (CBM) gestartet. Seit September 2018 und bis 2021 wird der zweite Projektzyklus durchgeführt und durch das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) wissenschaftlich begleitet.

Inklusive Praxis aufbauen

Deutschland hat wie 172 andere Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert und sich verpflichtet, auch für staatlich geförderte Humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) menschenrechtsbasierte Inklusionsstrategien zu entwickeln. Leave no one behind! ist dafür ein wichtiger Mosaikstein: Im Rahmen des Projekts werden Mitarbeitende von NGOs sowie aus staatlichen Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen für das Thema Behinderung und Inklusion sensibilisiert und fortgebildet. „Alle Akteurinnen und Akteure in diesem Bereich sollten wissen, wie Menschen mit Behinderung von Nothilfemaßnahmen nicht ausgeschlossen sind. Ihr Knowhow muss an Partner vor Ort fließen und in eine inklusive Praxis überführt werden“, erklärt Spriewald.

„Traditionell richten sich die Dienstleistungen der Nothilfe an eine durchschnittliche Bevölkerung. Sie ist im Allgemeinen gesund bzw. hat keine Behinderung“, erklärt Eileen Schuldt, Teamleiterin für Institutionelles Fundraising bei Handcap International. So würden dann eine Notklinik oder Sanitäranlagen nicht mit Rampen für Rollstuhlfahrer ausgestattet, überlebenswichtige Informationen nicht für seh- oder hörbeeinträchtigte Menschen aufbereitet oder Eltern chronisch kranker Kinder zu wenig unterstützt. „Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen müssen aber barrierefrei alle Dienstleistungen der Nothilfe wahrnehmen können“, formuliert Schuldt. „Oft höre ich von Seminarteilnehmern, ‚ich habe bis jetzt gedacht, Inklusion sei sehr kompliziert. Aber es ist gar nicht so schwierig, inklusiv zu handeln‘“, schildert Haakon Spriewald.

Eileen Schuldt ist froh, dass durch die UN-BRK selbstverständlicher geworden sei, dass die Rechte dieser heterogenen gesellschaftlichen Gruppe eingelöst, dass für sie Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht werden müssten. Die UN-BRK habe einen Paradigmenwechsel auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene eingeleitet. „Aber es bleibt noch viel zu tun“, betont sie. Wichtig sei, dass durch die Behindertenrechtskonvention eine inklusive Humanitäre Hilfe keinen Charity-Charakter mehr transportiere, sondern einen Rechtscharakter habe und als Menschenrecht verstanden werden müsse.

Sitzvolleyball für alle

Ein weiteres Instrument ist, die Selbstvertretungsstrukturen von Menschen mit Behinderung vor Ort dabei zu unterstützen, ihre Interessen durchzusetzen, ihre Rechte wahrzunehmen und aktiv dafür zu werben, dass Menschen mit Beeinträchtigungen mehr Wertschätzung in ihrem Sozialraum erleben. Ein Beispiel aus Ruanda: Hier veranstaltet HI im Rahmen seiner Aktivitäten in sieben Flüchtlingscamps Sportevents, bei denen Mannschaften mit und ohne Behinderungen unter gleichen Voraussetzungen teilnehmen. Ob gehbeeinträchtigt oder nicht, beim ‚Sitzvolleyball‘ kann jeder sich mit jeder messen. „Wir versuchen alle Freizeitangebote in den Camps so barrierefrei zu gestalten, dass keiner zurückbleibt“, erklärt Eileen Schuldt.

Für die Expertin ist das Thema Inklusion in der Humanitären Hilfe umso dringlicher, da diese zunehmend nicht nur kurzfristig nach einer Naturkatastrophe wie in Haiti oder Mosambik Leben retten und schützen müsse, sondern längst über Jahre hinweg in unterschiedlichen Ländern für die lokale Bevölkerung, für Geflüchtete aktiv werde. „In Zukunft wird es notwendig, dass sich Humanitäre Hilfe und EZ annähern, Synergien entwickeln und zunehmend miteinander kooperieren“, denkt Schuldt und betont, wie wichtig es sei, vor und während der Implementierung eines Projekts oder einer Maßnahme, Analysen von Barrieren und unterstützenden Faktoren durchzuführen. „Es müssen alle Hürden identifiziert werden, ob institutionell, einstellungs- oder umweltbedingt, die dazu führen, dass Menschen behindert werden, Hilfsangebote wahrzunehmen und umgekehrt, was sie befähigt, an allen Maßnahmen teilzuhaben.“  Auf diese Weise wurde u.a. für Haiti eine Katastrophenvorsorge konzeptualisiert, mit der im Notfall tatsächlich alle Inselbewohnerinnen und -bewohner gewarnt und geschützt werden können.

„Kein Mensch darf mehr von der Gesellschaft behindert werden!“

„Noch sind dicke Bretter weltweit zu bohren“, kommentiert Eileen Schuldt den Stand der Umsetzung der UN-BRK in der Humanitären Hilfe. Aber sie und ihr Kollege sind stolz auf Etappensiege: Seit 2016 haben Mitarbeitende von 23 Organisationen an Trainings und Schulungen zur inklusiven Nothilfe von HI und CBM teilgenommen. Das Deutsche Rote Kreuz hat eine AG zur Inklusion in der Humanitären Hilfe initiiert, und staatliche Akteure wie das Auswärtige Amt, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), das Technische Hilfswerk (THW) oder das Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit (BMZ), fragen die Expertise von HI an.

Mit großer Spannung erwarten beide, dass noch 2019 eine UN-Handreichung zur inklusiven Humanitären Hilfe mehrsprachig einschließlich in Leichter Sprache veröffentlicht und weltweit verbreitet wird. Sie wurde über zweieinhalb Jahre lang in fünf Weltregionen gemeinschaftlich erarbeitet, koordiniert durch eine rund 70 köpfige Taskgruppe, an der HI beteiligt war. An dem Entwicklungsprozess nahmen mehr als 600 Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, Nicht-Regierungsorganisationen sowie staatliche und UN Akteure teil. „Kein Mensch darf mehr von der Gesellschaft oder Umwelt behindert werden“, fordert Experte Spriewald. „Nicht in der Humanitären Hilfe, in der EZ oder in der Flüchtlingshilfe hier in Deutschland.“

Autorin:

Verena Mörath

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de