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#Mindestens600 – gegen den Hunger in Deutschland

Seit Jahren weisen Wissenschaftler auf Ernährungsarmut in Deutschland hin und fordern ein Gegensteuern – die politisch Verantwortlichen verschließen ihre Augen vor dem Problem, das durch die Corona-Pandemie noch zusätzlich verschärft wird. Nun haben Regierungsberater mit einem ausführlichen Gutachten einen regelrechten Hilferuf auf den Tisch gelegt. Warum eine kurzfristige Aufstockung von Hartz IV das Mindeste ist, was getan werden muss. Ein Gastbeitrag von Martin Rücker, Geschäftsführer von foodwatch Deutschland.

Wir müssen endlich über Hunger reden: Über Hunger in Deutschland.

Ja, es gibt ihn auch in unserem reichen Land. Klassisch – wenn Menschen nicht satt werden. Mehr noch als „versteckten Hunger“ – wenn zwar die Kalorien reichen, nicht aber die Vitamine und Mineralien, die jeder Körper braucht und ohne die Kinder sich nicht gesund entwickeln können. Und selbst das gibt es: Kinder, die beides gleichzeitig sind, übergewichtig und mangelernährt, von zu vielen Kalorien mit zu wenigen Nährstoffen. Die sich schlechter entwickeln und ein höheres Risiko für Diabetes und andere Erkrankungen zu tragen haben.

Viel zu lange haben politisch Verantwortliche bei Ernährungsarmut weggeschaut. Dabei fehlte es nicht an Hinweisen. Eine Langzeitauswertung von Schuleingangsuntersuchungen in Brandenburg zeigte bereits vor Jahren: Kinder aus Familien mit niedrigerem sozioökonomischem Status waren signifikant kleiner gewachsen als ihre Altersgenossen – ein schockierender Indikator für die wahrscheinliche Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen.

Je kleiner die Kinder, umso wichtiger eine ausgewogene Ernährung. In der Entwicklungsphase stellt sie Weichen für das ganze Leben. Wie die Nährstoffversorgung im so genannten 1000-Tage-Fenster von Schwangerschaft bis zum zweiten Geburtstag des Kindes, aber auch in den folgenden Jahre heranwachsender Kinder ausfällt, beeinflusst wesentlich ihre kognitive und körperliche Entwicklung. Was in diesem Zeitraum fehlt, kann nicht mehr ausgeglichen werden.

Wir dürfen den Blick vor einer fatalen Armutsspirale nicht verschließen: Kinder aus einkommensschwachen Familien ernähren sich unausgewogener. Darunter leidet ihre Entwicklung. Sie haben geringere Chancen, als Erwachsene der Armut zu entkommen. Was es wiederum unwahrscheinlicher macht, dass sie sich – und ihre Kinder – gesund ernähren.

Ein „Existenzminimum“, das keines ist

Wenn wir über den Zugang zu nicht nur ausreichender, sondern auch ausgewogener, gesunder Nahrung sprechen, so sprechen wir deshalb ganz konkret über Lebenschancen für Kinder. Ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats von Julia Klöckners Bundesagrarministerium liest sich vor diesem Hintergrund wie ein – bisher unerhörter – Hilfeschrei („Politik für eine nachhaltigere Ernährung“, Seiten 98-107). Nicht nur, weil die Professor*innen anschaulich die Hungererfahrungen von Familien in Armut benennen, die vom Verzicht auf frisches Obst und Gemüse bis hin zu ganztägigem Verzicht auf Nahrung überhaupt reichen. Sondern, weil sie die Hintergründe für Ernährungsarmut und damit die politischen Versäumnisse schonungslos analysieren. Sie benennen:

  • dass gesunde Lebensmittel, also solche mit hohem Nährstoffgehalt pro Kalorie, teurer sind als „energiedichte, aber nährstoffarme“ Produkte – weshalb der Markt die notgedrungen preisbewusst Einkaufenden förmlich zu einer schlechten Ernährung leitet;
  • „dass die derzeitige Grundsicherung ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht ausreicht, um eine gesundheitsfördernde Ernährung zu realisieren.“

In anderen Worten: Das derzeitige „Existenzminimum“ ist also gar keines – weil es evident ist, dass es den Bedarf an ausgewogener Ernährung nicht decken kann. Es ist mir nicht bekannt, dass Bundesernährungsministerin Julia Klöckner oder Bundessozialminister Hubertus Heil dazu seit Veröffentlichung des Gutachtens im Juni 2020 ernsthaft Stellung bezogen hätten.

Das allein ist ein Skandal. Dabei hat die Corona-Pandemie die Lage noch verschärft. Eine Untersuchung der TU München deutete bereits darauf hin, dass sich im „Lockdown“ gerade Kinder aus einkommensschwächeren Familien noch schlechter ernähren. Kostenlose Essensangebote in Schulen, Kitas und Sozialeinrichtungen fallen weg, Tafeln bleiben geschlossen – und im Einzelhandel stiegen ausgerechnet die Preise für Obst und Gemüse überdurchschnittlich. Dennoch blieben arme Familien bei all den Milliardenpaketen unbedacht. Von Beginn an waren die Corona-Hilfen sozial unausgewogen.

Jetzt gilt es, Armut zu bekämpfen

Mit einer Studienausschreibung will das Bundesernährungsministerium jetzt immerhin die Ernährungs- und Gesundheitssituation von „armutsgefährdeten Haushalte mit Kindern“ näher untersuchen. Die längst gebotene Soforthilfe darf dies nicht ersetzen. Was wir wissen, ist genug, um darin die Pflicht zum Handeln zu erkennen. Es darf nicht passieren, dass – ganz in der Linie der gegenwärtigen Ernährungspolitik – wieder einseitig auf Verhaltens- statt auf Verhältnisprävention gesetzt wird (dass die ausgeschriebene Studie Schwerpunkte auf eine Analyse der Ernährungs„gewohnheiten“ und „Einstellungen“ von Menschen in Armut legt, weckt dieses Misstrauen durchaus).  

Seiner Verantwortung kann der Staat sich nicht entziehen:

  • Jede Landesregierung, die sich aus Geldgründen noch immer weigert, die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für eine ausgewogene Verpflegung an allen Kitas und Schulen verbindlich vorzuschreiben, leistet der Mangelernährung weiter Vorschub – und nimmt Kindern Lebenschancen.
  • Ernährungswissenschaften müssen endlich in die Curricula aller Medizinstudiengänge, damit Ärzte Schwangere und Eltern beraten können.
  • Der Bund muss gesunde Ernährung fördern –  indem er die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse auf Null setzt und alle an Kinder gerichtete Werbung für Ungesundes untersagt.
  • Jede*r in diesem Land muss nicht nur satt werden, sondern sich auch eine ausgewogene Ernährung leisten können. Zu diesem Ziel muss sich die Lohn- und Sozialpolitik offensiv bekennen. Daraus folgt: Der Regelsatz muss decken, was es kostet, nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) einzukaufen.

Bisher hat die Bundesregierung noch nicht einmal die Kosten einer DGE-konformen Ernährung ermittelt – ein Versäumnis, das nicht zu rechtfertigen ist. Es wird dauern, dies zu korrigieren.

Bis dahin darf niemand nur vertröstet werden. Jetzt gilt es, Armut zu bekämpfen: Mit einer Soforthilfe gegen die Folgen der Pandemie und mit einer pauschalen Aufstockung der Regelsätze. Den vom Paritätischen initiierten Aufruf #Mindestens600 habe ich daher gern unterzeichnet.

Autor:
Martin Rücker, Geschäftsführer foodwatch Deutschland
Website: ruecker.foodwatch.de
Twitter: @martinruecker

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de