Und plötzlich allein – Wohnraumversorgung von Care Leavern
Suratsch ist ein Care Leaver, so werden Jugendliche bezeichnet, die ab 18 Jahren als Pflege- oder Heimkind aus der Zuständigkeit des Jugendamtes entlassen werden. Er gehört zu den Menschen, die es nicht leicht haben auf dem Wohnungsmarkt.
Suratsch Sarwari steht auf seinem kleinen, erdgeschössigen Balkon und guckt auf die Straße. Nur zaghaft, langsam und bedenklich kommt jedes Wort aus dem jungen Mann. „Ja“, sagt Suratsch, „jetzt habe ich eine Zukunft.“ Hinter dem Wiesbadener liegt das Chaos, vor ihm die Hoffnung. Denn nun kann das ehemalige Heimkind endlich in seiner neuen Wohnung durchstarten.
Suratsch ist ein Care Leaver, so werden Jugendliche bezeichnet, die ab 18 Jahren als Pflege- oder Heimkind aus der Zuständigkeit des Jugendamtes entlassen werden. Als Auszubildender kann sich der 20-Jährige nur eine Sozialwohnung leisten – immerhin hat er eine. Andere, auch Freund*innen und Bekannte von Suratsch, hatten weniger Glück: viele leben auf der Straße.
Expert*innen gehen momentan davon aus, dass in Deutschland 37.000 junge Menschen bis 26 Jahren ohne festen Wohnsitz sind, heißt es von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) in Frankfurt. „Die Zahlen nach Schätzungen sind nur die Spitze des Eisbergs“, weiß Britta Sievers, wissenschaftliche Referentin im Projekt Care Leaver der IGfH. Neben der Straße schliefen viele junge Menschen bei Freund*innen auf dem Sofa oder befänden sich in schwierigen Abhängigkeitsverhältnissen, sie werden nicht erfasst. Das Schockierende: Viele dieser jungen Men-schen hätten Jugendhilfeerfahrungen gemacht und wären ohne Wohnung in die ungesicherte Existenz entlassen worden.
Einige hätten nach der Jugendhilfe nie eine Wohnung gefunden oder sie durch eine fehlende Nachbetreuung wieder verloren. Die jungen Menschen haben es grundsätzlich schwerer, aber: „Wir merken, dass sich die sozialen Probleme von Care Leavern verdichten, weil in den Städten ein riesiger Mangel an Wohnungen herrscht“, so Sievers.
„Meine Mutter war überfordert“
Suratsch hat früher „ganz schön viel Blödsinn gemacht“ – das war nach der Trennung seiner Eltern in Hamburg. Als er zusammen mit seinem Zwillingsbruder zu oft die Schule geschwänzt hat, fielen die beiden auf und das Jugendamt wurde eingeschaltet. Da war er 15 Jahre alt. Zuerst kam eine „Familienbegleiterin“ zu ihnen, schließlich holte man die Kinder aus der Familie. „Meine Mutter war mit uns überfordert“, erinnert sich Suratsch, es habe nicht mehr funktioniert. Die beiden Jungs wollten zum Vater in den Süden, aber da klappte es mit der Stiefmutter nicht. Das war eine große Belastung für den Jungen. Früher habe er keine Perspektive gesehen: „Mir war alles egal“, erinnert sich der 20-Jährige heute, das habe sich in den Wohngruppen geändert.
Schöne Momente werden zu positiven Erinnerungen: Im Sommer haben sie immer beim Gassigehen mit dem Hund einer Betreuerin an einer Eisdiele Rast gemacht – daran erinnert sich Suratsch gerne. Die „Gruppe“ habe ihm schließlich zum ersten Mal sowas wie familiären Halt gegeben. „Es war gut, dass ich da gelandet bin“, sagt er heute. Das sei wie eine WG: Ein Sozialpädagoge sei immer da gewesen, man habe gemeinsame Unternehmungen gemacht, viele Gespräche geführt. Umso schlimmer, wenn manche dann plötzlich wieder allein dastehen, da die Jugendhilfe endet.
Für einige sei der Übergang vom Heim in die eigene Wohnung hart. „Dann startet man ins Leben, wird selbstständig und einem wird klar, dass man ohne Betreuer aufgeschmissen ist, weil sie vieles übernommen haben“, weiß Suratsch. Alleine zurechtkommen, das schaffen bereits „normale“ Jugendliche mit Anfang 20 kaum, wie sollen das Menschen hinbekommen, die familiär massiv vorbelastet sind?
Britta Sievers kennt die Stolpersteine der Care Leaver: Mit dem Projekt „Gut begleitet ins Erwachsenenleben“ der Uni Hildesheim und der IGfH hat die Referentin für die Stadt Karlsruhe anhand von Interviews Probleme in der Übergangsbegleitung im Kinder- und Jugendhilfesystem aufgezeigt.
Ein grundsätzliches Problem sei die offene Gesetzesformulierung: Denn der Paragraph im Sozialgesetzbuch (§ 41 SGB VIII) ist sehr vage gehalten. Konkret heißt es: „Der junge Volljährige soll auch nach Beendigung der Hilfe [in der Regel nach 21 Jahren] bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang beraten und unterstützt werden.“ Was das genau bedeutet, und vor allem, wie das finanziert wird, ist unterschiedlich: „Jedes der 600 Jugendämter regelt das, wie es will“, sagt Britta Sievers. Konkret bedeutet das: Wenn das Jugendamt nicht mehr zahlt, bekommen die freien Träger nichts mehr und können die Hilfe nicht mehr leisten – der Care Leaver muss plötzlich ganz allein für sich sorgen. Bei über 18-jährigen könnten Zuwendungen abrupt enden: Wegen „mangelnder Mitwirkung“ käme es dann zur „unplanmäßigen Hilfebeendigung“, das bedeutet Rauswurf. „Mancher junge Mensch bekommt dann nichts mehr“, weiß Sievers. Eine Einbahnstraße, denn wenn 18-Jährige dann auf der Straße leben, ist plötzlich die Wohnungslosenhilfe und nicht mehr das Jugendamt zuständig.
Suche war sehr frustrierend
Wie viele Chancen darf ein junger Mensch haben, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten? Natürlich war auch in Wiesbaden nicht sofort alles für Suratsch in Ordnung, auch hier bekam der Jugendliche Probleme, zum Beispiel mit dem Direktor seiner Schule. Zu einer Betreuerin hatte Suratsch eine sehr gute Beziehung, die Pädagogin sagte ihm, dass er es ihm beweisen solle. Da habe sich ein Schalter beim Jugendlichen umgelegt: „Ich habe gedacht, dem zeige ich das, dass ich in einem halben Jahr meine Quali schaffe.“ Entgegen der Behauptungen des Direktors büffelte er, riss sich zusammen und schaffte seinen Abschluss mit Qualifikation.
Suratsch hatte viele Chancen, irgendwann nutze er eine. „Die Beziehung zu Betreuern ist ein entscheidender Faktor bei einem guten Start“, weiß Britta Sievers. Da es keine einheitlichen Standards für einen Übergang in die Selbstständigkeit gebe, käme es meist auf die Pädagog*innen an, und darauf, wie sehr sie sich „reinhängen“. Oft würde ein junger Mensch nur drei bis sechs Monate vor Auszug begleitet, das Kochen und Putzen gelehrt, aber vielleicht nicht, wie man mit Finanzen umgeht. Manche würden sogar kurzfristiger vorbereitet werden. Dass die Betreuer*innen dann den Jugendlichen noch bei der Wohnungssuche helfen, werde in Zeiten der Wohnungsnot immer unrealistischer. „Zwei Stunden Wohnung besichtigen, ist da oftmals schon zu viel“, so die Referentin.
Suratschs Wohnung ist eine typische Jugendwohnung, die nicht alle als Traumwohnung bezeichnen würden. Nach vielen Enttäuschungen ist für ihn jedoch ein Traum in Erfüllung gegangen. Die Suche nach einer Unterkunft empfand der Care Leaver als „sehr frustrierend.“ Per Mail hat er sich meist als Sozialhilfeempfänger vorgestellt und dann die ganze Breite an Vorurteilen abbekommen: „Viele sagen, dass sie keine Sozialhilfeempfänger haben wollen“, meint der 20-Jährige. Sie würden bei einem Telefonat direkt auflegen oder es kämen Rückfragen wie: Ob man nicht für sein Geld arbeiten gehen könne. „Ich war traurig und wütend, dass den Vermietern niemand die Augen öffnet“, erinnert sich der Care Leaver. Erst später hat der junge Mann erfahren, dass er als Auszubildender gar nicht Sozialhilfe, sondern eine sogenannte Ausbildungsbeihilfe erhält. Dinge, die Suratsch noch lernen muss: so wie viele andere „Erwachsenensachen“.
Stadt hat die Notlage früh erkannt
Schließlich hatte der 20-Jährige dann nur die Chance zu einer einzigen Besichtigung Anfang 2019: für seine momentane Wohnung. Als Suratsch die Wohnung betrat, fand er alles, was er wollte: „Sie hatte viel Licht, war ruhig und doch zentrumsnah“, erinnert sich der junge Mann. Es sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen, Suratsch war regelrecht beglückt. Seine neue Unterkunft bekam der 20-Jährige über das Projekt Jugendwohnen der „BauHaus Werkstätten Wiesbaden GmbH“ – eine Kooperation zwischen Sozialverwaltung, Trägern der Hilfen zur Erziehung und Jugendberufshilfe und ein Vorzeigeprojekt: Jugendliche mit Jugendhilfehintergrund bekommen so Wohnungen vermittelt.
Die Stadt hat die Notlage in Wiesbaden früh erkannt und darauf reagiert. Bereits seit den 90ern ist die Wohnungsmarktlage in Wiesbaden stark angespannt. Für verschiedene benachteiligte Personengruppen wurden deswegen sogenannte „Regiestellen“ eingerichtet. „Seitdem ist es nicht einfacher geworden“, meint Stephanie Zeltz vom Projekt Jugendwohnen. Die Sozialarbeiterin bietet öffentlich geförderte Wohnungen, Unterkünfte von Wohnbaugesellschaften und private Unterkünfte an. Zudem gibt es einen Pool an Wohnungen, in denen Jugendliche auch üben dürfen, bevor sie in eine eigene Wohnung vermittelt werden. Auch dient der Pool als Notunterkunft bei drohender Obdachlosigkeit.
Für Suratsch sei die Vermittlung relativ einfach gewesen, erinnert sich Stephanie Zeltz. Da der Jugendliche wieder mit seinem Bruder zusammenziehen wollte, suchte die Sozialarbeiterin nach einem Zweipersonenhaushalt, den es häufiger gibt. Care Leaver konkurrieren normalerweise mit Studierenden oder anderen einkommensarmen Menschen um kleine und günstige Wohnungen, weshalb der Markt in diesem Segment besonders angespannt ist. Eine weitere Schwierigkeit sei normalerweise die Auflage vom Amt: „Die Miete für unter 25-Jährige und Einpersonenhaushalte ist vom Jobcenter sehr gering angesetzt“, weiß sie.
Zeltz dient auch als Vermittlerin: „Falls einer einmal einen Antrag vergessen hat und die Miete nicht zahlen kann, dann suchen wir den Kontakt zu den ehemaligen Betreuern und den Jugendlichen.“ Denn auch der „Papierkram“ kann zum Stolperstein werden. Britta Sievers von der IGfH spricht von einem regelrechten Übergangsdschungel, mit denen sich Care Leaver auseinandersetzen müssen: Zuständigkeiten klären, Informationen einreichen, Fristen einhalten, Gelder beantragen; dabei gebe es häufig Probleme mit Zuständigkeiten und lange Wartezeiten. „Oftmals gibt es eine Lücke von ein bis drei Monaten, wo man nicht weiß, wie die Miete bezahlt werden kann“, sagt Sievers. Monate, während derer Einige nichts zum Leben haben. Das sind Faktoren, die zur Wohnungslosigkeit führen können. Jobcenter, Kindergeld, BAföG, Ausbildungsbeihilfe, bei manchen Anträgen müssten sogar von den Kindern die Auskünfte von Eltern eingeholt werden, obwohl ein zerrüttetes Verhältnis, vielleicht sogar mit Gewalt- und Missbrauchsvorfällen, vorliege.
„Care Leaver brauchen bessere Starthilfe“
Zudem das Problem mit Krankenkassen: Da es oftmals keinen nahtlosen Anschluss gebe, würden manchmal im Nachhinein Rechnungen erstellt werden, die die Jugendlichen nicht bezahlen können. Dann wird es noch schwieriger, eine Wohnung zu bekommen: „Schulden sind oftmals ein Grund zum Weg in die Wohnungslosigkeit“, sagt die wissenschaftliche Referentin. Die wenigsten könnten sofort mit ihrem Einkommen auskommen. Falls die Care Leaver noch im Heim lebten, müssten die Jugendlichen 75 Prozent des Einkommens abgeben, was sehr demotivierend sei. In Suratschs alter Einrichtung nennen ihn immer noch alle den „Chef“. Nachdem sich bei ihm ein Schalter umlegte, fing er an, sich für andere einzusetzen: Zuerst wurde Suratsch Gruppen-Sprecher und dann landesweit für Heimkinder aktiv. „Das bin ich immer noch“ sagt der 20-Jährige. Er geht regelmäßig nach Berlin, um die Care Leaver politisch zu vertreten.
Da plädiert Suratsch dann zum Beispiel für die Abschaffung der 75-Prozent-Abgabe an das Jugendamt oder eine bessere Übergangsregelung. Care Leaver bräuchten eine bessere Starthilfe, meint Britta Sievers: Die Hilfe sollte viel langfristiger werden und jeder könnte einen eigenen Lotsen haben, der sich von sich aus meldet. Auch gebe es viele Formen des stufenweisen Auszugs, die teilweise bereits praktiziert werden: „Solche Zwischenformen werden von den Jugendlichen als sehr positiv erlebt“, so die Referentin. Einmal die Woche kommt auch ein*e Betreuer*in zu Suratsch, welche*r bei Fragen weiterhilft, das nennt man in seiner Einrichtung in Wiesbaden „außenbetreutes Wohnen“. Im Flur von Suratsch steht eines dieser modernen Bretterschilder, die wahlweise Sprüche anbieten: „Wir sind eine Familie“ steht oben drauf, „Sind für einander da“ und „Machen aus allem das Beste“. Das Schild hat sich der 20-Jährige selbst gekauft. Der junge Mann hat jetzt familiären Halt, von seinem Bruder, mit dem er wieder zusammenlebt. Aber auch von seinem Vater und seinen jüngeren Halbgeschwistern. Suratsch hat es hinbekommen, ist, wie er selbst sagt, „zum Kämpfer geworden“. Andere Care Leaver haben vielleicht weniger Kraft.
Dieser Beitrag stammt aus der Broschüre "Menschen im Schatten des Wohnungsmarktes".
Weitere Informationen zur Sozialen Plattform Wohnen hier.
Autorin:
Annabell Fugmann
Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de