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Verschlossene Türen: Aufwachsen in Armut

Ein Aufwachsen in Armut hat akute und langfristige Folgen für die betroffenen Kinder. In einer Gesellschaft, in der so gut wie alles mit einem Preis versehen ist, werden sie massiv ausgegrenzt. Sie sind Leidtragende eines allgemeinen Prozesses der sozialen Spaltung.

Vor einer Woche veröffentlichte das Statistische Bundesamt seine neuen Armutsquoten. Auch an den erschreckend hohen Werten für die Armut von Kindern und Jugendlichen hat sich im Vergleich zu den Vorjahren im Jahr 2018 kaum etwas geändert. Nach wie vor sind etwas über 20 Prozent der Minderjährigen in Deutschland zu den Armen zu zählen. Alleinerziehende tragen mit über 40 und kinderreiche Familien mit 30 Prozent das größte Armutsrisiko.

Armut von Kindern beginnt nicht erst dann, wenn Kindern nicht mehr notwendige Kleidung, Essen oder Wohnraum zur Verfügung gestellt werden kann, sondern bereits dort, wo Kinder aufgrund der schlechten Einkommenssituation ihrer Eltern abgehängt sind und nicht mehr teilhaben am Leben der Mitte dieser Gesellschaft. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, ausgegrenzt zu sein und abseits stehen zu müssen, ist das Lebensgefühl armer Kinder in Deutschland. Frust, Resignation, weniger Bildungserfolg und höhere Krankheitsanfälligkeit sind die Folgen der Einkommensarmut der Familien.

Der Paritätische Gesamtverband wollte es genauer wissen und ist in einer neuen Studie der Frage nachgegangen, wie viel Geld Familien mit Kindern zur Verfügung haben und was sie für die physischen und sozialen Grundbedarfe der Teilhabe der Kinder ausgeben. Die Befunde müssen armutspolitisch mehr als beunruhigen.

Kein Eis oder Zoo-Besuch

Im Zehn-Jahres-Vergleich ging die ohnehin breite Schere zwischen den Haushaltseinkommen der ärmsten und der reichsten Familien weiter auseinander. Während der Konsum im Durchschnitt moderat und beim obersten Zehntel spürbar zugenommen hat, mussten sich die ärmeren Kinder über die Jahre weiter einschränken: Arme Familien hatten real weniger Geld als noch zehn Jahre zuvor zur Verfügung, um ihren Kindern mehr als das physisch Notwendige zu finanzieren.

Während die durchschnittlichen Ausgaben für ein Kind bei rund 600 Euro liegen, konnten sich die ärmsten zehn Prozent der Paarhaushalte mit einem Kind nur 364 Euro für ihr Kind leisten. Die reichsten zehn Prozent der Familien gaben im Schnitt 1.200 Euro im Monat für ihr Kind aus.

Besonders eklatant sind die Differenzen bei den Ausgaben für die sozialen Grundbedarfe der Teilhabe. Ob Spielzeug, Zoo-Besuch, das gelegentliche Eis bei einem Ausflug oder auch eine Kindertheatervorstellung: Insgesamt konnten die ärmsten Paarhaushalte mit einem Kind gerade einmal 44 Euro pro Monat für Freizeit, Unterhaltung und Kultur sowie außerhäusliche Verpflegung ihres Kindes ausgeben und damit, preisbedingt, fast 30 Prozent weniger als zehn Jahre zuvor. Der Durchschnitt gab für ein Kind fast drei Mal so viel (123 Euro) aus, die reichsten zehn Prozent dagegen sogar 257 Euro und damit fast sechs Mal so viel wie die ärmsten Familien und preisbereinigt sogar 14,7 Prozent mehr als zehn Jahre vorher.

Arme Kinder sind chancenlos

Arme Kinder sind in Deutschland, was ihre soziale Teilhabe anbelangt, in der Regel chancenlos. Sie haben bei derart auseinanderklaffenden Einkommenspositionen gar nicht die Möglichkeit, am ganz normalen Leben der Mitte teilzunehmen. Sie sind in einer Gesellschaft, in der so gut wie alles mit einem Preis versehen ist, massiv ausgegrenzt. Das Erlernen eines Musikinstrumentes auf einer Musikschule ist genauso außerhalb der Reichweite wie der Besuch von Kulturveranstaltungen. Die Teilnahme an einer Jugendfreizeit ist normalerweise ebenso wenig drin wie ein gemeinsamer Clubbesuch mit Freunden. Der Beitrag für eine Mitgliedschaft im Fußballverein könnte für den einen oder die andere vielleicht noch über einen Gutschein aus dem Bildungs- und Teilhabepaket abgedeckt werden, spätestens wenn die Kosten für Trikots und Fußallschuhe oder für Turnierfahrten anfallen, reicht es aber schon nicht mehr.

Wir müssen uns klarmachen: Die Frage, was Mitwirkung und Teilhabe kosten, wird in der Mitte der Gesellschaft beantwortet – sie setzt die Standards. Und diese Mitte orientiert sich immer nach oben. Arme Familien sind hoffnungslos abgehängt. Wir sind dabei, Millionen von Kindern für diese Gesellschaft zu verlieren.

Wer am wenigsten hat, muss auch am meisten bekommen

Was es braucht, ist das Bildungs- und Teilhabepaket durch einen Rechtsanspruch auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz zu ersetzen, einen wirklichen Rechtsanspruch auf Angebote der Jugendarbeit, der Jugenderholung oder auch der Beratung. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist lediglich ein Zuschusspaket, mehr nicht. Darüber hinaus muss der Familienlastenausgleich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wer am wenigsten hat und deshalb die größte Unterstützung benötigt, muss beim Familienlastenausgleich auch am meisten bekommen. Nicht umgekehrt, wie es aktuell der Fall ist.

Die Einführung einer einkommens- und bedarfsorientierten Kindergrundsicherung kann hier helfen. Allen Kindern soll dem Grunde nach ein existenzsicherndes Kindergeld zustehen, das mit steigendem Familieneinkommen abgeschmolzen wird. Eine solche Kindergrundsicherung wäre einfach, solidarisch und gerecht. Sie würde Einkommensarmut von Kindern verhindern und Hartz IV für Kinder überflüssig machen.

Autor:

Dr. Ulrich Schneider

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de