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Was braucht ein Mensch zum Leben?

In diesem Jahr werden die Regelbedarfe in der Grundsicherung neu ermittelt. Der Gesetzgeber muss die Frage beantworten, was ein Mensch zum Leben braucht. Die Neu-Ermittlung muss dazu genutzt werden, soziale Ungleichheit abzubauen und den Zusammenhalt im Land zu stärken.

In diesem Jahr steht eine Neu-Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung an. Diese Leistungen sollen für Menschen ohne (ausreichende) eigene Einkommen das menschenwürdige Existenzminium sichern. Auf diese Mindestabsicherung hat jeder Mensch in Deutschland ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht. Der Gesetzgeber wird die Frage beantworten müssen, was ein Mensch zum Leben braucht.

 

Ein breites Bündnis aus Sozialverbänden und Gewerkschaften setzt sich dafür ein, dass die Gelegenheit der Neu-Ermittlung genutzt wird, um soziale Ungleichheit abzubauen und den Zusammenhalt im Land zu stärken. Dazu ist eine sachgerechte Ermittlung des Regelbedarfs unumgänglich, die im Ergebnis zu deutlich höheren Leistungen der Grundsicherung führen muss.

Leistungen bisher viel zu niedrig

Der Paritätische hält die bestehenden Leistungen in den Grundsicherungssystemen für viel zu niedrig. Aktuell muss eine alleinlebende Person, die von Hartz IV oder der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung leben muss, mit einer monatlichen Leistung von 432 Euro auskommen. Auch wenn die Mietkosten separat dazu kommen, reichen 432 Euro im Monat definitiv nicht aus: es ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Ein Leben in Würde wird den Leistungsberechtigten ebenso verweigert wie die soziale Teilhabe in der Gesellschaft.

2018 waren insgesamt über 7 Mio. Personen auf die Leistungen der verschiedenen Grundsicherungssysteme (Hartz IV / SGB II, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz) angewiesen, darunter annähernd 4 Mio. erwerbstätige, pflegende, erziehende und formell arbeitslose Menschen im erwerbsfähigen Alter in Hartz IV,  über 1,5 Mio. Kinder unter 15 Jahren, die auf Hartz IV verwiesen werden, etwa 1 Mio. Senior*innen und Erwerbsgeminderte (SGB XII) sowie etwa 400.000 Geflüchtete, die Leistungen nach den Asylbewerberleistungsgesetz bekamen. Sie alle sind existenziell auf die Grundsicherungsleistungen angewiesen.

Der Gesetzgeber ist in regelmäßigen Abständen verpflichtet, die Regelbedarfe grundlegend neu zu bestimmen. Anlass für die Neu-Ermittlung ist die Auswertung der jeweils jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Diese wird alle fünf Jahre neu erhoben - zuletzt 2018. Diese statistische Erhebung soll u.a. einen Aufschluss über die Einnahmen und Ausgaben der Haushalte  in Deutschland erlauben. Nach der gängigen Praxis – genannt „Statistikmodell“ - versucht die Bundesregierung durch die Auswertung der Ausgaben von Menschen, die knapp oberhalb von Hartz IV leben, Hinweise darauf zu erlangen, wie viel Geld ein Mensch zum Leben braucht

Ob ein solcher Schluss von den Ausgaben einer – in der bisherigen Praxis erwiesenermaßen einkommensarmen – Gruppe von Menschen auf ein notwendiges Existenzminium überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft. Denn: bei diesem Verfahren wird nicht einmal im Ansatz gefragt, was ein Mensch tatsächlich an Unterstützung braucht.

Spaltungen verhindern, Zusammenhalt stärken

Doch auch jenseits dieser grundsätzlichen Frage gibt es zahlreiche konkrete Kritiken an der Regelbedarfsermittlung durch die Bundesregierung. In einem Schreiben unter der Überschrift „Spaltungen verhindern, Zusammenhalt stärken – kein „Weiter-So“ bei den Regelsätzen“ an den zuständigen Bundesminister Hubertus Heil und an Abgeordnete des Deutschen Bundestags werden die Kritiken zusammengefasst und konkrete Forderungen für die Neu-Ermittlung formuliert.

Unterstützt und gezeichnet ist dieses Schreiben von zahlreichen Organisationen, die sich als „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ seit Jahren für eine Anhebung der Grundsicherungsleistungen einsetzen.

Fünf konkrete Kritikpunkte an der bisherigen Festsetzung der Leistungen der Grundsicherung durch den Gesetzgeber hebt das Bündnis hervor:

  • Die Regelbedarfe werden festgelegt in Auswertung der Konsumausgaben einer Gruppe von einkommensarmen Menschen. Ob im Ergebnis die Bedarfe gedeckt werden können, prüft die Bundesregierung nicht. Die spezifischen Bedarfe von Eltern werden gar nicht ermittelt, da die Leistungen für Erwachsene von Ein-Personen-Haushalten abgeleitet werden.
  • Innerhalb der Vergleichsgruppe gibt es zahlreiche Haushalte, die zwar Ansprüche auf Grundsicherung hätten, diese aber nicht geltend machen (sog. verdeckte Arme). Dies drückt im Ergebnis die ermittelten Regelbedarfe nach unten.
  • Eine Orientierung an den ärmsten Haushalten widerspricht dem Gedanken insbesondere Kindern echte Teilhabe- und Entwicklungschancen zu gewähren.     
  • Eine Vielzahl von Ausgaben wird bei der Regelbedarfsermittlung schlicht als „nicht relevant“ eingestuft. Dazu gehören Malstifte für Schulkinder, der Weihnachtsbaum, Ausgaben für Familienfeste oder Haustiere oder auch das Eis im Sommer. Mit Ergebnis wird durch diese willkürlichen Streichungen die Leistung massiv heruntergerechnet.
  • Verschiedene besondere Ausgaben werden durch die statistische Erhebung nicht plausibel abgebildet. Dies gilt insbesondere für einmalige besondere Bedarfe oder die Stromkosten.

Aus den genannten Kritiken folgen die gemeinsamen (Mindest-)Anforderungen des Bündnisses für eine Neuberechnung der Regelbedarfe:

  • Besondere einmalige Bedarfe können nicht pauschaliert werden. Diese Bedarfe – etwa: die Waschmaschine geht kaputt und muss ersetzt werden oder das Kind braucht ein Fahrrad – sind als Zuschuss zu decken, wenn sie auftreten. Ebenso ist mit besonderen Bedarfen zu verfahren, die im Alter oder bei Krankheit anfallen.
  • Die Ermittlung der Regelbedarfe muss sicherstellen, dass nicht lediglich die bestehende Armut einer politisch festgelegten Vergleichsgruppe zum Ausdruck gebracht wird. Es müssen politisch Mindeststandards für eine ausreichende materielle Ausstattung und für soziale Teilhabe festgelegt werden.   
  • Die Stromkosten lassen sich nicht sinnvoll über die EVS abbilden. Zur Vermeidung einer Unterdeckung sollten die Stromkosten bedarfsorientiert ermittelt, aus dem Regelsatz herausgelöst und separat gewährt werden.
  • Die Fortschreibung der Leistungen zwischen den Neuermittlungen erfolgt mittels eines Mischindexes aus Preis- und Lohnentwicklung. Um zu vermeiden, dass die Grundsicherungsbeziehenden von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt werden, sollten die jährlichen Anpassungen gemäß der Lohnentwicklung erfolgen. Mindestens muss aber die Preisentwicklung ausgeglichen werden.
  • Die Leistungen der Grundsicherung prägen die Lebenssituation von Millionen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Diese Entscheidung darf nicht schlicht durch das zuständige Ministerium vorbereitet und durch das Parlament abgenickt werden. Eine derart wichtige Frage bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Dafür fordert das Bündnis die Einsetzung einer unabhängigen Sachverständigenkommission, die konkrete Vorschläge für die Ermittlung des Existenzminimums erarbeitet.

Werden diese Grundsätze und Forderungen durch die Bundesregierung berücksichtigt, so müssen die Regelbedarfe im Ergebnis spürbar höher erhöht werden. Wie hoch die Regelbedarfe ausfallen müssten, kann erst in Kenntnis der jüngsten EVS Daten konkretisiert werden. Expertisen der Paritätischen Forschungsstelle auf der Grundlage der EVS 2013 deuten aber darauf hin, dass die Regelbedarfe um mehr als ein Drittel erhöht werden müssten. Es ist plausibel zu erwarten, dass auch die EVS 2018 zu ähnlichen Ergebnissen führen müsste, sofern denn das sog. Statistikmodell konsequent und ohne willkürliche Eingriffe umgesetzt wird.     

Der Paritätische betont, dass die Festlegung der Regelbedarfe und damit des menschenwürdigen Existenzminimums keine „technische“ Frage ist, die mit  Statistiken und komplizierten Berechnungsverfahren „wissenschaftlich“ beantwortet werden könnte. Letztlich ist entscheidend, wie die Politik mit den ärmsten Mitbürger*innen umgehen will und ob der politische Willen vorhanden ist, soziale Ungleichheit zu reduzieren und Armut zu bekämpfen. Sollen diese Ziele erreicht werden, ist die Anhebung der Regelbedarfe unverzichtbar. Dafür setzen wir uns ein.

Autor:
Dr. Andreas Aust

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de