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Praxiseinblicke: Regionale Verbandsarbeit

Lebensqualität entscheidet sich dort, wo die Menschen wohnen, wo sie arbeiten, wo sie im Zweifel auf Hilfe angewiesen sind. Wohlfahrtspflege findet ganz praktisch vor allem in den Kommunen statt. Und für immer mehr Bereiche der sozialen Arbeit sitzen die direkten Gesprächs- und Verhandlungspartner auch genau dort: auf kommunaler Ebene. Für die Jugendhilfe gilt das schon lange, aber auch in der Pflege oder der Behindertenhilfe ist immer mehr dezentralisiert worden und liegt inzwischen in kommunaler Hand. Dies bedeutet auch neue Anforderungen an die verbandliche Präsenz und eine professionelle Gremien- und Lobbyarbeit vor Ort.

 

Unter dem Dach des Paritätischen sind 10.622 rechtlich eigenständige Organisationen sozialer Arbeit in insgesamt 15 Paritätischen Landesverbänden organisiert, mehr als 3000 davon allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es überall lokale Geschäftsstellen des Paritätischen, Iris Bellstedt leitet die Kreisgruppe Düsseldorf und ist eine von vier Paritätischen Bezirkskoordinator*innen des Landesverbandes. Die Kreisgruppen sind Anlaufstellen für bürgerschaftliches Engagement, „für alle Menschen, die einfach gute Ideen haben und die was machen wollen.“ Sie beraten Mitgliedsorganisationen, moderieren zwischen unterschiedlichen Interessen, vertreten die Mitglieder bei Entgeltverhandlungen. Manche Kreisgruppe in NRW hat mehr Mitglieder als der Paritätische Landesverband. Aufgrund der Mitgliederstärke gibt es vielerorts auch örtliche Facharbeitskreise, beispielsweise für alle lokalen Mitgliedsorganisationen, die im Bereich der Kindertagesbetreuung aktiv sind. Das hat sich bewährt: Die Reform des Kinderbildungs-Gesetzes (KiBiZ), mit der unter anderem der chronischen Unterfinanzierung in der Kindertagesbetreuung in NRW entgegengewirkt werden soll, konnte so besonders schlagkräftig und kritisch begleitet werden. Das Modell in NRW diente u.a. dem Paritätischen Brandenburg nach der Wende als Vorbild für seine Regionalbüros. Dort gibt es Landkreise von über 3.000 Quadratkilometer, siebenmal so groß wie Bremen, aber dünn besiedelt. Die weiten Wege seien aber eigentlich kein Problem, wie Andreas Kaczynski, Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes erläutert. Die hauptamtlichen Leiter*innen der insgesamt sechs Regionalbüros sichern den Informationsfluss von und in die Regionen. Die Mitgliederversammlung tagt jedes Mal an einem anderen Ort, damit nicht alle immer in die Landeshauptstadt Potsdam reisen müssen; und bereits vor Corona nutzte der Verband die Möglichkeit ortsungebundener Videokonferenzen.

Auch in den anderen Landesverbänden sind die lokalen Mitgliedsorganisationen auf verschiedene Arten über Kreis- oder Bezirksgruppen eingebunden, nicht immer jedoch gibt es hauptamtliche Vertretungen oder Büros. In Baden-Württemberg sind die ehrenamtlichen Kreisvorstände Anlaufstelle für Mitgliedsorganisationen und vertreten diese auch in Gremien wie dem örtlichen Jugendhilfeausschuss.

Mitgliedsorganisationen als Problemradar

Der Kontakt zu den Mitgliedsorganisationen vor Ort ist wichtig, nicht nur, aber auch als „Problemradar”: Der Hilferuf aus Perleberg erreichte Andreas Kaczynski über das zuständige Regionalbüro. Die Insolvenzhilfe Prignitz, die Brandenburger*innen hilft, die in finanzielle Schieflage geraten sind, schlug Alarm. Durch die coronabedingten Einschränkungen war der Träger selbst in Existenznot geraten. Für die Finanzierung der Schuldner- und Insolvenzberatungsangebote sind in Brandenburg Kommunen und das Land in geteilter Verantwortung zuständig, abgerechnet wird nach Fallzahlen. Während des Lockdowns mussten Beratungsstellen teils schließen, Verfahren an den Gerichten blieben unbearbeitet, Banken hatten zu, Termine mussten verschoben werden. Alarmiert durch die Problemanzeige der lokalen Mitgliedsorganisation holte der Chef des Paritätischen Brandenburg die anderen Wohlfahrtsverbände mit ins Boot. Eine landesweite Abfrage bei den Schuldnerberatungsstellen ergab, dass es kein Einzelfall ist: Die Einnahmen der 65 Insolvenzberatungsstellen unter dem Dach der Wohlfahrtsverbände in Brandenburg sind um mehr als 40 Prozent dramatisch eingebrochen. Die während Corona gewährten Mittel sind nicht kostendeckend, Personal- und Sachkosten fallen weiter an, und die Beratungsstellen können diese Lücke kaum überbrücken, zumal angesichts der sozialen Folgen der Krise mit steigendem Beratungsbedarf zu rechnen ist. Kaczynski suchte das Gespräch zur Politik, mit einer Online-Pressekonferenz brachte die Liga das Thema an die Öffentlichkeit, die Landesregierung wurde zum Handeln gezwungen.

Finanziell sieht es in Düsseldorf, einer nach wie vor wohlhabenden Stadt, ganz gut aus, doch auch Iris Bellstedt berichtet, dass die sozialen Folgen von Corona durchaus zu spüren sind. Auch in NRW merken die Schuldnerberatungsstellen, dass der Andrang zunimmt. Bisher sei es noch ein bisschen wie die „Ruhe vor dem Sturm“. Für manche sozialen Einrichtungen, die wegen Corona vorübergehend schließen mussten, summieren sich die Einbußen bereits auf Beträge im sechsstelligen Bereich. Wenn die kommunalen Haushalte erst zusätzlich in finanzielle Bedrängnis kommen, drohen vielerorts handfeste Kürzungen, gerade bei den so genannten freiwilligen Leistungen. „Die Sorge ist sicherlich berechtigt, dass es düster aussieht, wenn den Kommunen die Gewerbeeinnahmen wegbrechen und der Bund nicht einspringt“, glaubt Bellstedt. In Essen und anderen Städten gebe es ohnehin schon eine Haushaltssperre. Man kann gar nicht oft genug darauf aufmerksam machen, was es bedeutet für eine Kommune, wenn auch der letzte Jugendclub geschlossen wird.

Mühsame Verhandlungen

Die Sorge um eine auskömmliche Finanzierung im sozialen Bereich eint Paritätische Akteur*innen bundesweit. Die verbandliche Präsenz vor Ort und eine starke Interessenvertretung sind dabei ein zentrales Element, um mit den kommunalen Verhandlungspartnern auf Augenhöhe zu verhandeln. Und es ist kein leichter Job, Kommunalverwaltungen zu vermitteln, dass soziale Arbeit mehr ist als eine beliebige Dienstleistung, bürgerschaftliches Engagement das Rückgrat einer lebendigen Zivilgesellschaft und Vielfalt, auch was Konzepte und Träger angeht, ein Wert an sich, weiß Andreas Kaczynski zu berichten. Er beobachtet in Brandenburg, dass die Kommunen verstärkt danach streben, selbst als Anbieter sozialer Leistungen zu agieren, ein klarer Trend, soziale Daseinsvorsoge zu rekommunalisieren - „für unseren Geschmack deutlich zu viel. Das funktioniert dann nach dem Motto: „Wenn es nicht der Staat macht, dann muss es billiger sein, denn wenn es nicht billiger ist, kann es ja auch der Staat machen.“

Als neben der Diakonie größter Wohlfahrtsverband genießt der Paritätische in Brandenburg auch wegen seiner parteipolitischen Unabhängigkeit sehr gute Reputation und hat “politisches Gewicht” auf Landesebene. Doch die “wirklich Mächtigen” im Land seien die Landräte, die in Brandenburg für acht Jahre ins Hauptamt direkt von den Bürger*innen gewählt werden, wobei die Wahlbeteiligung häufig erschreckend niedrig ist. “Ministerpräsidenten und Landesregierungen kommen und gehen, aber die Landräte, die bleiben und dominieren die Politik oft über Jahre.“ Problematisch sei dabei vor allem die Haltung in vielen Kommunalverwaltungen: „Man spürt nachwievor ein Beteiligungs- und Demokratiedefizit, es gibt kaum eine Wahrnehmung von Vielfalt als Wert, was Wohlfahrtspflege eigentlich ist und das Subsidiaritätsprinzip bedeutet“, berichtet Kaczynski, der nicht müde wird, etwas an dieser Situation zu ändern. Auch Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Baden-Württenberg, kann von nervenzehrenden Aushandlungsprozessen berichten. Schon seit zweieinhalb Jahren verhandeln die Wohlfahrtsverbände im Ländle mit den Kommunen über die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Doch weil das Land kein besonders großes Interesse an Sozialpolitik zeige, sind auch die Kommunen zurückhaltend und die Verhandlungen gestalten sich mühsam und kompliziert. “Was die Wirtschaft mit einem Federstrich bekommt, bekommen wir wirklich erst mit hunderten von Sitzungen, Veranstaltungen und Hintergrundgesprächen und ganz viel Druck.”

Sichtbarkeit und Vernetzung

In Baden-Württemberg gibt es 44 Kreise und kreisfreie Städte. Dass man den Menschen aus dem Nachbardorf regelmäßig begegnet, ist keine Selbstverständlichkeit – manchmal liegt ein Berg im Weg, ein Wald oder der Neckar. Auch historische Gräben zerfurchen das Land: Es gibt Baden und es gibt Württemberg und das sind zwei Welten, wie Ursel Wolfgramm gelernt hat, seit sie 2015 aus Hamburg in den Süden kam, um die Leitung des Paritätischen Landesverbandes zu übernehmen. Der Paritätische ist als einziger Wohlfahrtsverband zentral für das gesamte Bundesland zuständig, was Vorteile hat: „In Baden ist die Caritas stärkster Verband, in Württemberg die Diakonie, die jeweiligen Untergliederungen sprechen nicht immer mit einer Stimme. Das führt dazu, dass der Paritätische landesweit relativ stark ist und auch in der Öffentlichkeit gut wahrgenommen wird, obwohl wir viel, viel kleiner sind“, berichtet Wolfgramm. In der Fläche dagegen war der Verband bisher wenig sichtbar. Das soll sich mit einem neuen Regionalkonzept jetzt ändern.

Die gemeinsame Vision, die in einem partizipativen Prozess auf mehreren Regionalkonferenzen von den Mitgliedsorganisationen entwickelt wurde, fasst Wolfgramm zusammen: „Das, was bei allen Konferenzen rauskam, waren der Wunsch nach mehr Sichtbarkeit des Verbandes in der Fläche und nach Synergien. Die Mitgliedsorganisationen wollen, dass der Paritätische auch ein Gesicht vor Ort hat, auch ein hauptamtliches Gesicht. Es geht um Kontinuität, weil das Ehrenamt ja auch wechselt, aber auch darum, dass man eine stärkere Vernetzung auf regionaler Ebene hinbekommt.“ Im vergangenen Jahr gründeten sich daher elf Regionalverbünde, die durch hauptamtliche Regionalleiter*innen unterstützt werden und über ein Budget für eigene Maßnahmen verfügen. Das Ganze ist ein Experiment, die Sondierungs- und Verbundbildungsphase sei nicht unkompliziert gewesen, „aber am Ende haben alle ihre Partner gefunden und sind gut untergekommen“. Und es hat Dynamik im Süden entfacht: Nach Ulm lud der Regionalverbund zum Sommer-Talk mit Kommunalpolitikern auf den historischen Marktplatz ein, Freiburg hat kürzlich eine Open-Air-Präsenz-Pressekonferenz unter Corona-Auflagen organisiert und auch die anderen Regionalverbünde machen medial von sich Reden. Der Paritätische Baden-Württemberg unterstützt den Prozess unter anderem durch Fortbildungsangebote zu professioneller Gremienarbeit, Austauschformate wie einen neuen Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit oder auch durch die Erstellung von Materialien und Methodenkoffern, mit denen gute Praxiserfahrungen für alle aufbereitet und nutzbar gemacht werden.

Der Beitrag erschien zuerst in unserem Verbandsmagazin "Der Paritätische", Ausgabe 05/20. Es widmete sich dem Schwerpunt "Stadt und Land".

Autorin:
Gwendolyn Stilling ist Pressesprecherin und Abteilungsleiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Presse und Kampagnen beim Paritätischen Gesamtverband.

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de