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Wenn die Krise Normalzustand ist: Warum von Armut Betroffene einen Hartz IV-Regelsatz von mindestens 600 Euro brauchen

Spitzenvertreter*innen von 36 bundesweiten Organisationen, darunter Gewerkschaften und Verbände wie der Paritätische Wohlfahrtsverband, forderten Ende Januar in einer gemeinsamen Erklärung Corona-Soforthilfen für von Armut Betroffene. Außerdem sprachen sie sich für eine Anhebung der Regelsätze für Hartz IV und Grundsicherungsleistungen auf mindestens 600 Euro aus. Warum es diesen Betrag braucht, erläutert Dr. Andreas Aust, Referent für Sozialpolitik bei der Paritätischen Forschungsstelle.

„Es ist doch sicher allen aufgefallen, die aktuelle Einschränkungen (keine Gastro, keine Kultur, keine Reisen, kein Shopping, sehr viel Zuhause) für unzumutbar halten, dass wir genau das als Grundsicherung bei Hartz IV für Millionen dauerhaft definiert haben. Ist es doch – oder?“
Erik Flügge, Twitter Beitrag am 20. Januar 2021

In der Tat: die dramatischen Einschränkungen bei der sozialen Teilhabe, die aktuell unter den Pandemie-Bedingungen weite Teile der Gesellschaft betreffen, sind für Menschen, die von Grundsicherungsleistungen leben müssen, der Normalzustand. Die alltägliche Krise wird für diese Personen durch die aktuelle Pandemie noch einmal zusätzlich verschärft. Die notwendigen Ausgaben steigen. Die Kosten für die mittlerweile verpflichtenden Masken sind mit den bestehenden Leistungen nicht zu bezahlen. An die Anschaffungen von Computern oder Laptops, um digitalem Unterricht folgen zu können, ist nicht zu denken. Die Verteilung von Geräten über die Schulen dauert zu lange und kommt vielfach noch nicht an. Die Entlastung über kostenfreies Mittagessen in den Schulen und Kitas findet bei geschlossenen Einrichtungen faktisch nicht statt. Angebote wie die Tafeln finden nur noch reduziert statt. Es gibt demnach einen dringenden akuten Handlungsbedarf. Armut und soziale Ungleichheit drohen durch die Corona-Pandemie weiter anzuwachsen.

Jenseits der Auswirkungen der Pandemie sind die chronischen, mittlerweile nahezu als „normal“ angesehenen Einschränkungen zu betonen. Der gemeinsame Aufruf von Spitzenvertreter*innen von über 30 Gewerkschaften und Verbänden „Soforthilfe für die Armen – Jetzt!! Solidarisch für sozialen Zusammenhalt und gegen die Krise“ vom 25. Januar beinhaltet daher nicht nur eine Forderung nach einer kurzfristigen Krisenunterstützung von 100 Euro für Grundsicherungsbeziehende, die Gewährleistung von Zugang zu Lernmitteln, die zur Nutzung digitaler Bildungsangebote der Schulen notwendig sind und einen Kündigungsschutz für die Wohnung während der Pandemie, sondern grundlegend auch eine „bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro“.

Diese Forderung ist gut begründet und leicht nachzuvollziehen, wenn man zunächst die Lebensbedingungen unter Hartz IV analysiert und zudem die Ermittlung der Regelbedarfe durch die Bundesregierung einer kritischen Prüfung unterzieht. Beides soll hier in der gebotenen Kürze geschehen.

Ein Leben Hartz IV bedeutet ein Leben in Mangel und Armut

In der Expertise der Paritätischen Forschungsstelle „arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV“ wurden im vergangenen Jahr die zentralen Konsequenzen der unzureichenden Leistungen herausgearbeitet:

Ein Leben mit Hartz IV Leistungen bedeutet ein Leben in Armut. Diese Erkenntnis mag nicht überraschend erscheinen, da Hartz IV Bezug und Armut im öffentlichen Bewusstsein vielfach synonym benutzt werden. Damit wird aber die existierende „Armutslücke“, d.h. der Abstand zwischen den Leistungen von Hartz IV und der Armutsschwelle ignoriert. Diese Lücke fällt bei Alleinstehenden besonders hoch aus: Mit durchschnittlichen Hartz IV Leistungen von 770 Euro (inklusive Wohnkosten) beträgt die Armutslücke 2018 bei einer alleinstehenden Personen etwa 265 Euro. Im Laufe der vergangenen Jahre ist zudem der Abstand zwischen den Leistungen, die das menschenwürdige Existenzminimum sichern sollen, und der Armutsschwelle weiter gewachsen. Um die Armutslücke zu schließen, ist eine erhebliche Kraftanstrengung notwendig.

Eine ähnliche Größenordnung ergibt sich auch, wenn man die betreffenden Leistungsberechtigten fragt, wie viel Geld sie im Monat zur Verfügung haben und welche Summe sie für sich als „gerade ausreichend“ einschätzen würden. Die Diskrepanz aus diesen beiden Angaben liegt bei alleinlebenden Leistungsberechtigten im Durchschnitt bei etwa 200 Euro.

Vernünftige Ernährung? Soziale Teilhabe? Fehlanzeige!

Die Hartz IV-Leistungen reichen nicht für eine vernünftige Ernährung aus. Studien zeigen, dass mit den derzeitigen Beträgen – etwa 150 Euro für eine erwachsene Person – eine Ernährung nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nicht zu finanzieren ist. Häufig verbleibt gegen Ende des Monats kein Geld mehr übrig, so dass auch bei den Lebensmitteln massiv gespart werden muss. In einem erheblichen Umfang kompensieren mittlerweile Tafeln und ähnliche Einrichtungen mit ihren Angeboten unzureichende öffentliche Leistungen und ermöglichen erst „Ernährungssicherheit“. Geradezu deprimierend ist in diesem Zusammenhang, dass auch Gutachten für die Bundesregierung den Mangel bestätigen und höhere Leistungen für die Ernährung fordern (Wissenschaftlicher Beirat 2020). Diese Einsicht ist leider bei dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis dato auf taube Ohren gestoßen.

Die unzureichenden Leistungen resultieren schließlich in einer sozialen Ausgrenzung der Betroffenen aus dem gesellschaftlichen Leben. Dies wird in der Wissenschaft „materielle Deprivation“ benannt und über verschiedenen Erhebungen dokumentiert. Es zeigt sich hier regelmäßig, dass soziale Teilhabe mit den bestehenden Regelsätzen nicht finanzierbar ist: Mobilität, Reisen, Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen oder ein Treffen im Café oder in einer Kneipe – geschweige denn in einem Restaurant – sind nicht realisierbar. Und wenn doch einmal, dann muss an anderer Stelle umso mehr gespart werden. Selbst Einladungen an Freunde zu einem gemeinsamen Essen in der eigenen Wohnung sind für sehr viele Hartz IV-Beziehende aus finanziellen Gründen kaum möglich. Diese Einschränkungen sind im Grundsatz allesamt bekannt  und der Normalzustand für die Leistungsberechtigten. Dass die Bedarfe nicht gedeckt sind, ist hinreichend dokumentiert. Das Ziel der Grundsicherung muss sein, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren, das gegen Armut und soziale Ausgrenzung schützt und soziale Teilhabe gewährleistet. Daher sind dringend deutlich höhere Leistungen notwendig. Der Abgleich zwischen Leistungen und Armutsschwelle ergibt ebenso wie die subjektiv benannte Differenz von verfügbarem zu mindestens benötigtem Einkommen eine Diskrepanz bei einer alleinstehenden Person im Hartz IV Bezug von mindestens 200 Euro. Insofern ist eine Forderung von „mindestens“ 600 Euro Regelbedarf bei einem aktuellen Regelbedarf von 446 Euro sachgerecht.

Das Kleinrechnen und Zusammenstreichen des Regelsatzes hat System

Zu Beginn dieses Jahres sind die neu angepassten Leistungen in Kraft getreten. Die bestehenden Defizite wurden damit nicht beseitigt, sondern mit geringfügigen Anpassungen für weitere fünf Jahre auf Dauer gestellt. Bei der Ermittlung der Regelbedarfe durch die Bundesregierung sind die Lebensbedingungen der betroffenen Menschen nicht entscheidend. Es wird nicht gefragt, was ein Mensch zu leben braucht. Der Ansatz der Bundesregierung folgt stattdessen dem sogenannten Statistikmodell. Nach diesem Ansatz werden im Grundsatz die Verbrauchsausgaben einer statistisch festgelegten Gruppe („Referenzgruppe“) zugrunde gelegt und dann daraus die Höhe der Regelbedarfe abgeleitet. Dieses Verfahren wird gerne als eine objektive Herleitung der Bedarfe dargestellt, um die Ergebnisse gegen Kritik zu immunisieren. Faktisch aber stecken in diesen Verfahren zahlreiche Entscheidungen und Eingriffsmöglichkeiten. Von Seiten der Bundesregierung sind diese Möglichkeiten genutzt worden, um wiederum ein politisch gewolltes Ergebnis zu erzielen.

Die Art und Weise der Umsetzung des Statistikmodells wird von zahlreichen Verbänden, Parteien und Wissenschaftler*innen übereinstimmend kritisiert. Insbesondere sind hier die eigenständigen Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle sowie der einschlägig renommierten Sozialforscherin Irene Becker zu nennen (verschiedene Gutachten für die Diakonie und die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen). Die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken haben analoge Positionen vorgelegt.

Die Kritiken stimmen darin überein, dass die Bundesregierung sowohl bei der Bestimmung der Referenzgruppe als auch durch systemfremde Streichungen bei den Konsumausgaben gegen die Prinzipien des Statistikmodells verstoßen.

So unterlässt die Bundesregierung zunächst grundlegende Korrekturen bei der Auswahl der Referenzgruppe. Sie prüft nicht, in welcher sozialen Lage sich die Referenzgruppe befindet. Diese Prüfung ist ein wichtiger Bestandteil im Alternativvorschlag von Irene Becker. Gleichzeitig befinden sich unverändert arme Menschen mit nicht realisiertem Leistungsanspruch (sog. verdeckt Arme) in der Referenzgruppe. Dies wird übereinstimmend als ein unzulässiger Zirkelschluss abgelehnt.

Die genannten Akteure mit eigenen Vorschlägen sind sich zudem einig, dass auf willkürliche Abschläge bei der Ermittlung der Regelbedarfe verzichtet werden muss. Es widerspricht den Grundprinzipien des Statistikmodells, wenn die Lebenslage einer bestimmten Gruppe als Referenz genommen werden soll, gleichzeitig aber einzelne Ausgaben nicht als relevant aus der Ermittlung ausgeschlossen werden. 

Nach den vorliegenden Daten der Bundesregierung ergibt sich zwischen den Konsumausgaben der Referenzgruppe (ohne Wohnkosten) und den anerkannten Ausgaben rechnerisch eine Diskrepanz von etwa 150 Euro. Die Bundesregierung ist schlicht der Ansicht, dass zahlreiche Ausgaben für Grundsicherungsbeziehende nicht nötig wären.

Besonders hohe Kürzungen zeigen sich bei den Ausgaben für die soziale Teilhabe. Über 43 Euro in der Abteilung Freizeit werden nicht anerkannt. Jeweils über 37 Euro werden in den Abteilungen Beherbergung und Gaststätten sowie Verkehr ebenso nicht anerkannt. Allein in diesen drei Bereichen, die für ein sozial eingebundenes Leben entscheidend sind, fehlen annähernd 120 Euro gegenüber dem bereits bescheidenen Lebensstandard der Referenzgruppe. In der Summe werden damit ein Viertel der Konsumausgaben (ohne Kosten der Unterkunft) nicht zur Ermittlung des Existenzminimums herangezogen.  Das Prinzip des Statistikmodells – die Ermittlung der Regelbedarfe durch eine Orientierung an dem Konsum einer statistischen Referenzgruppe –  wird ad absurdum geführt, wenn in diesem Umfang Ausgaben als nicht regelbedarfsrelevant gekürzt werden. Eine Orientierung an der sozialen Lage der Bezugsgruppe findet dann nur noch dem Anschein nach statt. 

Die Armutssätze sind eine sozialpolitische Bankrotterklärung – ihre deutliche Erhöhung dringend notwendig

Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 ausgeführt, dass der Gesetzgeber bei der damaligen Bestimmung der Regelsätze an die Grenze dessen gekommen sei, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert sei (Bundesverfassungsgericht 2014, Rn. 121) und hat dies mit den hohen Abschlägen bei den Konsumausgaben begründet. Bei den Alleinstehenden würden lediglich 73 Prozent der Konsumausgaben in Rechnung gestellt. An dem Niveau der Abschläge hat sich auch durch die aktuelle Neuermittlung wenig geändert. Die Bundesregierung agiert damit auch bei der aktuellen Neuermittlung an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen. Ob die Grenze nunmehr überschritten wurde, müssen die zuständigen Instanzen klären. Die Grenze des sozialpolitisch noch Vertretbaren ist schon lange überschritten. Sofern die Prämissen des Statistikmodells ernst genommen werden, sind Streichungen bei den Verbrauchsausgaben unzulässig. Im Ergebnis kommen die genannten alternativen Berechnungen übereinstimmend auf eine Größenordnung von etwa 600 Euro für einen sachgerecht ermittelten Regelbedarf. Die Ergebnisse unterscheiden sich lediglich in einem begrenzten Umfang, weil im Detail Unterschiede bestehen Die Expertise der Paritätischen Forschungsstelle kommt auf einen  Regelbedarf für eine alleinstehende Person in Höhe von 644 Euro. Eine im Sinne des Paritätischen Gesamtverbandes sachgerechte Ermittlung der Regelbedarfe liegt damit deutlich oberhalb von 600 Euro. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat jüngst eine Initiative zu einer Weiterentwicklung von Hartz IV vorgelegt. In diesem Referentenentwurf finden sich durchaus Verbesserungen für einzelne Gruppen von Hartz IV-Beziehenden. Leider fehlen in diesem Entwurf bislang Aussagen zu einer Anhebung der Regelbedarfe. Es wird hier weder ein Weg zu einer strukturellen Verbesserung der Hartz IV-Regelbedarfe gewiesen noch eine kurzfristige Krisenkomponente angekündigt. Der Bundesarbeitsminister ist gefordert hier nachzuarbeiten. Zwischenzeitlich hat Bundesminister Heil immerhin angekündigt pandemiebedingte Belastungen zu kompensieren. Finanzielle Verbesserungen müssen aber über die Kompensation kurzfristiger Pandemiekosten über einen Mehrbedarf von 100 Euro im Monat hinaus auch die strukturelle Unterdeckung durch die Hartz-IV-Leistungen angehen. Dies wäre ein mutiger und wichtiger Schritt gegen Armut und für soziale Teilhabe im Land.

Links:

Aust, Andreas (2020): Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV. Berlin: Paritätischer Gesamtverband.

Aust Andreas, Joachim Rock, Greta Schabram (2020): Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung. Berlin: Paritätischer Gesamtverband.

Bundesverfassungsgericht (2014): Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, Rn. 1-149.

Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung. Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten. Gutachten.

Autor:
Andreas Aust

Dieser Beitrag erschien zuerst als Blogbeitrag auf der Website www.der-paritaetische.de